Seite:Die Gartenlaube (1872) 804.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Buche“ Thall (ohne Vornamen); ein Zeitpunkt der erzählten Vorfälle ist nicht angegeben; es heißt nur: nach dem Tode Rudolf’s, und Albrecht wird als Sender der Vögte nicht genannt, Indessen bestanden schon damals verschiedene Versionen der Geschichte. Derjenigen des „Weißen Buches“, welche die Schwyzer und Unterwaldner in den Vordergrund stellt und Tell als Urner erst nachfolgen läßt, stand eine urnerische Sage gegenüber, welche wir durch den gleichzeitigen Gerichtsschreiber Melchior Ruß von Luzern, Sohn einer Urnerin, kennen; er schrieb seit 1482 eine Luzerner Chronik. In dieser dreht sich Alles um „Wilhelm Thell“, neben welchem weder die Schwyzer, noch die Unterwaldner Verschworenen, noch das Rütli genannt werden. Auch ist es sehr bezeichnend, daß die Geschichte, wie sie in Uri beginnt, auch dort endet; der Vogt, dessen Name nicht genannt wird, erliegt dem Pfeile „Thell’s“ nicht in der hohlen Gasse, sondern gleich nachdem der Schütze aus dem Schiff gesprungen ist, auf der Tellenplatte. Etterlin, der erste Chronist des sechszehnten Jahrhunderts (1507) nennt den Landvogt von Uri Grißler und seinen Gegner „Wilhelm Tell“ und folgt sonst ganz dem „Weißen Buche“, dessen Erzählung er nur ein wenig ausschmückt. Dasselbe thut im Ganzen ein Schauspiel, welches 1511–1513 verfaßt und in Altdorf aufgeführt wurde; der Prolog desselben nennt 1296 als das Jahr der Befreiung der Waldstätten, der Züricher Chronist Johann Stumpff (1548) aber sogar die Zeit nach dem Tode Heinrich’s des Siebenten (1313).

Bisher also hatte noch Niemand daran gedacht, die Sendung von Vögten dem Kaiser Albrecht in die Schuhe zu schieben. Das that zum ersten Male der berühmte Chronist Egidius Tschudi von Glarus (gestorben 1572), ohne daß man weiß, nach was für Quellen. Er war es, der die bisherigen Widersprüche ausglich und der Geschichte von Tell die Gestalt gab, unter welcher sie seitdem bis auf die neueste Zeit geglaubt wurde. Aber auch er weiß noch nicht, daß Tell aus Bürglen, noch nicht, daß er Walter Fürst’s Schwiegersohn, noch nicht, daß er zwei Jungen, Walther und Wilhelm, gehabt, noch nicht, daß der Vogt Geßler Hermann hieß und aus Bruneck war, und das Rütli war auch ihm noch nichts als ein Ort der Zusammenkunft der Unzufriedenen, nicht der Schauplatz eines Bundesschwurs. Alle diese Details erschienen zum ersten Male bei Johannes von Müller am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Und woher hatte er sie? Theils, wie die Familienverhältnisse Tell’s, aus einer frommen Fälschung, welche sich zwei Geistliche in Uri erlaubt, um die Existenz einer Familie Tell zu beweisen, von welcher in Wahrheit kein Kirchenbuch etwas weiß. Den Eidschwur im Rütli aber verdanken wir einzig und allein der reichen Phantasie des Historikers von Schaffhausen.

Schon im siebenzehnten Jahrhundert sind indessen bescheidene, im achtzehnten aber kühnere Zweifel an der Wahrheit der Tellsage aufgetaucht; gestützt auf die Aehnlichkeit derselben mit derjenigen des dänischen Schützen Toko bei dem Chronisten Saxo, erklärte der Berner Pfarrer Freudenberger 1760 Tell für eine Fabel; sein Buch wurde in Uri durch den Henker verbrannt; der Verfasser einer Widerlegung, die sich aber im Wesentlichen nur auf die schon berührten Fälschungen stützt, erhielt dagegen eine Ehrenmedaille. – Jetzt kann man die Wahrheit nicht mehr unterdrücken, und selbst die Urner haben sie neustens anerkennen müssen.

Das Resultat von Alledem ist nun: Die Geschichte von Tell und vom Rütlibunde erscheint in keiner gleichzeitigen Quelle; sie wurde zum ersten Male gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erzählt, aber unter argen Widersprüchen. Tschudi, welcher sie am genauesten berichtet, nennt keine Quellen; nach der urkundlichen Geschichte des Ursprungs der Schweizer Freiheit fallen die Sendung der Vögte und der Aufstand gegen sie unter der Regierung Albrecht’s als ganz überflüssig weg, und unter eine andere Regierung passen sie ebensowenig; von einem Bunde im Rütli weiß bis auf Müller Niemand etwas, und für die Existenz einer Familie Tell liegen nirgends auch nur die geringsten Anhaltspunkte vor.

