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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


ihrer Ruhestätte hinunter, und als wir näher kamen, sahen wir einen großen Seehund, die Brust nach oben gekehrt und durch sein Fett getragen, im Wasser schwimmen. Dagegen war von einem zweiten Seehunde, so sicher ich ihn auf’s Korn genommen zu haben glaubte, nicht eine Spur zu sehen. Während ich etwas verlegen mich umsah, stand Andrus mit weniger stolzen als freudestrahlenden Blicken wie ein siegreicher Held neben dem erlegten Wilde und rief mit schallender Stimme seinem Gefährten zu: „Holla ho! Hierher!“ Dieser hatte sogleich, nachdem der Schuß gefallen war, das Boot flott gemacht, mußte aber einen weiten Umweg machen, um zu uns zu gelangen. Sobald er angelangt war, wurden die Messer in Bewegung gesetzt, der Kopf und die Eingeweide abgesondert und in’s Wasser geworfen, Fleisch und Speck aber sorgfältig in’s Boot gepackt. Es war ein großes Thier mit schön geflecktem Felle, und Andrus taxirte es auf etwa zehn Liespfund (zweihundert Pfund) Speck, so daß er ihn zu wenigstens zwanzig Rubeln zu verwerthen hoffte.

Wir zogen das Boot an’s Ufer, und da die Mittagszeit vorüber und unser Appetit lebhaft erwacht war, beschlossen wir uns am Strande ein Mahl zu bereiten. Ein Kessel und Holz wird bei solchen Ausfahrten immer mitgenommen, und bald war ein gutes Schulterstück des erlegten Seehundes mit Kartoffeln und Salz gahr gekocht, welches wir uns vortrefflich schmecken ließen. Der Alte war sehr aufgeräumt, gesprächig und munter, doch gab er nach genossener Mahlzeit den sehr willkommenen Rath, noch „ein Paar Augen voll Schlaf“ zu nehmen. Wir streckten uns zu einer kurzen Ruhe nieder, doch nach kaum einer halben Stunde sprang Andrus wieder auf und bereitete sich zur Heimfahrt. Mit fast vollem Winde, der deutend schwächer geworden war, glitt unser Boot so leicht und eben durch die Wellen, daß wir kaum eine Bewegung spürten. Nachdem der Alte sein Pfeifchen angezündet, bat ich ihn, mir von den Eisreisen der Runöer zu erzählen, und da dies sein Lieblingsthema war, ging er auch gleich auf meinen Wunsch ein.

„Es ist wohl jetzt im Wasser nicht gerade warm, aber wenn Ihr einmal im Winter, wie es mir geschehen ist, drei- oder viermal in’s Wasser eingesunken wäret, Euch mit Mühe gerettet und dann noch drei Meilen in nassen Kleidern, die gleich zu Eis erstarrten, einem scharfen kalten Winde entgegen hättet marschiren müssen, dann würdet Ihr die Seehundsjagd nicht für ein Vergnügen und Kinderspiel halten. Wir gehen auf diese Jagd gewöhnlich erst im März, doch auch häufig schon bald nach Neujahr und in dieser Zeit drohen uns Gefahren, von denen man auf dem festen Lande Nichts ahnt. Meilenweit vom Ufer ist Alles mit Eis und oft einer hohen wellenförmigen Schneeschicht bedeckt, fadenhoch aufgerichtete Eisschollen, oft zu Hunderten, bilden einen stundenlangen fast unübersteigbaren Wall, und solcher Eisrisse muß man zuweilen drei oder vier übersteigen, bis man zu den Wohnstätten der Seehunde gelangt. Wie manches Mal haben wir nach sechsstündiger Wanderung, ohne irgend eine Beute gesehen zu haben, wieder umkehren müssen!

Gefährlicher noch, doch meistens auch lohnender, sind die Wanderungen im April, wenn das Eis beginnt aufzuthauen und die Stürme des großen Meeres es in kleinere oder größere Schollen zertrümmern, die sich unter einander schieben oder hoch aufthürmen, auch oft größere Canäle bilden, die, leicht überfroren und dann mit Schnee bedeckt, schon Manchen in’s Verderben geführt haben. Wagt sich ein kühner Jäger, die lockende Beute in der Ferne erblickend, auf das lose Eis, wie leicht fällt da ein Sprung unglücklich aus, und wie schrecklich rächt sich ein Fehltritt auf ein zu kleines oder zu glattes Eisstückchen! Auch mit größeren Eisschollen droht Gefahr, wenn dieselben sich unerwartet schnell vom Landeise lösen und in’s hohe Meer hinausgetrieben werden. Allmählich wird das ungeheure Eisfeld zertrümmert, immer kleiner wird das zerbrechliche Boot, welches den unglücklichen Jäger tragen soll, bis es endlich in Splitter zersprengt wird und ihm sein Grab bereitet. Und ist dies nicht der Fall, so muß er, nachdem er seinen geringen Speisevorrath verzehrt, dem schrecklichsten Hungertode oder dem grimmigen Frost erliegen. Nur selten gelangt ein so Verschlagener an eine Küste oder Insel, wo er von menschenfreundlichen Strandbewohnern aufgenommen, gepflegt und später in die Heimath entlassen wird. So ging es vor längerer Zeit acht Männern von Nuckö und Worms, die nach etwa achttägiger Fahrt fast verschmachtet und erstarrt an die Küste von Finnland getrieben wurden und, nachdem man längst ihre Todtenfeier gehalten, unerwartet in der Heimat erschienen.

