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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


auf. Von jenem denkwürdigen Tage an ist im Jesuitengebäude zu Bonn der Staub im ungestörten Besitze des Secundaschrankes geblieben, und kein Gymnasiastenrock hat ihn je wieder weggefegt.

Eine schöne Sitte bestand an unserer Schule; es waren die sogenannten Excursionen, für welche man regelmäßig einen oder zwei helle Sommertage bestimmte. In der Regel wurden dazu je zwei Classenlehrer vereinigt. In Begleitung mehrerer Classenlehrer ging es hinaus in’s schöne Rheinland, auf’s Siebengebirge, in das stille Waldthal von Heisterbach oder durch die vordere Eiffel in das felsendüstere Thal der Ahr. Hier schlossen sich im Wandern die innigsten Schulfreundschaften, und auch die Lehrer, die an diesen Tagen vertraulich mit uns plauderten, umfaßten wir mit doppelter Herzlichkeit. Allerdings gab es für jene dabei immer einige Verantwortlichkeit und zuweilen auch Verdruß; ein paar Jungen verliefen sich und waren nicht wiederzufinden, oder es blieb eine Gesellschaft loser Vögel in irgend einer Schenke kleben und kam mit einem Spitz zur Colonne zurück, oder der erhitzte Schwarm fiel unaufhaltsam über kaltes Brunnenwasser her. Aus solchen und ähnlichen Gründen, denke ich, ist später dieser Brauch in Vergessenheit gerathen; ich selbst aber habe ihn als Schüler noch mehrmals zu meinem höchsten Vergnügen mitgemacht. Besonders eine zweitägige Fahrt nach Altenahr, wo wir die Nacht auf einem gemeinsamen Strohlager campirten und in der Finsterniß die verrücktesten Eulenspiegeleien aufstellten, hat sich tief in meine Erinnerung gegraben; an sie schloß sich nämlich ein erster Versuch zu einem längern Gedichte, wovon ich hernach erzählen will.

Ich verdanke also meinen Lehrern an dieser Schule sehr Vieles; allein ich will auch nicht leugnen, daß unser Gymnasium an denselben Fehlern litt, die alle gelehrten Schulen Deutschlands an sich haben. Diese Fehler sind nicht so sehr Schuld der Lehrer wie des Systems, das so lange von Staatswegen befolgt worden ist. Am auffallendsten war mir, als ich später tiefer in die Wissenschaft eindrang, der Schlendrian, womit namentlich die älteren Lehrer auf Wegen uns fortstolpern ließen, die längst von der Forschung als unbrauchbar verschüttet waren. Grimm’s deutsche Grammatik war doch schon zehn Jahre erschienen, als unsere sämmtlichen Deutschlehrer in sie noch keinen Blick gethan hatten. Zu den schönsten und charakterfrischesten Eigenschaften unserer Sprache gehört die starke Flexion so vieler Zeitwörter; unserm Director aber, der in Secunda Deutsch gab, war sie ein Dorn im Auge, und er meinte, es sei richtiger, „ich haute“ als „ich hieb“ zu sagen, weil letzteres ja eine Unregelmäßigkeit sei! So schrieb und druckte er auch überall „Zeichnenclasse“ und „Zeichnenunterricht“, obwohl er freilich nicht „Schreibenstube“, sondern „Schreibstube“ sagte. Statt dem Unterricht eine vernünftige Grammatik zu Grunde zu legen, quälte man uns ein Jahr lang mit der allerlangweiligsten Satzlehre.

Von deutscher Literatur haben wir vollends keine Ahnung bekommen. Das Nibelungenlied war damals schon seit fünfzig Jahren wieder auf der Welt; wir lasen auf der Schule den ganzen Homer und den halben Virgil durch, aber von dem ebenbürtigen Epos, das unseres Volkes Stolz ist, haben wir dort auch nicht ein einziges Mal nur den Namen aussprechen hören. Das ist freilich stark, allein ob es jetzt auf vielen höheren Schulen besser steht? Ich denke nicht, denn das Uebel sitzt zu tief in der Universitätsbildung unserer Philologen. Die deutsche Sprache und Literatur ist das Stiefkind unserer examinirenden Professoren, und da sie selber davon nichts verstehen, fordern sie von künftigen Jugendlehrern in diesem Fache keine Gründlichkeit. Der Student aber, wenigstens der vom gewöhnlichen Schlage, hört und lernt nur die Fächer, in denen er geprüft wird, und kommt so als ein Gelehrter in den alten Sprachen, als ein Barbar in seiner Muttersprache an die Jugend heran, die er bilden soll. Das Lehrercollegium theilt den deutschen Unterricht wie eine unbequeme Last unter sich und schlägt mit Stilübungen, Declination und Durchmachen einer der ungründlichsten Grammatiken die dafür bestimmten Stunden todt. Daß gar der Schüler in die lebende Literatur eingeführt, daß sein Sinn auf das Gediegene und Haltbare derselben gerichtet würde, davon ist vollends keine Rede und auch hier gehen die Universitäten mit erbärmlichem Beispiel vorauf. Unser ganzer Schulunterricht hinkt hinter dem Leben her. Wer wagt denn noch mit ernsthafter Miene Ramler’s oder Gleim’s politische Gedichte mit Herwegh, Freiligrath oder auch nur mit Geibel zu vergleichen? Wer leugnet, daß ein Capitel in Heine’s Wintermärchen sämmtliche Bände von Rabener’s Satiren in die Höhe schnellt? Oder wird nicht Alles, was Geßner gelaicht hat, von dem einen Bodensee-Idyll Mörike’s in farbloses Gallert umgesetzt? Und doch stehen Ramler, Rabener und Geßner unwandelbar in den gebräuxten Collegienheften unserer Universitätsprofessoren, deren letzte Pagina die Namen der Gebrüder Schlegel trägt. So geht es freilich unsern Gelehrten in allen andern Artikeln auch, und dies ist schuld daran, daß das Leben der Gebildeten und des Volkes längst über unser Universitätsniveau hinausgewachsen ist. Wenn man ästhetische und literarische Rohheit aufsuchen will, braucht man in Bonn keine Laterne anzuzünden.

