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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Eine zahme Robinsonade.

Aus meinem Tagebuche, von M. E. Plankenau.

(Mit Abbildung.)


Am 23. Mai 1867 verließen wir mit unserm Schooner „Ricardo“ den Hafen von New-York und segelten wohlgemuth nach dem sonnigen Süden. Unser Ziel war Baracoa, am Ostende der Insel Cuba gelegen, wo wir eine Ladung der vielbegehrten Tropenfrüchte für New-York einnehmen wollten.

Den treuen Lesern der Gartenlaube ist unser kleines Fahrzeug schon bekannt; es ist dasselbe, in dem ich jenen furchtbaren Hurricane erleben sollte, den ich schon im Jahrgange 1870, Seite 153, geschildert habe. Am Bord befand sich fast die nämliche Bemannung; der alte Capitain führte das Schiff, und sein treuester Begleiter, der riesige Neufundländer Hund, von dem er stets behauptete, daß er jeden Curs genau kenne, war ebenfalls anwesend; nur eine Persönlichkeit war überzählig und doch der Liebling Aller: Mary, des alten Graukopfs jüngstes Töchterlein, ein blondköpfiger Backfisch und ein Wildfang von reinstem Wasser. Die hellen Röckchen derselben waren überall im Schiffe zu sehen, und an Mary lag es sicherlich nicht, wenn sie noch nicht hoch oben auf den Masten geflattert hatten; das aber erlaubte „Pa“ nicht, trotz der inständigsten Bitten, und Mary mußte sich begnügen, auf dem Bollwerke sitzend, sehnsüchtig nach der luftigen Höhe unserer Mastbäume oder in die Ferne zu schauen und mit den Häckchen gegen die Planken zu trommeln.

Um die Kette der Bahama-Inseln zu passiren, hatten wir den Caicos-Canal gewählt, in dessen Mitte, zwischen den Inseln Acklin und Inagua, sich ein gefährliches Hinderniß befand, ein Korallenbau, das Hogsty-Riff. Am Abend des 4. Juni mußten wir ganz in der Nähe desselben sein und hielten doppelt scharfe Wacht, während unser Schooner, vor einer günstigen Ostbrise leicht zur Seite geneigt, mit gleichmäßigem Rauschen die Fluth durchschnitt. Es war stockfinster geworden, und ein leichter Dunst ließ uns zuweilen kaum eine Schiffslänge weit irgend Etwas erkennen; dennoch hielten wir die Gefahr nicht für groß, da bis unmittelbar zum Riffe für uns genügende Wassertiefe vorhanden war und wir bei so günstigem Winde, sobald das weiße Wasser der Brandung durch die Nacht leuchtete, unsern Schooner sofort umlegen und das Hinderniß umsegeln konnten.

Der Capitain war selbst nach vorn gegangen; nach einem letzten Rundblicke und einem scharfen Hinausforschen in die Dunkelheit wandte er sich eben zurück, als plötzlich gerade unter uns ein kurzes dumpfes Rumpeln das ganze Fahrzeug erbeben machte. Einen Moment standen wir wie gelähmt – selbst der Unerfahrene begreift sofort die volle Bedeutung dieses Geräusches – dann sprangen wir instinctiv nach dem Tauwerk der Segel. Umwenden war unsere einzige Rettung; aber ehe noch der vorwärtsschießende Schooner dem Drucke des Steuers gehorchen konnte, ertönte schon das ominöse Rumpeln von Neuem; ein langer Wellenkamm hob uns empor, trug uns eine Strecke vorwärts und setzte, sich in glänzenden Schaummassen überrollend, den Schooner so unsanft auf festen Boden nieder, daß wir fast Alle das Deck maßen. Der vordere Topmast brach mit lautem Krachen und kam mit seinem Tauwerk prasselnd von oben; schwerfällig fiel das Fahrzeug zur Seite: wir saßen fest, mitten auf dem Hogsty-Riff.

Der plötzliche, jede weitere Bewegung hemmende Stoß hatte endlich auch Mary aus dem festen Schlummer glücklicher Jugend erweckt, und weiß wie eine Schneeflocke wirbelte sie an Deck und zu ihrem „Pa“. Ein Blick gab ihr die Gewißheit, daß wir gescheitert waren, aber zu hoch und trocken zum Ertrinken lagen; ein zweiter gab ihr die für eine angehende Dame noch schrecklichere Gewißheit, daß sie sich in einer überaus tropischen Nachtkleidung befinde, und schnell und stumm, wie sie gekommen, flog sie wieder davon und tauchte in die Kajüte hinab. – Nachmals habe ich mit der lieben jungen Freundin noch oft recht herzlich über dies kleine Intermezzo gelacht, von dem sie immer schelmisch behauptete, es sei ein Traum überreizter Phantasie gewesen; denn in so stockfinsterer Nacht lasse sich überhaupt nichts sehen, nicht einmal die mächtige Brandung, viel weniger ein kleines Mädchen. Dieser Vorwurf mußte immer treffen, denn es war und ist unbegreiflich, daß wir nicht eher „weißes Wasser“ sahen, als bis das Schiff mitten drin war.

