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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Namen des Herrn von Mühler knüpft. Selbst das Consistorium erkennt an, daß Sydow sich mit besonderer Hingebung und Treue dem Gustav-Adolphs-Vereine gewidmet habe.

Dieselben Männer, die Sydow absetzten, sagen in ihren Urtheilsgründen: „Dr. Sydow beruft sich auf die vielen ehrenden Zeugnisse der Liebe, der Zustimmung und des Vertrauens, welche ihm auch nach der Veröffentlichung seines Vortrags zugegangen sind. Es soll dies nicht bezweifelt, vielmehr anerkannt werden, daß er durch sein freundliches, heiter-gemüthliches und wohlwollendes Wesen, seine vielseitige humanistische und auf das Sittliche gerichtete Bildung, bei einer reichen natürlichen Begabung, welche er nur nicht zu theologischen Studien genügend verwendet hat (obwohl die Facultät von Jena ihm die theologische Doctorwürde verlieh!), und ebenso durch seinen rechtschaffenen, anständigen und mit würdiger Repräsentation geführten Wandel sich in ausgedehnten Lebenskreisen große persönliche Achtung und herzliche und dankbare Zuneigung erworben hat. Diese guten und liebenswerthen Eigenschaften müssen für ihn die menschliche Theilnahme kräftig erregen; sie reichen aber nicht aus und bestimmen nicht die Befähigung und Würdigkeit zum geistlichen Amte in der evangelischen Kirche.“

Weswegen ist nun Sydow abgesetzt worden? Weil er, außerhalb seiner Gemeinde, am 12. Januar 1872 im Saale des Berliner Rathhauses im Berliner Protestantenvereine, zu dessen Vorstandsmitgliedern er gehört, einen Vortrag über die wunderbare Geburt Christi gehalten und darin gegen die nach der Meinung des Consistoriums fundamentale Wahrheit verstoßen hat, welche in den Worten des Glaubensbekenntnisses ausgedrückt ist: „Empfangen vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.“ Sydow suchte in diesem Vortrage aus der Schrift selbst nachzuweisen, daß die jüdische Vorstellung der Gottessohnschaft oder Messianität eine völlig andere gewesen sei als die später aufgekommene christliche Lehre, die Jesus eine Person in der Trinität sein läßt, und daß im Neuen Testamente selbst an den entscheidenden Stellen Jesus als Joseph’s Sohn bezeichnet werde, also auch in natürlicher Ordnung der Dinge entstanden sei, wobei seine einzigartige Begabung allerdings feststehe. Sydow bezeichnet sich selbst als Monarchianer, d. h. als einen Theologen, der an strenger Einheit Gottes festhält und die erst spät abgeschlossene, Jahrhunderte hindurch streitig gewesene Lehre von der Dreieinigkeit verwirft.

Die Aufregung, welche dieser Vortrag hervorrief, war sehr bedeutend. Alle freisinnigen Protestanten in Berlin waren freudig bewegt durch die entschiedene Offenheit, welche in Sydow’s Erklärungen lag; die strenggläubigen zeterten in der „Kreuzzeitung“ und in den theologischen Fachzeitschriften; sie waren der Zuversicht, daß ihnen ein Schlachtopfer dargebracht werden müsse.

Am 14. März 1872 erfolgte Sydow’s Vernehmung vor dem Consistorium, wobei theils der Vorsitzende, theils der Generalsuperintendent Dr. Brückner als Inquirenten thätig waren. Die Fragen, auf welche sich der Angeschuldigte zu erklären hatte, waren diese: 1) Erkennen Sie eine Einwirkung des heiligen Geistes blos auf die menschliche, persönliche, insbesondere die sittliche Entwickelung Jesu oder auch eine solche auf seine menschliche Entstehung an? 2) In welchem Sinne bekennen Sie Christum als den Sohn des lebendigen Gottes? 3) In wie weit gestehen Sie die normative Auctorität der heiligen Schrift des Neuen Testamentes zu? 4) Wie verhalten Sie sich solchen von Ihnen bestrittenen Punkten des Glaubensbekenntnisses gegenüber in Predigt und Confirmandenunterricht?

Sydow hält in seinen Antworten an dem hohen Bilde der Persönlichkeit Jesu fest, beharrt aber in seinen Ausführungen bei seiner Ueberzeugung von der menschlichen Entstehung Christi als des Sohnes Joseph’s und der Maria. Auf den Einwurf, daß er doch das apostolische Glaubensbekenntniß in seinem Amte bekennen müsse, erwidert Sydow: „Bekennen? Ich muß es lesen“ und führt dabei weiter aus, daß der einzelne Geistliche sich derartigen Vorschriften nicht widersetzen könne. Noch weiter auf die geistvollen Auseinandersetzungen Sydow’s hier einzugehen, fehlt uns der Raum. Wir verweisen deshalb nochmals auf das Vernehmungsprotocoll, in welchem Sydow’s Antworten niedergelegt sind. Es macht den Eindruck, als ob Sydow dem Consistorium Confirmandenunterricht ertheilte. Klar, bestimmt, schneidend vorwurfsvoll sind seine Antworten. Gegen den Vorwurf, das Ordinationsgelübde gebrochen zu haben, sagt er würdevoll:

