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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Verschwindend ist bezüglich der Racen- oder Völkermischung der eingeborene Indianer, dessen gänzliches Aussterben im Gebiete der Union nur noch eine Frage der Zeit ist, obgleich sich gerade in der letzten Zeit die Indianergrenzen wieder sehr unruhig gezeigt haben. Aber das Indianerwesen und der Indianercharakter wird darum nicht verloren gehen, weil dieses Wesen, wie es scheint, ein nothwendiges Product des Landes, des Klimas, des Bodens ist und sich bei den Eingewanderten nach Verlauf einiger Zeit geradeso geltend macht, wie bei den Eingeborenen. Es ist hier eine allgemein anerkannte und zugestandene Thatsache, daß, wie überhaupt der Angelsachse in Amerika bekanntlich ein anderes Wesen geworden ist, als in der alten Heimath, sich seinem ganzen Charakter etwas Indianerhaftes aufgeprägt hat. Ich glaubte dies sogar zu bemerken, als ich vor einiger Zeit einem amerikanischen Damenkränzchen beiwohnte und die Bewegungen der tanzenden Damen beobachtete. Abgesehen von der Toilette, welche von der unserer europäischen Damen bei ähnlichen Gelegenheiten sehr differirt und eine gewisse phantastische, mehr durch Farbenzusammenstellung, als durch die Farben selbst getragene Düsterheit repräsentirte, war die Art des Tanzens eine von der unsrigen ganz verschiedene und mehr gleitende als hüpfende. Mit der eigenthümlichen, an den Amerikanerinnen so viel gerühmten Grazie ließen sie nicht blos die Füße, sondern den ganzen Körper an dem Tanze theilnehmen und bogen denselben rasch, aber leise und schlangenartig und unter fortwährendem Auf- und Niedergleiten zwischen ihren Tänzern hindurch, so als ob ein Indianer unhörbar das Lager seiner Feinde zu beschleichen im Begriffe sei. Daher auch Contretänze mit vielen Variationen, wobei jenes Biegen, Schmiegen und Schleichen möglich ist, hier viel beliebter sind als unsere Rundtänze, welche übrigens ebenfalls von den Amerikanerinnen zum Theil in jener eigenthümlichen Manier getanzt werden. Mit Sinnlichkeit hat diese Manier, wie man vielleicht denken könnte, nichts zu thun, da die Hinneigung der Frauen zu den Männern in Amerika, wenigstens in den zuerst von den Puritanern besiedelten sogenannten Neu-England-Staaten (zu denen man Connecticut, New-Hampshire, Rhode-Island, Massachusetts, Maine, Vermont rechnet) oder in der eigentlichen Heimath der sogenannten Yankees, bedeutend geringer sein soll, als in den meisten anderen Ländern, und da hier sehr über Unfruchtbarkeit der Ehen, wenigstens in den Städten, geklagt wird. Rechnet man dazu die in großen Städten leider immer mehr in Aufnahme kommende und von der Gerechtigkeitspflege nicht hinlänglich verfolgte Sitte künstlicher Unfruchtbarkeit, so kann man der angelsächsischen Race bei dem riesigen Wachsthume des Landes keine allzu glänzende Zukunft versprechen, und es wäre möglich, daß dieser eine Umstand hinreichen würde, um dieselbe mit der Zeit und im Laufe der Jahre dem fruchtbaren und obendrein durch fortwährende Einwanderung sich recrutirenden deutschen Elemente gegenüber in Nachtheil zu bringen. Doch ist dies eine Sache der Zukunft und schwer vorherzusagen.

Nebenbei gesagt, war die amerikanische Gesellschaft, in der obige Beobachtungen gemacht wurden, die einer religiösen Gemeinschaft, welche den radicalsten oder vorgeschrittensten Kirchen-Standpunkt repräsentirt, den es in New-York giebt. Die sonntägliche Andacht ist mehr eine philosophische, als eine religiöse und wird von Herren Frothingham geleitet, welcher sehr freisinnigen Ideen huldigt und nach dem berühmten Beecher für den besten Kirchenredner New-Yorks gilt. Die feingebildetsten Elemente der Stadt sollen zum Theil der Gemeinschaft angehören.

