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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

nichts übrig, als im Boote nach der Insel Inagua zu segeln und von dort Hülfe zu holen.

Am folgenden Tage war der Rest der Ladung auf dem Eiland geborgen und wir begannen uns dort häuslich einzurichten. Unser kleines Reich umfaßte nur wenige Acker Land. Von einem flachen sandigen Strande, welcher nach Westen sich ungefähr zweihundert Schritte weit als eine schmale niedrige Sandzunge fortsetzte, erhob sich ein kleines länglich rundes Plateau, dessen ebene Oberfläche vielleicht zehn Fuß über Fluthmarke lag und spärlich mit Gras und niedrigem Gestrüpp bewachsen war; nur zwei dünne, kaum mannshohe Cedern bemühten sich auf diesem Sandhaufen einen Wald darzustellen. Das schon erwähnte Gemäuer erwies sich als ein niedriger, massiv aus Korallengestein aufgemauerter halbverfallener Thurm, von dessen ehemals wahrscheinlich trichterförmig vertiefter Zinne eine noch vorhandene enge Durchlaßöffnung das aufgefangene Regenwasser nach einer dicht daneben befindlichen sauber ausgemauerten Cisterne geleitet hatte. Durch einen Hurricane war das gesammte Bauwerk wahrscheinlich zertrümmert, die Cisterne in Folge dessen längst überflüssig. Auch Spuren von früheren Schiffbrüchigen fanden wir: einen Feuerheerd, Stücke von eisernen Faßreifen, ein verrostetes Messer, zerbrochene Thonpfeifen, Fetzen von Segeltuch und am Westende des Plateaus drei einsame Gräber. Ein Theil der Thurmtrümmer war an diesem in Form einer rohen Mauer aufgebaut und mochte Unglücklicheren, als wir waren, einen kümmerlichen Schutz gewährt haben. Uns wurde es nicht schwer, mit dem prächtigen Baumaterial, welches wir gerettet hatten, eine geräumige Hütte zu errichten und sie ganz behaglich auszustatten; ehe noch die Sonne zu Rüste ging, waren wir eingezogen. Während nun unser Abendessen am Feuer brodelte, schauten wir nach Neuigkeiten aus. Eine Menge schöner, wenn auch vielfach beschädigter Muscheln, Seeigelskelete, Schwämme, Seesterne von allen Formen und die Reste anderer wunderbarer Meeresbewohner waren überall am Strande von den Wellen ausgeworfen und wir halfen Mary eifrig beim Einsammeln derselben, immer neue und schönere Exemplare entdeckend. Auf der westlichen Sandbank waren große Massen von jenem schwimmenden Meerkraut, dem Sargasso, aufgehäuft, welches oft Wiesen von ungeheurer Ausdehnung bildet und mit den Strömungen fast alle Meere durchwandert – gleichsam als der ewige Jude der Pflanzenwelt.

Die erwähnte Landzunge schien auch der Schlafplatz für eine Unzahl von Seevögeln zu sein, welche sich allmählich einstellten und uns in dichten Schwärmen umkreisten. Ein Paar riesige Fregattvögel segelten, in stolzer Ruhe ihre mächtigen Schwingen breitend, hoch über der uns umwirbelnden Sippschaft; einen reizenden Gegensatz hierzu bildete eine wunderschöne zierliche Seeschwalbe, perlgrau mit schwarzem Köpfchen, welche so zutraulich war, daß sie unermüdlich von einem zum andern flatterte, eine Zeit lang über unseren Köpfen schwebend uns mit neugierigen klugen Augen musterte und dann mit leisem „Schirp! Schirp!“ wieder davon flog. – Nach und nach zogen die lärmenden Vogelschaaren ab; sie mochten wohl eingesehen haben, daß für sie und uns die Insel zu klein sei, und so durften wir auf eine ungestörte Nachtruhe hoffen.

Leider aber sollten wir das Thierleben unseres Asyles in noch viel unangenehmerer Weise kennen lernen, denn es gab auch noch Bewohner, die, selbst wenn sie Flügel gehabt hätten, uns schwerlich das Feld geräumt haben würden. Wohl hatten wir am Tage schon eine Menge der originellen Einsiedlerkrebse gesehen und waren genöthigt gewesen unsere Provisionen vor ihren beharrlichen Angriffen in Sicherheit zu bringen; auch die spinnengleichen Laufkrabben hatten wir in großer Anzahl vorgefunden – was aber nun folgen sollte, überstieg alle Begriffe.

