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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Gotthold hatte schon viele der Fußgänger überholt und eilte noch immer rastlos weiter. Es war ja freilich kaum zu hoffen, daß er oder Jochen den Mann in einer so großen Masse Volkes finden würden, zumal er sich offenbar nicht würde finden lassen wollen; aber daß sie ihn nur auf der Rennbahn suchen könnten, daran zweifelte er keinen Augenblick; und wie er jetzt auf der Spur des Flüchtlings dahineilte, wurde ihm immer banger um’s Herz, je klarer er sich alle die schlimmen Folgen machte, die nun hereindrohten. War Hinrich geflohen, um nicht wiederzukommen, um wieder der Herr seines Schicksals zu werden, und Brandow erfuhr es rechtzeitig, so würde er Alles zurücknehmen, was er zugegeben; der Kampf begann auf’s Neue, und mit einem Gegner, der nicht mehr überrascht werden konnte; wollte Hinrich nur eine Gelegenheit suchen, sich zu rächen, so war bei der brutalen Energie des Mannes Brandow keinen Augenblick mehr seines Lebens sicher, und zugegeben auch, daß Brandow ganz der Mann war, sich seiner Haut zu wehren, – es war doch Alles in Frage gestellt, was errungen schien, in erster Linie das Geheimniß, in welches das jammervolle Geschick der geliebten Frau einer frech-neugierigen Welt gegenüber sich bis jetzt so glücklich hatte hüllen dürfen.

Und immer schneller eilte Gotthold dahin; hoffend, nun bald sein Ziel erreicht zu haben; aber er bog aus einer der gartenumgebenen Straßen in die andere, die Vorstadt schien kein Ende nehmen zu wollen. Es sei noch eine halbe Stunde bis zum Rennplatz, erwiderte man ihm auf seine Frage.

Ein leichtes, von zwei wundervollen Pferden gezogenes offenes Wägelchen kam hinter ihm her und flog an ihm vorüber; er glaubte, das Gesicht des jungen eleganten Mannes, der den Sitz hinter dem Kutscher inne hatte, schon gesehen zu haben. Der junge Mann wandte sich nach ihm um, klopfte dann eifrig seinem Kutscher mit dem Stöckchen auf die Schulter; der Wagen hielt; der junge Mann sprang heraus und kam im schnellsten Schritte zu Gotthold zurück, mit der Hand winkend und schon von Weitem rufend: „Treffe ich Sie endlich!“

Eine Minute später saß Gotthold an der Seite des jungen Fürsten Prora; die Pferde griffen wieder aus, und bestäubte Fußgänger und Ligusterhecken, Gärten, Villen, Scheunen flogen rechts und links vorüber.

„Sie glauben nicht, wie ich mich freue!“ sagte der Fürst, Gotthold’s Hand noch einmal drückend; „oder Sie werden es glauben müssen, wenn ich Ihnen sage, daß ich eigens um Ihrethalben von Berlin, wo ich mit Schinkel in den wichtigsten Conferenzen über mein neues Waldschloß saß, herüberkomme, um Sie, von dessen Abreise aus Rom mir Graf Ingenheim geschrieben, und dessen Aufenthalt in unserer Gegend man mir aus Prora berichtet, zu suchen, zu sehen, zu sprechen, zu überreden, zu gewinnen – enfin: Sie müssen mir mein Waldschloß al fresco ausmalen. Ich will es; und wenn Ihnen das, wie ich annehme, kein Grund ist, nicht Nein zu sagen: Schinkel selbst will es, und da werden Sie wohl Ja sagen müssen. Er will Sie, niemand Anders als Sie; ‚ich kenne Niemand, von dem ich so überzeugt sein darf, daß ich mich mit ihm verständigen werde,‘ sagte er und war entzückt, als ich ihm sagen konnte, daß ich die Ehre Ihrer persönlichen Bekanntschaft längst gemacht und den köstlichsten Winter in Rom mit Ihnen verlebt habe. Ach, das göttliche Rom! aber Sie Tausendkünstler sollen es mir wiederzaubern, an die Wände meines nordischen Schlosses; in dem Speisesaale will ich nur römische, zum mindesten italienische Landschaften; alle heiter, sonnig, wie Sie sie so köstlich malen können, Sie ernster Mensch; und was die heimischen Landschaften angeht, die wir für den Waffensaal projectirt haben, so will ich Ihnen da gar nicht hineinreden. Das soll Ihnen ganz überlassen bleiben; da können Sie in Melancholie schwelgen trotz dem Dänenprinzen; vor Allem aber sollen Sie Ja sagen – wollen Sie?“

Der lebhafte junge Mann hielt die Hand hin, und ein Schatten flog über sein feines, liebenswürdiges Gesicht, als Gotthold einzuschlagen zögerte. Wie gern, wie freudig wäre er sonst einem so schönen, so ehrenvollen, so bedeutenden Rufe gefolgt, der ihm Alles zu erfüllen versprach, was sein Künstlerherz nur begehren konnte; aber jetzt, aber heute –

„Sie wollen nicht?“ sagte der junge Fürst traurig.

