Seite:Die Gartenlaube (1872) 802.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

doch geritten, und ein Staat war’s, wie er ritt, – ich konnt’s gut sehen, denn der Mond war ganz herausgekommen, – und das helle Wasser spritzte unter den Hufen auf – ja, es war ein Staat, wie er ritt.“

Hinrich ging ein paar Schritte schweigend; plötzlich blieb er stehen:

„Und es ist doch eine Sünde und Schande, wie er mich behandelt hat; Gott soll mich strafen, wenn ich es ihm nicht eintränke! Er hat mir zehn Procent von Allem versprochen, was ihm der Brownlock gewinnt, und er hatte schon Zehntausend in seinem Buch; es können aber leicht noch einmal so viel werden. Und er weiß, wie ich eine von diesen meinen Händen darum geben würde, könnte ich den Brownlock auf der Bahn sehen, und wie sie auf mich zeigen und sagen: ‚Das ist der Hinrich Scheel, der hat ihn trainirt, der versteht’s besser, als all’ die Engländer.‘ Herr, Herr! und das soll ich ihm schenken, daß er mich hier sitzen läßt, in dem Loch bei den Rahnke’s acht Tage lang, und wie ich nach Goritz komme in der Nacht, bevor die Yacht nach Mecklenburg ging, die mich mitnehmen wollte, und ich sollte ihn in den Goritzer Tannen treffen und die Zweitausend bekommen, die er mir versprochen; ja, da war er nicht und dachte wohl: morgen muß er doch fort, ob mit, ob ohne Geld; aber ich will’s ihm eintränken, bei Gott! ich will’s ihm eintränken.“


(Fortsetzung folgt.)




Galerie historischer Enthüllungen.*[1]


1. Wilhelm Tell und der Rütlibund.


Wer erinnert sich nicht mit tiefer Wehmuth der Zeit, da ihm nach froh und sorglos durchlebter, poetisch schöner Jugendzeit zum ersten Male offenbart wurde, daß die lieben Geschichten vom Christkindlein, das die herrlichen Weihnachtssachen, und vom langbeinigen Storche, der das herzige Brüderchen und Schwesterchen brachte, eine liebliche Dichtung der Eltern für die Kinder und weiter nichts seien? Und so mußte es auch den großen Kindern sehr weh um’s Herz sein, als die Naturforschung der Neuzeit mit ihren unerbittlichen geologischen Schichten und paläontologischen (urweltlichen) Resten die Schöpfungsgeschichte, wie sie von der Bibel erzählt wird, und die Sündfluth in das Reich der Volkssagen verwies, und die ernste Geschichtsforschung nachkam und einen Abraham und Moses als historische Personen wegrasirte oder wenigstens anzweifelte, gleich einem Herakles und Romulus! Noch weit mehr aber mußte es in die Herzen greifen, als der unbarmherzige Strauß und seine Nachfolger die Unzuverlässigkeit der evangelischen Erzählungen nachwiesen, und Wunder sowohl als Auferstehung und Himmelfahrt aus lange angestaunten großen historischen Thatsachen zu Gegenständen der Mythologie wurden!

Nun, gerade so ging es einerseits den Bewunderern und Verehrern des unsterblichen Schiller, und andererseits den patriotischen Bürgern des schönen Schweizerlandes, als die schmerzliche Kunde sich wie ein drohendes Gespenst am Horizont erhob und trotz alles Protestes immer mehr an Halt und Zuversicht gewann, daß auch der Held der Freiheit, Wilhelm Tell, daß auch der geheiligte Boden des Schwurs gegen Tyrannei, das vielbesungene Rütli, nicht in die wahre Geschichte gehören!

Wie fest schienen diese Ereignisse zu stehen! Konnte man von ihnen nicht mit Schiller sagen:

 „Ein glaubenswerther Mann,
Johannes Müller, bracht’ es von Schaffhausen!“

Nur schade, daß dieses „glaubenswerthen Mannes“ Nimbus, nach des Dichters frühem Tode, durch seinen Wankelmuth bedeutend gelitten hat! Und wer die herrliche Reise durch die innere Schweiz, über den unvergeßlichen Vierwaldstättersee mit seinen hochragenden Bergen und blauen Fluthen unternahm – that er es nicht ebenso sehr um der erhabenen historischen Erinnerungen, welche sich an dieses wilde Wasserbecken knüpften, als um der überwältigenden Naturschönheiten willen? Waren nicht beide verknüpft durch des Dichters Wort:

„Erzählen wird man von dem Schützen Tell,
So lang’ die Berge steh’n auf ihren Grunde!“

Wer dachte nicht bei Küßnacht, am Fuße der aussichtreichen Rigihöhe, bevor die Eisenbahn diesen Naturtempel zur Touristenbörse entweihte, an den Tod des Tyrannen und declamirte vor sich hin:

„Durch diese hohle Gasse muß er kommen;
Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht …“

Am Gestade Unterwaldens, wem schwebte da nicht Baumgarten’s Flucht vor dem Landvogt und seine Verzweiflung vor:

„So muß ich fallen in des Feindes Hand,
Das nahe Rettungsufer im Gesicht!
Dort liegt’s! Ich kann’s erreichen mit den Augen …“

Wem schlug nicht das Herz auf der Höhe des Rütli:

„Den Fels erkenn’ ich und das Kreuzlein drauf;
Wir sind am Ziel, hier ist das Rütli!“

Und wen durchschauerte dort nicht der Gedanke an den feierlichen Eid in mondheller Nacht:

„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen und Gefahr!“

Dieses Rütli mit seinen drei Brunnen hatte noch jüngst die Schweizer Jugend angekauft als heiliges Nationaldenkmal, und im See draußen hatte bald darauf die Felspyramide des Mythensteins die Inschrift erhalten:

 „Dem Sänger Tell’s die Urcantone.“

Kaum hat man die imposante Stelle passirt, so erblickt man die „Tellenplatte“ mit ihrer Capelle und der Erinnerung an kühne Schützenthat:

„Und mit gewalt’gem Fußstoß hinter mich
Schleudr’ ich das Schifflein in den Schlund der Wasser!“

Endlich landet das Boot in Flüelen, und eine kurze Strecke Wegs führt nach Altdorf, wo jeder Stein vom Tell zeugt, wenigstens jeder Brunnen und die unglückliche gypserne Kolossalstatue! Und noch mehr! Die ganze Gotthardstraße hinan, bis wo Italiens Himmel herüberlacht – wem schwebt da nicht die Schilderung vor, wie sie Tell dem verfolgten Herzog Johann machte?

Doch genug der poetischen Reminiscenzen, die Pflicht der Wahrheit drückt uns die Feder zu ernstem, wenn auch peinlichem Werke in die Hand.

Die Hauptursache, aus welcher die bisher herrschenden Ueberlieferungen bezüglich der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft so allgemein geglaubt wurden, lag in der frühern Manier der Geschichtschreibung, sich beinahe oder auch ganz allein auf die Berichte der Chroniken zu verlassen, ohne dabei Rücksicht darauf zu nehmen, wie lange nach der erzählten Begebenheit diese Chroniken entstanden waren. Darauf aber, daß auch zur Zeit der betreffenden Begebenheit Chroniken geschrieben worden, welche von derselben jedoch nichts wußten, nahm man keine Rücksicht, und noch weniger auf die gleichzeitigen Urkunden, welche gar zu tief im Staube der Archive vergraben und gar zu alterthümlich und unleserlich geschrieben waren. Die neueste Geschichtsforschung aber hat hierin eine ganz andere Bahn eingeschlagen. Sie steigt, um die Geschichte eines Zeitalters zu erforschen, in dieses selbst hinauf und berücksichtigt allein die gleichzeitigen Quellen, nach denen dann erst der Werth der späteren Berichte abgeschätzt wird. So haben denn, außer den schon Eingangs erwähnten Daten der sogenannten heiligen Geschichte, auch die übrigen Partien der Welthistorie eine ganz neue Gestalt gewonnen. So erkennt man zum Beispiel in der wirklichen, quellenmäßigen Gestalt einer Johanna d’Arc, einer Maria Stuart, eines Don Carlos etc. Diejenigen nicht mehr, welche Tradition und Poesie geschaffen hatten, und selbst die Ereignisse der französischen Revolution bieten sich ganz anders dar, als die französische Geschichtschreibung bisher gelehrt hatte.

Diesem Schicksal konnte denn auch die Geschichte der Entstehung des Schweizerbundes nicht entgehen. Das Verdienst,

  1. * Erfundene Thatsachen und Persönlichkeiten, welche, durch das Alter derselben geheiligt, als Wahrheiten in der Geschichtschreibung noch heute forterben, in ihrer historischen Nichtigkeit darzustellen, ist der Zweck der mit Obigem beginnenden Artikelreihe.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_802.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)