Ueberhaupt mangelte in unserm Unterricht das Verständniß des Schönen und Künstlerischen vollständig. Niemals hat man uns in der Geschichte auf die Fortschritte der Dichtung oder der bildenden Künste aufmerksam gemacht, nie ein modernes Gedicht mit uns gelesen oder eine der tiefern Tragödien Goethe’s erläutert. Das Geringste, was man doch wohl auch von einem gebildeten Frauenzimmer verlangt, ist Kenntniß der Dichtungsarten; uns, die künftigen Gelehrten, hat Niemand darin unterrichtet, was ein Sonett sei, und doch ist dies für Jedermann wichtiger, als horazische Versmaße, wie wir mußten, nachrechnen zu können. Von Kenntniß der eigentlich deutschen Metrik war natürlich niemals die Rede.

Gewiß die gründlichste Seite unserer Schulbildung war die Einführung in’s classische Alterthum. Allein, daß uns dasselbe heimisch und theuer geworden wäre, daran fehlte doch noch viel. Die Sprachkenntnisse galten zu sehr als Hauptsache, der tiefe Lebensgehalt des Alterthums wurde uns nicht enthüllt. Es durfte freilich nicht sein; denn über das Alterthum kann man keinem Jüngling die Augen öffnen, ohne ihm zugleich die Wurzel jener unvergleichlichen Geistesgröße in der republikanischen Staatsform aufzudecken – und welcher Lehrer hätte das vor der Julirevolution gewagt? Weil aber das uns fehlte, verstanden wir auch die antiken Sitten nicht und nahmen an all jenem Geisterkampf keinen Antheil vom Herzen aus; ja selbst die Schriftsteller der Kaiserzeit ließen uns kalt. Den Höhepunkt hellenischer Kunstpoesie erstiegen wir niemals, denn nicht eine einzige jener unsterblichen Tragödien des Aeschylus oder Sophokles haben wir auf der Schule vorgenommen. Die Oden des Horaz lasen wir gerne; aber die Satiren, in denen er gerade so überaus fein und eigenthümlich ist, waren uns zum Ekel. Cicero’s Reden, die ich jetzt mit Erstaunen studire, galten uns damals nur als ein Magazin für schöne Phrasen, mit denen wir unsere lateinischen Aufsätze aufstutzten. Hätte man uns aber ein farbenklares Bild davon gegeben, wie die römische Republik daran unterging, daß sie den reformirenden Socialismus in den Gracchen erstickte, dann später die Verzweiflung des Proletariats in Catilina, Spartacus und den Seeräubern krampfhaft sich zu Tode zuckte, wie Clodius sterben mußte, weil er den Riesengedanken einer gesetzlichen Sclavenemancipation in tollkühner Seele trug – dann hätten wir auch in Cicero den antiken Thiers begriffen und seine catilinarischen Reden oder die Vertheidigung von des Clodius Meuchelmörder Milo mit Verachtung und zornfunkelndem Auge gelesen!

Nun aber hat erst eigene Erfahrung mich die Alten lieben gelehrt. Den Horaz verstand ich zum ersten Mal in seinem Tibur selbst

„an der Albuner hallender Grotte“ –

den Ovid in seinen Liebesgedichten, als ich ebenfalls in leidenschaftlos-behaglicher Liebe ausruhte, den Virgil aber, den ernsten, geduldigen Tröster bei jugendlichem Tode, als ich im Kerker vom Zorn meiner Sieger die tödtliche Kugel erwartete, die mich auf der Höhe meiner Kraft fällen sollte.

Sind wir Jünglinge aber dafür desto bewußter in die moderne Welt eingeführt worden? Ach, in dieser war ich vollständig blind, als ich die Universität bezog! Denn um in ihr heimisch zu werden, bedarf es der modernen Geschichte, welche die Grundlage jeder vernünftigen Politik sein muß. Diese aber war und ist vom Schulunterricht streng ausgeschlossen. Die Schule führt den Jüngling nur bis zum dreißigjährigen Kriege, also an die Schwelle der eigentlich unser zu nennenden Welt. Von da erheben sich die großen Revolutionen modernen Charakters: die englische, die amerikanische, die französische und die beginnende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_098.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)