„Ich will, gewiß will ich,“ erwiderte Gotthold, die dargebotene Hand in tiefer Bewegung drückend; „ob ich können werde, das ist die Frage, die ich mir selbst stelle, und die ich in diesem Augenblicke kaum mit Ja zu beantworten vermag. Verzeihen Sie, Durchlaucht, wenn ich in Räthseln spreche; aber es giebt Stunden, Zeiten, wo wir uns nicht selbst gehören, wo wir unter dem Banne eines Schicksals stehen, dessen Gang wir weder beschleunigen, noch aufhalten können, und dessen Entscheidung wir jedenfalls erst abwarten müssen, bevor wir uns selbst frei genug zu irgend einer Entscheidung fühlen dürfen.“

„Ich verstehe Sie gewiß nicht ganz,“ erwiderte der Fürst; „aber ich glaube zu verstehen, daß irgend etwas, das gewiß keine Bagatelle ist, auf Ihnen lastet; daß Sie ein großes Unglück gehabt haben, oder ein großes Unglück fürchten müssen; und da liegt denn die Frage so nahe, daß Sie sie mir verzeihen werden: ist es möglich, daß Ihnen Jemand helfen kann, und kann ich dieser Jemand sein?“

„Ich danke Ihnen, Durchlaucht; aber ich werde es wohl allein durchfechten müssen.“

„So will ich nicht weiter in Sie dringen; aber ich stehe jederzeit zu Diensten, vergessen Sie das nicht.“

Sie waren unterdessen zwischen den Häusern herausgekommen; vor ihnen auf dem unendlichen Wiesenplane in geringer Entfernung lag der Rennplatz mit seinen hohen Tribünen, der kleinen Stadt von Buden und Zelten, den langen Reihen der neben einander aufgefahrenen Wagen, dem dunkeln Gewimmel der schaulustigen Menge. Ein Reiterschwarm sprengte vorüber in sausendem Galopp; einer der Herren zügelte nicht ohne Mühe den schäumenden Renner und kam an den Schlag.

„Wie, Plüggen, Sie nicht dabei?“ rief der Fürst.

„Noch im letzten Augenblick Reugeld bezahlt, Durchlaucht, im letzten Augenblick! Zu sehr überzeugt, daß es heute gerade kommen würde, wie auf dem Derby vor vier Jahren. Mal in – ah, Gotthold, bon jour, bon jour! Dein Freund Brandow macht heut’ ein glänzendes Geschäft, verteufelt glänzend!“

„Wie weit sind sie denn? ich komme doch nicht zu spät?“

„Gott bewahre, Durchlaucht; das heißt, sie müssen in zehn Minuten hier sein. Wollte eben bis zum vorletzten Hinderniß; alle Welt da – furchtbare Spannung. Gerade wie auf dem Derby vor vier Jahren, als der Hurry Harry von Robin Hood aus der Drury-Lane –“

„Dann halten Sie sich nicht auf, Plüggen! à revoir heute Abend; fort!“

Gustav von Plüggen zog, mit einem etwas langen Gesicht, den Hut, warf sein Pferd herum und jagte seinen Gefährten nach.

„Sie kennen also auch diesen Brandow?“ sagte der Fürst. „Schade um den Menschen; hätte, glaube ich, das Zeug zu einem brillanten Reitergeneral gehabt: klarer Kopf, scharfes Auge, nie um Auskunftsmittel verlegen, und dabei persönliche Bravour bis zur Tollkühnheit; so, in diesen zahmen bürgerlichen Verhältnissen, ward aus ihm, fürchte ich, nichts viel Besseres als ein mauvais sujet. Aber schändlich ist es doch, daß sie ihm zum Tort das Stück Sumpfland in die Bahn gezogen haben. Ich höre, es ist nur geschehen, um den anderen Pferden wenigstens eine Chance zu geben, da man allgemein der Ansicht ist, daß ein Pferd von der Schwere des Brownlock das Moor nicht passiren kann.“

„Er wird es passiren, Durchlaucht,“ sagte Gotthold; „Sie können darauf eine Million verwetten.“

„Wie kommt Saul unter die Propheten?“ rief der Fürst lachend. „Seit wann sind wir denn solche Kenner in horse-flesh? da müssen Sie mir zur Seite bleiben und mir als Einbläser dienen, wenn ich, notorischer Dilettant in diesen edeln Künsten, Gefahr laufe, durch die Lücken meiner Einsichten zu brilliren.“

„Ich bin überzeugt, daß Durchlaucht –“

„Sie wollen mich los sein, ich verstehe. Nun, ich bin auch schon sehr zufrieden, daß ich Sie gesehen und gesprochen habe. Ich bleibe noch drei Tage in Sundin, hernach eine Woche in Prora, wo Sie durchaus mein Gast sein müssen, selbst in dem Fall, mit dessen Vorstellung ich mir vorläufig die gute Laune nicht verderben will, daß Sie für mein Waldschloß keinen Pinselstrich malten. Hier wären wir; Sie kommen doch wohl sicher mit hinauf? Man kann die Sache am besten von oben sehen, und Ihnen einen guten Platz zu verschaffen, müssen Sie mir mindestens erlauben.“

Der Wagen hielt. Der Fürst sprang herab und begann,

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