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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

der seinen Gewinn nach Hunderttausenden und Millionen zählt, bis zu dem Lumpensammler, der um Mitternacht den Straßenkehricht durchwühlt: welche unendliche Reihe von Beschäftigungen! welche Menge von Erwerbsquellen! Jede dieser vielen Erwerbsquellen bildet eine besondere Classe, die ihr eigenes Gepräge besitzt. Eine der wenigst zahlreichen, aber gewiß eine der interessantesten, ist die Classe der Kunstmodelle.

In anderen Städten, die sich großer Kunstschulen erfreuen, wie in Düsseldorf, München, Dresden etc., giebt es nur einige Individuen, die den Künstlern zuweilen zu Modellen dienen; in Paris aber bilden die Modelle einen förmlichen Stand. Man ist in Paris Kunstmodell, wie man Schneider, Schuster, Tischler oder Zimmermann ist. Die Modelle, die in Paris ausschließlich von den Künstlern leben, zählen bei Weitem über tausend Köpfe.

Die Laufbahn eines solchen Modells beginnt oft, bevor es laufen kann. Eine arme Frau, die ein schönes Kind hat, begiebt sich mit diesem zu einem Künstler, der gerade um das Modell eines Christuskindes verlegen ist, und verdient ihre vier Franken, den gewöhnlichen Preis für eine Sitzung. Wir haben hier also den sonderbaren Fall, daß der Säugling die Mutter ernährt. Die Mutter fängt an, die Schönheit ihres Kindes auszubeuten. Sie lebt von ihrem Kinde; es ist ihre einzige Erwerbsquelle. Nun giebt es in Paris einige fast hundertjährige Greise, die den Künstlern zu Modellen dienen, um ihren Unterhalt zu gewinnen; man sieht also, daß dieser Erwerb auf der allerniedrigsten Lebensstufe anfängt und selbst auf der allerhöchsten nicht aufhört.

Die meisten Modelle gehören dem weiblichen Geschlecht an. Ich will daher mit diesen beginnen, nachdem ich eine zum Verständniß dieser Skizze nothwendige Bemerkung vorausgeschickt.

Die Pariser Maler und Bildhauer theilen sich in zwei Classen. Die Einen sind zugleich Lehrer und vereinigen eine Anzahl Schüler in ihren Werkstätten, während die Anderen sich niemals mit der Ausbildung von Schülern befassen. Die Modelle nun, welche die Werkstätten der erstgenannten Künstler besuchen, heißen „Modèles d’ateliers“; die anderen werden „Modèles d’artiste“ genannt. Die „Modèles d’ateliers“ stehen in Bezug auf Moralität in keinem sonderlich guten Rufe, oder vielmehr in üblerem Rufe, als die „Modèles d’artiste“. In den Ateliers der lehrenden Künstler ist ein Mädchen den Neckereien und Späßen der Schüler ausgesetzt. Das weibliche Modell besucht also diese Werkstätten nicht gern. Glänzt ein Frauenzimmer durch auffallende Schönheit, so wird sie natürlich von den Künstlern sehr gesucht, und da eine Sitzung höchstens fünf Stunden dauert, so kann sie an einem Sommertage zwei Sitzungen geben und zehn bis zwölf Franken verdienen, besonders wenn sie Intelligenz hat und zu sitzen versteht. Der Künstler, dem sie dann die Arbeit erleichtert, giebt ihr für jede Sitzung eine kleine Gratification. Diese Modelle heißen „Modèles fixes“ und haben ihre gestochenen Karten, die sie in die Ateliers schicken. Sie verschwinden nämlich von Zeit zu Zeit und nicht selten dann, wann der Künstler ihrer am nöthigsten bedarf. Vergebens wird nach ihnen geforscht. Sie sind nicht aufzutreiben.

Ach, die Modelle der Kunst sind gar selten Modelle der Tugend, und wenn sie auf ihrer vielverschlungenen Lebensbahn einen russischen Grafen, oder einen Lord, oder einen Plantagenbesitzer aus Südamerika entdecken, so kehren sie der Kunst den Rücken. Sie haben eine unbesiegbare Vorliebe für Silberrubel, englische Banknoten und Piaster und machen sich wenig daraus, durch den Pinsel eines Malers auf der Leinwand verewigt zu werden.

Nichts aber ist beständig auf dieser Erde, und folglich sind die Lords und die russischen Grafen und südamerikanischen Plantagenbesitzer auch nicht beständig, und eine Julie, die einige Monate hindurch bei den vorzüglichsten Restaurants gespeist, in einem prachtvollen Wagen die elyseischen Felder durchrollt, in den Theaterlogen mit einem kostbaren Fächer sich angenehme Kühlung zugefächelt und der Geldbörse ihres Romeo die galoppirende Schwindsucht zugezogen hat, sie stellt sich eines schönen Tages wieder bei dem Maler ein, um als Modell für eine Diana oder für die keusche Susanne im Bade so lange zu dienen, bis sie mit ihren Augen abermals eine Feuersbrunst in dem Herzen eines reichen Ausländers anfacht.

