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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


1827 vor dem Consistorium der Provinz Brandenburg das erste theologische Examen mit dem Prädicat „vorzüglich gut“, in Rücksicht worauf er von der zweiten theologischen Prüfung entbunden ward. Ein Jahr später erhielt er die Stelle als Prediger am Cadettenhause. Schleiermacher und Neander waren ihm Lehrer, Vorbilder und Freunde. Nach weiteren acht Jahren ward er 1836 als Hof- und Garnisonprediger nach Potsdam versetzt. Endlich trat er 1846 in diejenige Stellung, aus welcher ihn soeben das Consistorium vertreibt. Vom Berliner Magistrat berufen, erhielt er die Parochie der „Neuen Kirche“. Schon vorher war er durch das Vertrauen Friedrich Wilhelm’s des Vierten ausgezeichnet und als Mitglied einer Sachverständigen-Commission nach Schottland entsendet worden, um über den dortigen religiösen Zustand und die Bemühungen der anglikanischen Kirche um Erbauung von Kirchen und Errichtung geistlicher Stellen Kenntniß zu nehmen.

Dr. Sydow.

Ob er damals den Erwartungen des Königs entsprach? Kaum! Denn er faßte seine Erfahrungen in dem Satze zusammen, daß mit dem Kirchenbau zu warten wäre und es zunächst darauf ankomme, eine angemessene Kirchenverfassung herzustellen. Wirklich erhielt Sydow bald darauf Gelegenheit, seine Grundsätze in kirchenpolitischer Beziehung zu bethätigen. Er ward 1844 zur brandenburgischen Provinzialsynode abgeordnet und nahm an den wichtigen, leider erfolglosen Verhandlungen der Generalsynode von 1846 Theil. Hier gehörte er einer Commission an, welche die Aufgabe hatte, über die Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnißschriften zu berichten. Damals war die Ueberzeugung allgemein verbreitet, daß die Verpflichtung auf die Bekenntnisse im freien Sinne aufzufassen und auszudrücken sei, auch ging Sydow in der Geltendmachung dieses Grundsatzes etwas weiter als seine Gesinnungsgenossen.

Den Wendepunkt in Sydow’s äußerem Leben bezeichnet das Jahr 1848. In die preußische Verfassung ward der Grundsatz der Selbständigkeit und Freiheit der Kirche eingetragen. Aber in der Nähe des Hofes und in der unmittelbaren Umgebung des Königs nistete sich eine verderbliche Rechtgläubigkeit ein, welche lehrte, daß die Kirche den Staat aus seiner Erniedrigung erretten müsse, daß die königliche Gewalt nicht aus Gewohnheit, Geschichte, Vernunft und Verfassung, sondern aus dem mystischen Dunkel himmlischer Berufung „von Gottes Gnaden“ allein abstamme und deswegen an menschliche Satzungen nicht gebunden werden könne, daß die lebenden Geschlechter vor allem Buße zu thun hätten für den politischen Sündenfall im Jahre der Schande 1848. Friedrich Wilhelm der Vierte ward durch seine Hofgeistlichkeit dem Verständnisse seiner Zeit mehr und mehr entfremdet. Ueberall entstand jenes Einverständniß zwischen den Höfen und der Geistlichkeit, welches man ein Bündniß zwischen Altar und militärischem Standrecht nennen könnte. Die Staatsregierungen verfielen in Frömmelei; die Kirche ward von politischen Machtgelüsten erfaßt.

Der ehemalige Prediger der Cadetten und der Officiere, der Gewissensberather des Königs, stand am 22. März 1848 am Grabe Derer, die auf den Barricaden in Berlin gefallen, auf den Straßen verunglückt oder wehrlos niedergemacht worden waren. Vor jenen Särgen, die Friedrich Wilhelm der Vierte entblößten Hauptes voraustragen sah, die damals die Geistlichen aller Confessionen in brüderlicher Eintracht umstanden, hielt Sydow eine die Gemüther tief ergreifende Leichenrede. Er mußte aussprechen, daß der Vorhang vor dem Tempel des preußischen Absolutismus zerrissen war. In dem Urtheile des Consistoriums, welches aller Wahrscheinlichkeit nach auch von dem obersten Kirchenherrn, dem König, gelesen werden wird, sind in leicht erkennbarer Absicht auch diese Erinnerungen aus Sydow’s Leben berichtet worden: „In dem Inhalte und in der Fassung wohlüberlegter Rede konnte er aussprechen, daß sie, welche im Straßenkampfe gegen die Obrigkeit und den Landesherrn den Tod gefunden hatten, gefallen sind für die Zukunft eines in Gottesfurcht, Verstand und Sitte zur Freiheit gereiften Volkes, daß sie mit ihrem Blute uns, den Ueberlebenden, die erhabensten Güter versiegelt haben, für die das Leben des Menschen kein zu hoher Preis ist.“

Sydow stand damals auf der Höhe der Beliebtheit. Aus einem Hofprediger war er ein Volksredner geworden. Aber wie er die Gunst eines Königs dahingab, um die Todten des Volkes zu ehren, so war er auch innerlich völlig entfernt davon, um die Gunst der Menge zu buhlen. Zwar ward er in die Nationalversammlung gewählt, um die preußische Verfassung mit der Krone zu vereinbaren. Seine politische Wirksamkeit war indessen weder von längerer Dauer noch von größerer Bedeutung. Er schied bald vom politischen Kampfplatze; denn er erkannte bald, daß seine milde, stets zur Versöhnung geneigte Natur keinen Platz fand in der Kluft, die sich damals aufthat zwischen einem auf die Revolution ständig zählenden Radicalismus und einer der Finsterniß zugewandten Reaction. Sydow war frei von jener Eitelkeit, eine politische Rolle spielen zu wollen, und hat sich sicherlich manche Enttäuschung erspart, als er sich in der Erkenntnis seiner selbst auf andere Thätigkeitsgebiete zurückzog.

Was Sydow seit 1850 gewirkt hat, ist nicht leicht zusammenzufassen. In der Kürze dies: Er fehlte bei keiner Gelegenheit, wenn es galt, die der evangelischen Kirche vom König verheißenen und in die Verfassung eingetragenen Selbstständigkeitsrechte zu fordern, den Feinden der evangelischen Religion entgegenzutreten und die Regierung von dem Wege abzumahnen, den sie 1850 mit der Einsetzung des Oberkirchenrathes beschritten hatte. Wie viele ehemals freisinnige Geistliche verstummten oder fielen ab, als 1850 der Sieg der kirchlichen und politischen Reaction in Berlin entschieden war! Es kam die Zeit, in der man Schleiermacher verhöhnte und die menschliche Vernunft als sogenannten „Aufkläricht“ verspottete. In solcher Zeit auf einem anscheinend hoffnungslosen Posten ausharren, ist die That des Leidens. In Verbindung mit Jonas, Krause, Eltester und einigen anderen wackeren Männern hielt Sydow die Fahne der Gewissensfreiheit hoch empor. Freudig theilte er den Aufschwung, den das Regentschaftsprogramm 1858 hervorrief, bis dann nochmals jene fast unbegreifliche kirchliche Umwendung eintrat, die sich an den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_084.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)