Seite:Die Gartenlaube (1872) 832.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Ein Klopfen an die Thür unterbrach ihn in seinem finstern Selbstgespräch. Es war ein Diener, der fragen sollte, ob Herr Brandow nicht bald wieder in den Speisesaal komme.

„Sogleich!“ sagte Brandow.

Er warf noch einen Blick in den Spiegel. „Ich sehe am Ende doch jämmerlich aus. Gleichviel! oder um so besser! Sie werden denken, ich ängstige mich für morgen, und desto leichter auf den Leim gehen, die Gimpel! und morgen Mittag habe ich meine Dreißig- oder Vierzigtausend im Beutel und – alles Andere ist nur Tand.“




34.


Der klarste Septembermorgen leuchtete über der alten Hansestadt, auf deren vielgewundenen Straßen es heute noch ganz besonders still war, so still, daß die Dienstmädchen, die müßig in den offenen Hausthüren standen, ungestört hinüber und herüber ihr jammervolles Schicksal beklagen konnten. War es denn nicht auch zu schändlich, an dem zweiten Tage – dem Haupttage, wo alle Welt und selbst der kleine Lehrbursche vom Schuster Bank draußen war – das Haus hüten zu müssen? Und vorhin war der Wagen von Fuhrmann Kopp zum sechsten Mal leer zurückgekommen und hielt jetzt bei Apothekers um die Ecke; aber die Fräulein machten immer einen so schrecklichen Staat und könnten nie fertig werden; es sei eine Sünde und Schande, wenn man bedächte, daß andere ehrliche Mädchen, die den Wagen gewiß nicht warten lassen würden, nicht einmal zu Fuß hinauslaufen dürften; aber wenn die Katze nicht zu Hause sei, tanzten die Mäuse über Tische und Bänke.

Die lustigen Dirnen, die sich einander immer mehr genähert hatten, faßten sich an den Händen und begannen, auf dem holperigen Pflaster aus dem Sonnenschein in den Häuserschatten, aus dem Schatten in den Sonnenschein herumzuwirbeln, und ließen sich dann mit Gekreisch los und flohen jede in ihre Thür, als jetzt aus dem stillen großen Nachbarhause der fremde Herr trat.

Gotthold hatte die ganze Nacht mit Cäcilien und dem alten Boslaf bei Gretchen gewacht, und die gute Stine war ab- und zugegangen. Ein paar Mal hatten sie geglaubt, der letzte Augenblick sei da; aber immer war die kleine röchelnde Brust, die Cäcilie an ihren Busen gedrückt hielt, wieder frei geworden, und sie hatte das holde Geschöpf aus ihren Armen wieder auf das Kissen gleiten lassen können, das kaum weißer war, als das zarte bleiche Gesicht. Nach Mitternacht hatte das Fieber ein wenig nachgelassen, und der Arzt, der am frühen Morgen schon gekommen, hatte gesagt, daß die Gefahr leider noch nicht vorüber sei, ein paar ruhigere Stunden aber in Aussicht ständen, und er dringend bitte, man möge diese Pause benutzen, um sich neue Kraft zu schöpfen, die man ja so nothwendig brauche.

Er hatte dabei den alten Boslaf angesehen; der alte Boslaf hatte freundlich gelächelt und gemeint, der Herr Doctor solle sich nur nicht um ihn sorgen; er sei das Nachtwachen gewohnt, und werde bald vollauf Zeit zum Schlafen haben. Aber Cäcilie, die voll zärtlicher Sorge für den alten Mann war, welchen sie jetzt immer nur Vater nannte, hatte darauf bestanden, daß er sich niederlegte; und auch Gotthold hatte sie fortgeschickt. Sie würde bis Mittag mit Ottilie Wache halten; sollte Gretchens Zustand sich verschlimmern, solle er sofort benachrichtigt werden.