„Als ich mich durch das Ordinationsgelübde verpflichtet habe, bei meinem Amtsantritte, bestanden andere Auffassungen. Daß jeweilig Sie einen andern Standpunkt einnehmen, kann aber in der Sache nichts ändern. Auch ich hätte mich den Veränderungen anbequemen können, wenn mich Orden und äußere Vortheile gelockt hätten. Aber Ueberzeugung und Treue haben mir eine Aenderung meines Standpunktes unmöglich gemacht. Ich habe die Ueberzeugung, daß die evangelische Kirche seit einem Menschenalter mißregiert wird.“

Das Urtheil des Consistoriums spricht die Absetzung deßwegen aus, weil Sydow durch öffentliche Angriffe gegen die Grundlagen der christlichen Lehre, wie sie in der heiligen Schrift geoffenbart und in den allgemeinen christlichen Glaubensbekenntnissen, sowie in der Augsburgischen Confession der evangelischen Kirche bezeugt ist, seine Amtspflichten als evangelischer Geistlicher wesentlich und schwer verletzt hat.

Es ist berechtigt, zu fragen, wer die Richter Sydow’s gewesen sind. Nach glaubhaften widerspruchslos gebliebenen Mittheilungen der öffentlichen Blätter haben vier Mitglieder des Consistoriums für Freisprechung gestimmt; es waren dies die beiden wissenschaftlich hervorragenden und die beiden juristisch gebildeten Mitglieder: Probst Dr. Brückner, Professor Dr. Semisch, Graf von Unruh, Consistorialrath Schmidt. Mit einer Stimme Mehrheit verurtheilten fünf Beisitzer den Angeklagten, nachdem ein Versuch, ihn zur Emeritirung zu bewegen, an Sydow’s Festigkeit gescheitert war.

Diese fünf Mitglieder verdienen der völligen Unbekanntschaft entrissen zu werden, der sie sich bisher erfreut haben. Der Präsident des Consistoriums ist der Träger eines der berühmtesten Namen, der Sohn Hegel’s. Er ist so fest im Glauben, daß die Darwinsche Descendenztheorie angesichts seiner in’s Stocken gerathen muß; vergleicht man ihn seinem Vater, so muß man sagen, daß seine Abstammung zwar kein biblisches, wohl aber ein anderes Wunder ist. Zweitens: der Rede mächtig ist der Generalsuperintendent Büchsel; er fesselt die vornehme, der Buße und Gnade besonders bedürftige Berliner Welt durch seine körnige, mit munteren Anekdoten gewürzten Predigten und durch die tatentvolle Art seiner Kirchenzucht; sein Einfluß ist groß, seine Befähigung anerkannt; unter den Gegnern der freisinnigen Theologie ragt er entschieden hervor. Als Dritter erscheint Consistorialrath Bachmann. Von seinen Liebhabereien kennt man in Berlin diejenige für saftreiche Gesangbuchpoesie. Er verfaßte den Entwurf eines neuen Gesangbuches, welches die Kirchenliedermumien des siebenzehnten Jahrhunderts enthielt und die Entrüstung vieler Berliner Gemeinden hervorrief. Von zwei andern Mitgliedern der Majorität weiß man nur die Namen; es sind die beiden Prediger Stahn und Souchon.

Zwischen der Absetzung Sydow’s und dem Richterspruch gegen Twesten besteht die Aehnlichkeit, daß in beiden Fällen eine Stimme Majorität entschied und daß man die Namen der für Freisprechung Stimmenden sehr bald erfahren hat. Es ist das immer ein Zeichen, daß die Ueberzeugungen von Recht und Unrecht sich schroff gegenüberstanden und daß die Ueberstimmten die Verpflichtung fühlen, sich von der Verantwortlichkeit für das Geschehene in der Oeffentlichkeit loszusagen.

Auch dem ungerechten Richterspruch fehlt es nicht an Gesetzes-Paragraphen. Aber wenn man auch hundert Gesetzesstellen anzuführen vermöchte, sie wären nicht ausreichend, die Gewissen evangelischer Christen darüber zu beruhigen, daß ein Geistlicher nach einem musterhaft geführten Leben, im hohen Alter, seines Amtes entsetzt wird, obwohl er in seiner Gemeinde geehrt und geliebt dasteht, lediglich weil er Ueberzeugungen festgehalten hat und aussprach, die in seiner Jugend auf den Universitäten gelehrt wurden und heute in die Denkweise der zumeist Gebildeten übergegangen sind. Wenn das Christentum wirklich an Ketzergerichte, Concilienbeschlüsse, veraltete Glaubensbekenntnisse und Consistorialregierung untrennbar gebunden wäre, so würden wir glauben, daß wir dereinst noch das Grabgeläute desselben vernehmen könnten. Deutschland hat zu viel geschichtlichen Sinn und zu große Pietät für die Vergangenheit, als daß es Denjenigen, die an alterthümlichen Glaubensvorstellungen hängen, jemals die Erbauung ihrer Herzen verkümmern möchte. Aber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_086.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)