Während die Schatten der Nacht sich um uns ausbreiteten, verzehrten wir gemüthlich unser Abendbrod. Mary, welche etwas aus der Hütte holen wollte, sprang in fliehender Eile wieder heraus, sich mit einem Satz auf ein Faß rettend vor den „ekelhaften Dingern“. Die Laterne zeigte uns bald die schöne Bescheerung. Die ganze Hütte wimmelte von Einsiedlerkrebsen und Laufkrabben, welche ganz ungestört ihren Einmarsch gehalten hatten; unsere Lagerstätten, Kleidungsstücke und sonstigen Utensilien waren mit den Eindringlingen bedeckt. Und immer neue Schaaren rückten heran, die ganze Insel war lebendig; in kleinen und großen Abtheilungen, wie Soldaten marschirten sie mühsam durch den weichen Sand, über Stock und Stein, langsam aber sicher vorwärtskommend: ein Heer von Gewappneten, von denen jeder mit seinem weichen Hinterleibe in einer irgendwo aufgelesenen ihm passenden Muschel saß, welche er gewissenhaft überall mit sich herumschleppte und in welche er sich bei drohender Gefahr auch mit dem gepanzerten Vorderleibe sofort zurückzog und die Oeffnung mit der einen großen querüber gelegten Scheere verschloß. Sie kamen vom Thurm, von umherliegenden Trümmern, sogar vom Ende der Insel nach unserem Lager in zahlloser Menge mit ihren Muscheln von Wallnuß- bis fast zur Faustgröße; über sie hinweg, neben ihnen vorüber rasselten wie leichte Cavallerie Hunderte von flinken Laufkrabben mit ihrer urkomischen Seitwärtsbewegung; wir hatten vollauf zu thun uns der Plagegeister zu erwehren.

Der Eingang zur Hütte wurde unten durch vorgenagelte Bretter abgeschlossen und an Dach und Hinterwand ringsum Sand aufgeschüttet, dann erst befreiten wir das also abgesperrte Innere gründlich von den unangenehmen Nachtgästen. Als wir uns endlich zur Ruhe begeben konnten, hörten wir mit schadenfrohem Behagen, wie das unermüdliche Heer, nach Zugängen suchend, in dichten Massen auf den Dachwänden über uns herumkrabbelte, bis zum Giebel aufstieg und von dort zuweilen wie eine förmliche Krabbenlawine lustig wieder hinabkollerte.

Am nächsten Morgen erblickten wir einen großen englischen Dreimaster kaum zwei Meilen entfernt, welcher unter vollen Segeln nach Norden steuerte, ohne sich um uns zu kümmern. Doch waren wir recht wohl bemerkt worden, denn als das Fahrzeug eine Wendung machte, da ließ der schlaue Brite ein großes Stück Segeltuch über das Hintertheil hinabhängen, um den dort befindlichen Namen des Schiffes zu verdecken.

Während wir dem davonsegelnden Fahrzeuge nachschauten und sein Verhalten lebhaft erörterten, hatte sich auch der Koch zu uns gesellt und vergaß beim Zuhören ganz das angerichtete Frühstück. So wurde uns denn auch noch die Ueberraschung, unsere Plagegeister an diesem in voller Thätigkeit zu finden – wäre die Kaffeekanne nicht so unzugänglich gewesen, so hätten wir in ihr statt des aromatischen Trankes sicherlich verbrühte Krabben und eine entsprechende Bouillon gefunden.

Unser schwarzer Kochkünstler begann in seiner Verzweiflung einen tragikomischen Vernichtungskrieg gegen seine speciellen Feinde zu führen, bis endlich die kluge Mary vorschlug, dieselben in die so wie so unbrauchbare Cisterne zu werfen. Diese eignete sich vortrefflich zum Krabbenzwinger, da sie nach oben sich verjüngte und ihre glatten Wände unersteiglich schienen. Wir begannen denn auch sofort die Jagd auf unsere Peiniger; der Koch ersann sogar geistreiche Fallen, indem er allerlei Gefäße mit Ködern versah oder mit Speckschwarte ausrieb, dieselben an leicht zugänglichen Orten aufstellte und, wenn sie voller Krabben waren, in die Cisterne entleerte. So warfen wir dieselben scheffelweise hinab, ohne uns jedoch Ruhe zu verschaffen; zu zahllos war das Heer unserer Feinde – der freundliche Leser möge dies daraus schließen, daß in meinem Tagebuche regelmäßig die lakonische Bemerkung wiederkehrt: „Die Krabben fressen uns fast auf.“

Am nächsten Tage entdeckten wir wieder ein Segel, welches von Osten her sich uns näherte; wir erkannten bald einen winzigen Schooner, dessen ganzes Aussehen verrieth, daß er mit Wreckers besetzt war, welche uns ganz sicherlich Hülfe brachten. Diese berühmten Wreckers der westindischen Inseln sind kühne, verwegene Männer, welche mit dem untrüglichen Instinct vielerfahrener Seeleute im wildesten Sturm mit ihren kleinen Fahrzeugen hinauseilen nach gefährlichen Orten, um gestrandetes Gut zu bergen. Sie kennen ihre ganze Inselwelt genau, alle Canäle, Bänke, Riffe, und schweifen rastlos umher, dabei auch fischend, Schildkröten jagend, versunkene Schätze hebend, oder Kaufmannsgüter transportirend, und führen ein unglaublich wildes, gefahrvolles Abenteurerleben. Ihre eigentliche Heimath sind die Inselchen der Florida-Riffe.

Der kleine Schooner – die „Evelina“ von Nassau, Capitain Nilson – segelte, von kundiger Hand geführt, bis dicht an die Insel, warf Anker und sandte ein mit Farbigen besetztes Boot herüber, in welchem sich ein Weißer befand: das Ideal eines stahlharten Seemannes, von hünenartiger Gestalt, mit einem prächtigen, von schneeweißen Locken umflatterten Kopf und freundlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_837.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)