In der zweiten Hälfte des December las ich in Boston, welche Stadt durch ihr großartiges Brandunglück in den letzten Wochen die Aufmerksamkeit der halben Welt auf sich gezogen hat. Uebrigens verschwindet der ungefähr eine englische Quadratmeile große Brandplatz, welcher ein trostloses Bild der Verwüstung und Verwirrung darbietet, im Vergleich mit der Größe der sehr ausgedehnten Stadt, welche durch ihre unvergleichlich schöne Lage zwischen dem Meer und einer dasselbe in gewisser Entfernung begrenzenden sanften Hügelkette sich vor den meisten amerikanischen Städten auszeichnet. Dazu kommt, daß Boston als die älteste der amerikanischen Städte auch durch ihre Bauart einigermaßen an europäische Städte erinnert und sogar (eine in Amerika fast unerhörte Eigenthümlichkeit) einige krumme und enge Straßen aufzuweisen hat. Auch in geistiger Beziehung scheint Boston an der Spitze der amerikanischen Städte zu stehen und hat den Ehrennamen des amerikanischen Athen erhalten. Hier wirkt und lebt in der Vorstadt Cambridge der berühmte Agassiz, der Humboldt Amerika’s, welchen die Amerikaner wie eine Art wissenschaftlichen Herrgotts verehren, und dem sie ungeheure Summen für Reisen, wissenschaftliche Arbeiten, Anlegen von Sammlungen etc. zur Verfügung gestellt haben. Freilich hat er zum Danke dafür seine Wissenschaft dem amerikanischen Puritanismus anbequemt und geberdet sich als heftiger Gegner Darwin’s, Huxley’s etc. Daß es übrigens auch unter den hiesigen Amerikanern nicht an Widersachern des Puritanismus fehlt, beweist das Erscheinen eines sehr verbreiteten atheistischen Wochenblattes, des „Investigator“ (Untersucher), welches einen erfolgreichen Kampf gegen die kirchliche Richtung unterhält. Ueberhaupt scheint es, daß Boston unter allen amerikanischen Städten das Vorrecht habe, große Reform-Ideen zuerst zum Ausdruck zu bringen. Denn von hier ging zuerst die Revolution und der Befreiungskampf gegen England aus. Von hier wurde auch zuerst die große und später so erfolgreiche Abolitionistenbewegung oder die Bewegung zur Abschaffung der Sclaverei in Scene gesetzt. Die Männer, welche Boston und der Staat Massachusetts überhaupt in den Congreß nach Washington schicken, gehören in der Regel zu den intelligentesten und fortgeschrittensten Mitgliedern jener Körperschaft. So ist z. B. der berühmte Senator Sumner ein Bostoner Kind. Auch die für Amerika so wichtige Frauen- oder Frauen-Rechts-Bewegung hat ihren Hauptsitz in Boston, wo, wie überhaupt in den Neu-England-Staaten, eine große Menge unverheiratheter Damen leben, welche in allen möglichen Beschäftigungen Ersatz für das ihnen zweifelhaft erscheinende Glück der Ehe suchen und finden. So giebt es z. B. nicht weniger als zwanzig weibliche Aerzte in Boston, welchen es nicht an reichlicher Beschäftigung fehlt. Das von Fräulein Dr. Zakrzewska aus Berlin gegründete Hospital für Frauen und Kinder kann als eine wahre Musteranstalt dieser Art betrachtet werden und ist, abgesehen von seiner vortrefflichen Lage auf einer nach allen Seiten freien Bodenerhöhung, mit allen Einrichtungen modernster Art für Heizung, Lüftung, Abhaltung von Miasmen und dergleichen reichlich versehen. Diesem Hospital, sowie allen Anstalten ähnlicher Art kommt der in Amerika überhaupt, namentlich aber in Boston, in reichstem Maße vorhandene Wohlthätigkeitssinn sehr zu statten, und auch hierin stehen die Frauen überall in erster Linie. Es ist unglaublich, wie vieles hier für öffentliche Zwecke durch Privatthätigkeit geleistet wird, und dieses mag nicht wenig dazu beitragen, daß die Bostoner unendlich stolz auf ihre Stadt sind und dieselbe für die erste Stadt der Union erklären, während andere Städte, z. B. New-York, diese Rangstufe für sich in Anspruch nehmen.

Bei der Abneigung der New-Yorker gegen Boston spielen, neben politischen Gründen, vielleicht die im Staate Massachusetts besonders strengen Temperanz- oder Mäßigkeitsgesetze eine Rolle, obgleich in der Stadt Boston selbst, wie in den meisten größeren Städten, die Temperanzler bis jetzt nicht im Stande gewesen sind, ihre Grundsätze in gleicher Weise durchzusetzen, wie auf dem Lande und in kleineren Städten. Hier ist, wie fast in allen Neu-England-Staaten, jeder Genuß geistiger Getränke streng verboten, und können sogar solche Getränke, welche nur für das Haus bestimmt sind, auf öffentlicher Straße weggenommen werden. Dies schließt nun freilich eine arge Beschränkung der sonst in Amerika so außerordentlich hochgehaltenen und viel gepriesenen persönlichen Freiheit ein, verliert aber doch Vieles von seiner Auffälligkeit, wenn man die Sache in der Nähe betrachtet. So wenig man z. B. Temperanzgesetze in Deutschland nöthig hat oder dulden würde, so unentbehrlich scheinen dieselben für Amerika zu sein, da der Amerikaner eben ein ganz anderer Mensch ist, als der Deutsche, und im Genuß geistiger Getränke, wenn er denselben einmal angefangen hat, durchaus kein Maß zu alten versteht. Wie er im Leben und im Geschäft Alles mit Hast, Energie und Leidenschaft betreibt, so verfährt er auch im Trinken, und weiß, wenn einmal übermannt, seiner Natur keinen Zügel mehr anzulegen. Jener ruhige, behagliche und zugleich heitere Lebensgenuß, den man in Deutschland so hochschätzt und der nicht mit Unmäßigkeit verbunden zu sein braucht, ist in Amerika, wie es scheint, ein unbekanntes Ding, wenn auch das amerikanische Familienleben selbst sehr gelobt wird. Der amerikanische Charakter hat in seiner stark hervortretenden Eigenthümlichkeit ebenso starke

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_066.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)