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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Aus dem Lande der Freiheit.


Von Ludwig Büchner.


Dritter Brief.


Vorlesungen in Amerika. – Ueberall Partei. – Politische Versammlungen. – Die „Mache“ der öffentlichen Meinung. – Vielleicht Monarchie und – Religionskrieg. – Amerikanische Kieselacks. – Ein priesterlicher Räuber. – Klöster im Lande der Freiheit.


Es sind beinahe vier Wochen verflossen, seit ich Ihnen das letzte Mal schrieb. Aber Sie müssen mich entschuldigen, da alsbald nach der Präsidentenwahl im Anfange des Monats November das Vorlesungswesen meine Kräfte der Art in Anspruch nahm, daß kaum Zeit für etwas Anderes übrig blieb. Ein Vorleser oder Lecturer, wie der englische Kunstausdruck lautet, hat es hier nicht so bequem, wie in deutschen Städten, wo Alles, was sich für eine Vorlesung oder Vorleser interessirt, an demselben Punkte zusammenströmt. Hier ist es umgekehrt, und ein Vorleser muß sich mit Rücksicht auf die riesigen Entfernungen innerhalb New-York’s und seiner Schwesterstädte bequemen, an zehn oder zwölf verschiedenen Punkten seine Vorträge zu wiederholen, und dabei selbstverständlich Zeit und Kräfte zuzusetzen. Da geht es denn von einer Car (Pferde-Eisenbahn-Wagen) in die andere; von einer Ferry (Fährboot) in die andere, bis man endlich müde und zusammengerüttelt am Bestimmungsorte anlangt und schließlich jenem vielköpfigen Ungeheuer, welches man Publicum nennt, gegenübersteht, bisweilen an einem eleganten, mit Blumen oder Teppichen umrahmten Lesepult, bisweilen an einem alten wackeligen Tisch, den man nicht berühren darf, ohne das auf demselben stehende Glas Wasser zum sanften Ueberschwappen zu bewegen. Dabei ist man in der Regel noch nicht fertig mit dem Hinunterschlucken jener kleinen Aergernisse, welche das Anbringen oder Aufhängen einer Anzahl von zu der Vorlesung nöthigen Tafeln oder sonstigen Gegenständen an passender Stelle bei der Unverständigkeit der Bediensteten oder dem Mangel an dazu nöthigen Materialien im Gefolge hat; oder man hat noch kaum eine Minute Zeit gehabt, sich von unzähligen Begrüßungen, persönlichen Vorstellungen und der Anstrengung unaufhörlichen Händeschüttelns zu erholen – und schon steht man auf der sogenannten Platform, um dem aus den verschiedensten Elementen gemischten Zuhörerkreise innerhalb des unsagbar kurzen Zeitraums von ein bis zwei Stunden mitunter die schwierigsten Probleme der Wissenschaft oder der realistischen Forschung klar und verständlich zu machen, eine Aufgabe in der That, welche, wie es scheint, zu den schwierigsten gehört, die der menschliche Geist sich stellen kann.

Aber wie verschieden spiegelt sich denn auch das Gesagte wieder in den vielen verschiedenen Gehirnen, welche mit Auge und Ohr die Worte des Redners in sich aufnehmen! Dem Einen ist der Vortrag zu gelehrt, dem Andern zu ungelehrt; dem Einen giebt er zu viel, dem Andern zu wenig; dem Einen ist er zu lang, dem Andern zu kurz; dem Einen ist er zu materialistisch, dem Andern ist er nicht materialistisch genug; der Eine will Witze, der Andere will keine; der Eine hat schon Alles gewußt, der Andere nicht Alles verstanden. Zarte Damengemüther fühlen sich beleidigt von einigen für die Zwecke des Vortrags unentbehrlichen, aber doch an sich höchst unschuldigen anatomischen Erörterungen; während starkgeistige Frauen und energische Frauenrechtlerinnen darüber mitleidig die Achseln zucken und sich sehr in ihren Rechten gekränkt fühlen, wenn man sie von einem Vortrage ausschließt, welcher die Aufgabe hat, die berühmte oder berüchtigte Seelensubstanz-Theorie an den Thatsachen der Zeugung und Vererbung zu prüfen. Endlich ist man fertig und wird von dem gestrengen Publicum-Richter mit dem üblichen Applause entlassen.