Man fragt nun vielleicht mit regem Interesse: wem denn diese Dichtungen zu verdanken seien, in welche bisher die ältere Schweizergeschichte eingehüllt war? Nun, darüber lassen sich blos Vermuthungen aufstellen. Die Veranlassung dazu boten jedenfalls die glänzenden Siege der Schweizer über Oesterreich, denen man auch eine ruhmvolle Grundlage, poetischer als die trockenen Pergamente der Freiheitsbriefe, geben zu müssen glaubte. So entstanden nach und nach Lieder und Sagen, deren Grundstock die dänische Erzählung vom Apfelschuß und Tyrannenmord des Toko bildete. Den Namen Tell, welcher erst spät den Vornamen Wilhelm erhielt, entlehnte man von der Bezeichnung eines Tollen, Verwegenen (nach gelehrter Hypothese von telum, Geschoß). Das Rütli empfahl sich als Ort der Verschwörung durch seine schöne, günstige Lage. Die Verschworenen mußten angesehene Männer sein: Walther Fürst von Uri und Werner Staufacher von Schwyz (welche Beide wirklich gelebt haben), denen man für Unterwalden einen Arnold von Melchthal hinzudichtete (dessen That schon dadurch wegfällt, daß Unterwalden niemals einen Pflug gesehen).*[1] Nachdem alle diese Dichtungen durch Chroniken und Volksschauspiel im Glauben des Volkes befestigt waren, errichtete man erst die Capellen, welche nach Tell benannt sind, und wallfahrtete zu ihnen. Mit klaren Worten also: es gab überhaupt niemals österreichische Landvögte in den Urcantonen, mithin auch keinen Landvogt Geßler, keinen Hut auf der Stange und keinen Tell’schen Apfelschuß, mithin auch keine Möglichkeit einer Verschwörung, keinen Rütlischwur, keine Ermordung eines Vogtes und Zerstörung der Zwingburgen.

Diese trockene Wahrheit ist zu bedauern, aber nicht zu ändern; die schöne Tellgeschichte muß eben das Schicksal vieler anderer Geschichten theilen und aus dem Gebiete der Geschichte in das der Sage, der Poesie wandern. Damit verliert sie nichts von ihrer subjectiven Wahrheit; sie hat dessen ungeachtet viele Gemüther begeistert. Für die Existenz der Schweiz als Republik aber ist dieses Resultat gleichgültig; dieselbe ist durchaus unabhängig von Tell’s That, die auch nach der Sage nur ein Anstoß unter vielen zur Befreiung der Waldstätten war; das Meiste und eigentlich einzig Wirkungsvolle zur Selbstständigkeit der Schweiz haben die Siege über Oesterreich am Morgarten, bei Sempach und Näfels beigetragen; wären die Schweizer dort unterlegen, so hätten hundert Telle nichts genutzt; der einzige Winkelried überwiegt diese Zahl weit. Die Schweiz kann auch ohne einen Tell durch ihre Geschichte und durch ihr gegenwärtiges schönes Wirken für Cultur auf allen Gebieten und für wahre Volksfreiheit eine hohe und schöne Aufgabe erfüllen.

Dr. Otto Henne-Am Rhyn.
  1. * Die Geßler und Landenberg waren adelige Familien des Aar- und Thurgaues, besaßen aber niemals Burgen in den Waldstätten.




Adele Spitzeder.


Im Jahre 1824 machte eine junge, aus Norddeutschland gebürtige, aber in Wien herangebildete Sängerin, Betty Vio, daselbst großes Aufsehen. Ausgezeichnet in Soubrettenrollen wurde sie, was Kehlfertigkeit und Geschmack im Vortrage betrifft, von angesehenen Kritikern mit der Sontag verglichen, der sie auch an Gestalt ähnlich war. Eine triumphreiche Kunstreise führte sie einige Zeit später nach Berlin, wo Joseph Spitzeder, der vorzüglichste Baßbuffo Deutschlands, an der Königsstädter Bühne wirkte. Die Spieloper ist bekanntlich nicht die stärkste Seite der deutschen Gesangskünstler; Spitzeder aber und Fräulein Vio, die nun für die Königsstadt gewonnen wurde, bildeten ein Darstellerpaar, wie es diesseits des Rheins in der komischen Oper kaum mehr getroffen wurde. Wie gebührend vermählten sie sich auch mit einander und siedelten schon im Jahre 1829 nach München über, wo sie der Hofbühne zu einer Zeit angehörten, die als Glanzepoche dieser Kunstanstalt bezeichnet wird. Spitzeder starb leider sehr bald, aber seine Wittwe, die sich später wieder verheirathete, wirkte lange neben den berühmten Sängerinnen Vespermann und Schechner fort und lebt noch in München. Aus der Ehe mit Spitzeder entsproß Adele, geboren 1832.

Neben den musikalischen Talenten gilt die darstellende Kunst als diejenige, die sich am öftesten vererbt. Wir treffen seit dem

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_804.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)