Besonders gefährlich war unsere Situation vorläufig keineswegs, wir hatten weder Sturm, noch schwere See; zuweilen nur hob sich eine lange Welle an der Außenseite des Riffes und rollte schäumend und rauschend über dasselbe hinweg, unsern Schooner rüttelnd und schaukelnd, oder auch einige Fuß weiterschiebend. Ohne weiteres Zögern machten mir uns nun während der Nacht daran, das Cargo über Bord zu werfen, um unser Fahrzeug möglichst zu erleichtern.

Als der Tag graute, war unser Werk kaum halb gethan, erschöpft hielten wir inne, um zu rasten und Umschau zu halten. Etwa hundert Schritt westlich von uns lag eine kleine Insel mit einem räthselhaften verfallenen Gemäuer; sie war vollständig öde, nur Tausende von Seevögeln umschwärmten ihren gemeinschaftlichen Ruheplatz. Wir hatten einen sogenannten Key vor uns, ein Inselchen, welches den Abschluß auf dieser Seite des Korallenriffes bildete. Dieses selbst erstreckte sich in einer zwischen vielleicht zweihundert und fünfhundert Fuß schwankenden Breite und an vielen Stellen kaum vom Wasser bedeckt in weitem Bogen nach Osten, dann nach Süden und krümmte sich endlich wieder nach Westen, wo in weiter Ferne ein zweiter Key das Ende des hufeisenförmigen Riffes bezeichnete. Innerhalb desselben befand sich eine ruhige Lagune, in welcher nur hier und da die Farbe des Wassers eine Untiefe verrieth und welche nach Westen hin, zwischen den beiden Inseln hindurch, eine bequeme und sichere Aus- und Einfahrt hat. Im Uebrigen war nichts zu sehen als Himmel und Wasser.

Der Schooner lag mitten auf dem hier kaum dreihundert Fuß breiten, fast ebenen compacten Felsen an der nördlichen Biegung des Walles und während der Ebbe in durchschnittlich zwei Fuß Wassertiefe. Auf improvisirter Leiter konnten wir über Bord steigen und bequem das ganze Fahrzeug umwaten; es hatte nirgends schlimme Beschädigungen erlitten, nur das Ruder war angesprungen und aus seiner unteren Befestigung gelöst, ebenso ein Theil der Kupferung vom Schiffsbauche abgerissen. Nach kurzer Orientirung fuhr der Capitain mit einem Theil der Leute im Boote nach der nahen Insel, und wir dehnten, in dem klaren warmen Wasser umherwatend, unsere Untersuchungen indessen auf größere Strecken des Riffes aus und zwar zum Nachtheil unserer Fußbekleidung, der von dem scharfkantigen Gestein übel mitgespielt wurde.

Mary, welche mit dem Hunde allein an Bord geblieben war, nahm sich unterdessen die, wie ihr dünkte, durch die Verhältnisse gerechtfertigte Freiheit, flink wie ein Eichhörnchen in den Wanten der sehr schräg liegenden Masten emporzuklettern – natürlich nur in der liebenswürdigen Absicht, uns vor sich etwa nahenden Haifischen zu warnen. Leider hatte sie den Spruch nicht beachtet: Bedenke das Ende! Als es Zeit wurde, wieder herabzusteigen, war dies leichter gedacht als gethan. Die Höhe erschien ihr auf einmal ganz ungeheuer, und wenn das Aufsteigen auch den Reiz der Neuheit hatte, das Niedersteigen auf schmaler schwankender Strickleiter und mit den so hinderlichen Röckchen schien doch gar zu schwierig; so saß sie denn rathlos oben auf den Kreuzhölzern, die sich lange schon wundern mochten ob des seltenen Besuches. Es war eine verzweifelte Situation für die arme Mary und sie fühlte sich immer unbehaglicher in ihrer selbstverschuldeten Gefangenschaft; endlich blieb nichts Anderes übrig, als den Wildfang herabzuholen – und sie hielt mich merkwürdig fest umschlungen während der Niederfahrt. Der anlangende „Pa“ durfte sich wohl mit der Versicherung begnügen, daß sein unternehmendes Töchterchen zum ersten und letzten Male einen Mast bestiegen habe. –

Die Insel war vortrefflich geeignet, uns als Stapelplatz für die noch vorhandene Ladung zu dienen; in dem ruhigen flachen Wasser war die Ueberführung letzterer, welche zum größten Theil aus Bauholz bestand, nicht schwierig. Konnten wir den Schooner nach seiner Erleichterung nicht wieder flott machen, so blieb

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_836.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)