Die meisten Modelle glänzen indessen weniger durch Schönheit, als durch einzelne Schönheiten. Die Eine ist berühmt wegen ihrer majestätischen Stirn, die Andere wegen ihres lieblichen Mundes, die Dritte wegen ihrer tadellosen Hand, und ich kenne Eine, die wegen ihres üppigen, hellblonden Haares seit mehreren Jahren von den Pariser Malern sehr gesucht wird. Manche dieser Fornarinas findet ihren Raphael und tritt mit ihm in ein Eheverhältniß. Sie liefert ihm dann die Engel, die Venusse, die Musen, die Grazien und die Nymphen. Bald verführt sie den heiligen Antonius; bald begeistert sie als Beatrice den unsterblichen Alighieri. Auf einem Bilde sieht man sie als lachende Braut, auf dem andern als trauernde Wittwe; kurz, man begegnet ihrer Physiognomie in unzähligen Compositionen.

Zuweilen stellt sich wohl bei berühmten Künstlern eine Dame ein, die eben im Begriff ist, das Schwabenalter zu erreichen, oder es bereits erreicht hat. Sie führt sich mit dem Bemerken ein, daß sie für das Fach des Portraits sitzen möchte. Diese Damen haben von ihren früheren Reizen nichts gerettet, als das alternde Haupt, eine schöne imponirende Haltung und die Kunst, sich geschmackvoll zu kleiden. Solche Modelle sind den Portraitmalern sehr willkommen, da man bei Portraits ganz besonders auf eine elegante Haltung sieht. Aber die Jahre vergehen pfeilgeschwind, und dieselbe Dame, die jetzt für die Portraits sitzt, wird nach einem Jahrzehnt ein abgenutztes Modell und muß sich nun dazu verstehen, ihre Dienste als „Poseuse de draperie“ den Künstlern anzubieten. Das ist ein langweiliges, saures, höchst anstrengendes Geschäft. Sie sinkt dadurch zur Gliederpuppe herunter. Es wird ihr nämlich irgend ein Gewand umgehängt und von dem Künstler in malerische Falten gelegt; damit nun diese Falten sich nicht verschieben, muß das Modell während der ganzen Sitzung, während fünf Stunden, unbeweglich und schweigend verharren; denn ein ernster Künstler spricht nur selten oder niemals mit einem Modell. Für ein lebhaftes Temperament ist eine solche Sitzung eine wahre Höllenqual.

Die Modelle ziehen die Malerwerkstätten den Bildhauerwerkstätten bei Weitem vor, da sie in diesen ihre Gesundheit gefährden. Der Gyps, mit dem sie zum Theil übergossen werden, verursacht ihnen häufig Rheumatismen und Gliederreißen. Sie werden deshalb von den Bildhauern viel besser bezahlt.

Schöne Modelle sind in der Regel so sehr gesucht, daß deren Sitzungen schon einen ganzen Monat voraus bestellt werden müssen. Indessen tritt doch zuweilen eine Periode ein, in welcher die Kunst mehr oder weniger feiert und die Künstler keiner Modelle bedürfen. Die beliebtesten Modelle besuchen dann nicht minder die Werkstätten berühmter Künstler, aber weniger in Angelegenheit der Kunst, als in Herzensangelegenheiten. Sie wissen nämlich, daß man in den Ateliers guter Maler stets reiche Dilettanten und Kunstfreunde trifft. Sie werfen dann ihre Netze aus und es gelingt ihnen zuweilen dort, einen alten Rentier aufzufischen.

Das Modellsitzen wird von vielen Pariserinnen deshalb als Erwerbsquelle gesucht, weil es eine Beschäftigung ist, die weder eine große körperliche noch geistige Anstrengung erfordert. Der verhältnißmäßig leichte Gewinn, die Zerstreuung in den Ateliers, die Bekanntschaft mit jungen Künstlern und reichen Kunstfreunden haben für Viele einen unwiderstehlichen Reiz. Gewöhnlich werden sie von ihren Freundinnen den Künstlern empfohlen; sehr häufig aber sind es die Mütter, die für ihre jungen Töchter diese Erwerbsquelle aussuchen. Sie führen dieselben bei den Künstlern ein, und diese sind oft erstaunt über die praktischen Erfahrungen der jungen Modelle. Es geschieht wohl auch, daß ein Künstler in den gewerbtreibenden Stadtvierteln einer Arbeiterin begegnet und, von der Schönheit derselben überrascht, sie zum Modellsitzen einladet. Der Zufall spielt in Paris sehr häufig eine Hauptrolle, und es ist schon vorgekommen, daß ein solches, gleichsam auf der Straße gefundenes Mädchen die Gattin eines tüchtigen Künstlers geworden.

Was nun die männliche Modelle betrifft, so haben sie häufig ihre Specialität und sind in den Pariser Ateliers unter gewissen Spitznamen bekannt. Ich kannte in Paris einen Mann, dessen Christuskopf für die Maler der Passionsgeschichte unentbehrlich war. Ein Anderer ernährte sich von seinem Spitzbubengesicht. Er hatte eine wahre Galgenphysiognomie und diente als Modell für Jesuiten, Intriguanten und tückische Scheinheilige.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_776.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)