Aber von Ruhe ist darum keine Rede; denn nun geht das Vorstellen und Händeschütteln erst recht los. Ist auch dieses glücklich überstanden, so folgt die letzte, aber auch härteste Prüfung, durch welche der betreffende Verein oder das betreffende Comité, welches den Redner eingeladen hat, den praktischen Beweis dafür zu liefern sucht, daß die neuerdings so oft gehörte Behauptung, der Materialismus der Wissenschaft und der Materialismus des Lebens seien himmelweit verschiedene Dinge, unrichtig ist. Ist man schließlich nach unerhörten Anstrengungen auch mit diesen sinnlichen Genüssen fertig geworden und hat eine Anzahl von Toasten angehört und beantwortet, so darf man sich endlich um oder nach Mitternacht aus diesem Zauberkreis entfernen, um abermals mittelst einer kleinen Reise den schützenden Hafen des heimischen Hauses zu erreichen. Andern Morgens erwacht man mit etwas dumpfem Kopfe, um beim Frühstück die Zeitungen zur Hand zu nehmen und die während der Nacht gedruckten Berichte über dasjenige zu lesen, was man Abends vorher da oder dort verübt oder angestellt hat, und sich davon zu vergewissern, ob man es den gestrengen Herren Repräsentanten der öffentlichen Meinung recht gemacht oder nicht.

Dieser „Kreislauf des Lebens“ wiederholt sich dann denselben oder den folgenden Abend in ähnlicher oder nahezu gleicher Weise und mit stets gleichem Erfolge; und ein gewissenhafter Vorleser sieht sich dabei vor allem Andern zu der Frage an sich selbst veranlaßt, ob und welchen wirklichen Nutzen oder nützlichen Einfluß seine so fortgesetzte Thätigkeit auf die Geister seiner Zuhörer auszuüben im Stande ist.

Das allgemeine Interesse des Volkes, wie der Gebildeten, an öffentlichen Vorträgen nimmt sowohl in Europa wie in Amerika mit jedem Jahre mehr zu, was wohl nicht der Fall sein könnte, wenn die Erfahrung gegen ihre Nützlichkeit sprechen würde. Mag auch Vieles und Manches dabei sogenannte Modesache sein, so doch nicht Alles; und jedenfalls dürften sie ein gutes Gegenmittel gegen jene Verflachung der Bildung abgeben, welche durch das, wenigstens in Amerika, in einem riesigen Maßstabe überhand nehmende Zeitungs-Wesen herbeigeführt zu werden droht. Es giebt in Amerika, selbst bis in die untersten Schichten der Bevölkerung herab, kaum Jemanden, der nicht täglich eine oder mehrere Zeitungen liest, und daraus erklärt sich denn auch deren immense Verbreitung. Tägliche Auflagen amerikanischer Zeitungen von weit über Hunderttausend sind bei den hervorragenderen Blättern (wie Times, Herald, Tribüne, World, Evening Post u. s. w.) etwas Gewöhnliches. Deutsche Zeitungen machen selbstverständlich kleinere Auflagen; aber doch trägt die in New-York und im Osten verbreitetste deutsche Zeitung, die „New-Yorker Staatszeitung“ ihrem Besitzer fabelhafte Summen ein und hat ihn veranlaßt, mitten im belebtesten Theile der Stadt für seine Zeitung eine Heimstätte zu erbauen, welche an Pracht, Ausdehnung und Kostspieligkeit mit den schönsten europäischen Palästen zu wetteifern im Stande ist. Was den Inhalt betrifft, so steht freilich die deutsche Presse der Vereinigten Staaten der amerikanischen weit nach und bezieht ihre besten Sachen in der Regel aus europäischem Nachdruck; auch ist die Eifersüchtelei und gegenseitige Bekämpfungswuth unter den Organen deutscher Zunge nachgerade bis auf einen fast unerträglichen Höhepunkt gediehen. Aber nicht blos in der Presse, sondern auch im Leben hat sich die alte deutsche Uneinigkeit hier leider in hohem Grade erhalten und steht allem Gemeinschaftlichen, mit vereinten Kräften zu Erreichenden hindernd im Wege.

Arrangirt z. B. an einem bestimmten Orte eine Partei eine Vorlesung, so wirkt ihr die andere entgegen, mag auch die Sache selbst noch so sehr mit ihren Principien harmoniren, und umgekehrt. Freilich muß man zur Entschuldigung sagen, daß hier Alles Partei ist, und zwar nicht blos bei den Deutschen, sondern ebenso bei den Amerikanern. Ich besuchte bei Gelegenheit der Präsidentenwahl (welche jetzt vorüber ist und ein Ihnen ohne Zweifel längst bekanntes Ergebniß geliefert hat) mehrere politische Versammlungen und überzeugte mich zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß man eigentliche Volksversammlungen im europäischen Sinne hier gar nicht kennt, und daß alle derartige Versammlungen nur sogenannte Parteiversammlungen sind, welche auf den Unbefangenen mehr den Eindruck einer großen theatralischen Schaustellung, als einer Volksbefragung machen. Alles ist vorher abgekartet und abgemacht, die Rollen sind vertheilt, die Liste des Präsidenten und zahlloser Vicepräsidenten liegt gedruckt vor und die Zuhörer spielen nur die Rolle von Statisten, welche an passenden Stellen durch Händeklatschen ihren zustimmendem Gefühlen Ausdruck geben und schließlich die vorgelesenen Resolutionen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 861. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_861.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)