Befindet man sich auf dünnen Eisfeldern, so zersprengt oft ein Sturm die weite Fläche in kleine Schollen; springend muß der Jäger dem Lande sich nähern, da breitet sich plötzlich ein breiter Strom vor ihm aus; die Wellen überströmen den glatten Boden unter seinen Füßen, daß er kaum sich aufrecht zu halten vermag; der Strom wird zum Meere, auch jeder andere Ausweg ist gesperrt und keine Hoffnung auf Rettung! – Da ist menschliche Kraft und Kunst vergeblich; nur unerwartetes Zusammentreffen günstiger Umstände kann ihm das Leben retten.

Und doch treibt es den Runöer wie mit Gewalt zu diesem kühnen Wagniß hinaus; nicht sowohl der Gewinn, so sehr wir ihn schätzen und ihm nachzugehen durch die Lage unserer kornarmen Insel gezwungen sind, als gerade das Gefährliche derselben reizt uns, und allgemeine Verachtung trifft den, der, scheu von diesen Beschwerden zurückgeschreckt, lieber zu Hause bleiben wollte. Als ein Pastor einem seiner Knechte nicht erlauben wollte, mit auf’s Eis zu gehen, sagte dieser: ‚Und wenn sie mich mit eisernen Ketten anschmieden ließen, ich würde sie zerreißen und doch mit auf die Eisfahrt laufen!‘

Uebrigens gilt es bei uns, mit kühnem Muthe ruhige Besonnenheit zu verbinden und nicht muthwillig das Leben auf’s Spiel zu setzen. Um die Gefahren möglichst zu vermeiden, vereinigen sich meistens sechs Personen zu einer gemeinschaftlichen Unternehmung. In der Nähe der Grenze zwischen dem festen und dem losen Eise macht man Halt und je zwei gehen zusammen auf die Erlegung von Seehunden aus, die an solchen Stellen am liebsten zu verweilen pflegen, ja oft in ganzen Schaaren auf dem Eisrande liegen und entweder sich dem Schlafe ergeben oder behaglich die Sonne sich auf den Leib scheinen lassen. Von Eisstücken verdeckt, oft auch kriechend und die Bewegungen und die Stimme der Thiere möglichst nachahmend, nähert der Jäger sich der sorglosen Schaar bis auf Schußweite und erlegt dann ziemlich sicher ein werthvolles Stück Wild. Freilich muß er sicher schießen; denn tödtet der Schuß nicht augenblicklich, so entgeht ihm nicht selten die Beute, indem sie sich in’s Meer stürzt und mit der letzten Kraft sich soweit entfernt, daß sie für ihn verloren ist. Trifft er aber eine Schaar schlafend – und er kann das Schnarchen derselben schon in der Ferne hören – so schleicht er sich lieber mit einer Keule näher und hat zuweilen schon drei oder vier getödtet, ehe die letzten vom Schlafe erwacht sind. Auch die Harpune wird in solchen Fällen angewendet, besonders wenn man die Athemlöcher oder die großen Oeffnungen zum Heraufsteigen trifft, an denen man zuweilen nur kurze Zeit warten muß, um einen Fang zu machen. Am Abende sammeln sich alle Jäger an der bestimmten Stelle und treten mit ihrer Beute den Rückweg an.

Unsere Tracht bei solchen Unternehmungen ist warm, anschließend und bequem aus wollenem Stoffe gefertigt und ein weicher Schafpelz schützt uns gegen die Kälte. Alle Kleider sind weiß, damit der scharfsichtige Seehund uns nicht zu leicht von dem Schnee unterscheiden könne. In dem weiten Busen des Kittels tragen wir Pulver und Blei, Brod und Fläschchen Branntwein, auch wo möglich einen Compaß und Feuerzeug. Außer der Büchse haben wir einen Jagdspieß von sieben Fuß Länge, unten mit einer eisernen Spitze und oben mit einem scharfen Eisen mit Widerhaken, ferner einen langen Strick, aus Pferdehaaren geflochten, der an das Eisen der Harpune befestigt werden kann. Das andere Ende hält der Jäger in der Hand, um einen getroffenen Seehund gleich herausziehen zu können. Man darf es nicht um den Leib binden, wie Einige thun, denn ein starker Seehund, der nicht tödtlich verwundet ist, reißt die Harpune mit solcher Gewalt fort, daß bei glattem Eise der Mensch an den Rand und in’s Wasser gezogen wird. Ist das Eis gut, so ist die Jagd nicht so schwierig, ist aber das Eis mürbe und der Stoß nicht sicher geführt, so fängt der Seehund eben so leicht den Kerl, wie der Kerl den Seehund.

Beginnt das Eis überall sich zu lösen, so daß man weiter hinaus in’s Meer sich wagen muß, so nehmen wir ein Boot mit Schlittensohlen mit, das wir auf dem Eise fortschieben und, wenn es Noth thut, auch in’s Meer lassen können. In demselben finden wir auch Platz, die gewonnene Beute leichter fortzubringen. Zu diesem Zwecke vereinigen sich gewöhnlich auch sechs oder sieben Mann zu einer Gesellschaft, die unter sich einen Hauptmann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_034.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)