Und da schritt er nun durch die stille Straße nach seiner Wohnung und sah die Mädchen, die lachend auf der stillen Straße tanzten, und sah den Sonnenschein, der um die altersgrauen Giebel so freundlich spielte, und die Schaar weißer Tauben, die unter dem leuchtend blauen Himmel ihre lustigen Kreise zog. Wie war sie so schön, die lichte Welt! wie rein und balsamisch die mildwarme Luft, die er in vollen Zügen einsog! wie schritt er trotz der durchwachten Nacht so leicht dahin! wie pulste ihm trotzalledem das Leben so kräftig in den Adern! und doch sollte das Dunkel siegen und der Tod! Wenn das Kind starb – Gotthold blieb schaudernd stehen – er hatte es so deutlich vor sich gesehen, das dunkle kleine Grab. Aber es war ja nur eben ein trübes Spiel seiner Phantasie; Gretchen lebte ja noch; sie würde genesen, sie hatte sich ja, das zarte Geschöpf, durch diese Schreckensnacht durchgerungen, und er durfte sich wohl sagen, daß er es war, der sie dem Leben wieder gerettet. So mußte sie denn auch ihm leben, mußte mit zarten reinen Händen den Schlußstein fügen in den Bau seines Glückes. War ihm doch bis hierher Alles über Erwarten gelungen! hatte doch selbst der Zufall ihm seine gnädigste Miene gezeigt! Wie hätte er noch vor wenigen Tagen auch nur zu hoffen gewagt, daß ihm der Gegner so schnell, so ganz in seine Hände geliefert werden, und er im Stande sein würde, zu sagen: dies soll geschehen, und so soll es geschehen; so, ohne Lärmen, ohne daß auch nur ein Unbetheiligter davon erfährt! Heute Abend bereits sollte der Unglücksmann nach Dollan zurückkehren, um das Geld, das er geraubt, zu finden, und morgen durch Wollnow an die Klostercasse abliefern zu lassen; und heute Abend sollte auch das Schiff nach England segeln, das seinen Gesellen mitnahm, der freiwillig erklärt hatte, hier sei seines Bleibens doch nicht mehr, und er gehe lieber heute als morgen nach Amerika, zumal wenn ihn die Herren so reichlich aussteuerten, wie sie ihm gesagt, und von ihnen wisse er, daß sie ihre Zusage hielten. So mußte denn binnen vierundzwanzig Stunden spätestens Alles geordnet und geebnet sein zu einer Basis, auf der man ruhig weiterbauen konnte.

Ein schwerer eiliger Schritt, der, in der Nähe seiner Wohnung, durch die menschenleere Gasse ihm entgegenkam, ließ Gotthold vom Boden aufschauen.

„Was giebt es, Jochen?“

„Er ist fort,“ sagte Jochen athemlos, „ich wollte eben zu Ihnen.“

„Seit wann?“

„Es wird schon eine Stunde oder so her sein; er sagte, er sei müde und wolle ein Bischen schlafen, während Clas und ich zu Frau Müller hinabgingen, die uns zum Frühstück eingeladen hatte. Na, Herr Gotthold, und da haben wir denn stillgesessen, und sie hatte eine frische Mettwurst, und wir dachten an nichts Arges, und unterdessen ist der Kerl zwei Stock hoch zum Fenster hinaus in den Garten, der ja an die Stadtmauer stößt, und die Pforte ist nie verschlossen und wir – können wirklich nicht dafür. Wenn ein Mensch einen nicht gerade ansehen kann, wie soll man da einem Menschen ansehen, daß er solche Kniffe im Kopf hat!“

„Eine Stunde, sagtest Du?“

Jochen nickte.

„Wo ist Clas?“

„Nach dem Hafen hinunter; es wäre doch eine Menschenmöglichkeit, daß er schon an Bord gegangen, um sich da ein wenig umzuthun.“

Gotthold schüttelte den Kopf. „Das ist äußerst unwahrscheinlich, nachdem, wie er weiß, Alles verabredet ist.“

„Was sollen wir thun, Herr Gotthold?“

„Lauf’ zu Herrn Wollnow und sag’ ihm, was geschehen, und daß ich zum Rennen hinaus wäre; und komme mir nach, so schnell Du kannst.“

Jochen blickte erstaunt auf. „Ja, wahrhaftig, Herr Gotthold, das wäre eine Menschenmöglichkeit; er hat gestern den ganzen Abend von nichts als dem Rennen gesprochen.“

Gotthold hatte bereits ein paar Schritte gethan, als Jochen hinter ihm herkam.

„Sie sind mir doch nicht bös, Herr Gotthold? und meinem Clas-Bruder?“

„Ihr guten dummen Kerls!“

Jochen sah sehr gerührt aus und wollte ohne Zweifel noch etwas sagen; aber Gotthold drückte ihm die grobe ehrliche Hand und eilte die Straße hinab dem Thor zu, vor welchem in nicht allzuweiter Entfernung von der Stadt der Rennplatz sich befand.

Er kannte den Weg nur aus der Beschreibung, aber derselbe war heute nicht wohl zu verfehlen. Je näher er dem Thore kam, desto zahlreicher wurden die Menschen, welche sich Alle eifrig nach derselben Richtung bewegten; die Vorstadtstraße, die man passiren mußte, hatte ein festliches Gewand angelegt. Die sehr bescheidenen, im Grün der Gärten halb versteckten Landhäuser waren heute mit Kränzen und Teppichen geschmückt; hie und da schauten unter schattigen Bäumen über staubbepuderte Ligusterhecken ein alter Herr oder ein Gärtner oder eine Kinderfrau mit dem Baby auf dem Arm bedauernd oder schadenfroh auf die in der Sonnenhitze Vorübereilenden. Manchmal rasselte auch einer jener langen, mit vier oder sechs Sitzen hintereinander versehener Holsteiner Wagen vorüber; leer, wenn er herein, mit Menschen überfüllt, wenn er hinausfuhr; und zwischen den glücklichen Insassen und den staubgequälten Fußgängern fehlte es selten, hinüber und herüber, an landesüblichen Witzworten.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_832.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)