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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Frau zuckte wieder die Ahnung empor, die sie schon vorhin im Walde überkam, als er sich so plötzlich von ihr wandte, der Argwohn, als habe der Vater mit seiner Erziehung hier viel, unendlich viel verschuldet und zerstört, mehr als er je verantworten, mehr als er je wieder gut machen konnte.

Sie standen beide einsam da oben auf der Höhe. Im Nebelschleier lag der Wald da, dicht umflort von den grauen Schatten, die sich bald fest an die dunklen Tannen klammerten, bald in flatternden Streifen an ihren Wipfeln hingen, bald gespenstig über den Boden hinschwebten. Und die gleichen Nebelschleier schwebten und flatterten auch über dem Gebirge drüben, bald zerreißend, bald sich zusammenballend, um die dunklen Gipfel und in den dampfenden Thälern. Es war ein Wallen und Wogen ohne Ende, ein Sinken und Steigen, jetzt als wollten Berge und Wälder sich aufthun in ihren fernsten Tiefen, jetzt als wollten sie sich verschließen vor jedem Menschenauge. Ringsum brauste der Sturm und wühlte in den hundertjährigen Tannen wie in einem Kornfelde; ächzend schwankten die mächtigen Stämme auf und nieder; sausend bogen sich die Wipfel, und über ihnen dahin jagten die grauen Wolken, gährende, gestaltlose Massen, in wilder regelloser Flucht. Es war ein Unwetter, wie nur je eins im Schooße des Gebirges emporstieg, und doch waren es Frühlingsstürme, die da oben brausten! Auf diesen sausenden Schwingen kam der Frühling gezogen, nicht sonnig lächelnd wie drunten in der Ebene; hier kam er rauh, wild und gewaltsam, aber es war doch sein Athem, der in diesem Sturme wehte, sein Ruf, der aus diesem Brausen klang. Es liegt etwas in dem Wesen der Frühlingsstürme, wie eine Verheißung all’ des Sonnenglanzes und Blüthenduftes, der sich nun bald über die Erde ausgießen wird, wie eine Ahnung all’ des mächtig schaffenden Lebens, das schon seine tausend Keime empor zum Lichte ringt. Und sie hörten den Ruf und antworteten ihm, die brausenden Wälder, die stürzenden Bäche und dampfenden Thäler. In diesem Brausen und Schäumen und Toben, da klang doch nur das Aufjauchzen der Natur, die nun endlich die letzten Fesseln des Winters abwarf, klang ihr Jubelruf, mit dem sie den nahenden Retter begrüßte: Der Frühling kommt!

Es ist etwas Geheimnißvolles, solch eine Frühlingsstunde, und die Sagen des Gebirges leihen ihr einen eigenen, romantischen Zauber. Sie erzählen von dem Berggeiste, der dann durch sein Reich hinschreitet und dessen Macht in einer solchen Stunde auch segnend oder verheerend in das Leben der Menschen tritt, die in diesem Reiche weilen. Was sich da findet, das gehört zusammen für immer, und was sich da trennt, das trennt sich für alle Ewigkeit. Sie brauchten sich freilich nicht erst zu finden, die Beiden auf der Höhe da oben; sie waren verbunden durch das festeste Band, das zwei Menschen nur einigen kann, und doch standen sie sich so fern, und doch waren sie einander so fremd, als lägen Welten zwischen ihnen. Das Stillschweigen hatte bereits eine geraume Zeit gedauert. Eugenie brach es zuerst.

„Arthur!“

Er schreckte wie erwachend auf und wandte sich zu ihr.

„Du wünschest?“

„Es ist so kalt hier oben – willst Du mir jetzt nicht – Deinen Mantel leihen?“

Wie vorhin stieg wieder eine helle Röthe auf in dem Antlitz des jungen Mannes, als er sie in sprachloser Verwunderung anblickte. Er wußte, daß die stolze Frau lieber erstarrt wäre in dem eisigen Winde, als daß sie sich herabgelassen hätte, um die einmal verschmähte Hülle zu bitten, und dennoch that sie es jetzt in diesem stockenden Tone, mit diesen niedergeschlagenen Augen, mit denen man ein begangenes Unrecht eingesteht. In der nächsten Minute schon stand er neben ihr und bot ihr den Mantel hin. Sie ließ es schweigend geschehen, daß er ihn um ihre Schultern legte; aber als er nun wieder an seinen Platz zurückkehren wollte, traf ihn ein Blick stummen, ernsten Vorwurfs. Arthur schien noch eine Secunde lang zu zögern; aber hatte sie nicht etwas gethan, das beinahe einer Abbitte glich? Er ließ gleichfalls seinen Trotz fahren und blieb an ihrer Seite.

Aus dem Thale war eine Nebelwand aufgestiegen und lagerte jetzt so dicht um die Beiden, als wollte sie dieselben festhalten an diesem Orte. Berge und Wälder verschwanden in dem grauen Dunst; nur die Tanne ragte mächtig daraus empor und blickte ernst nieder auf die zwei Menschen, die sich in ihren Schutz geflüchtet. Ueber ihnen rauschten und wehten die dunklen Zweige wie mit tausend seltsamen geheimnißvollen Stimmen, und dazwischen brausten die volleren Accorde des Waldes – es war so angstvoll beklemmend in diesem Nebel, unter diesem Wehen und Rauschen. Eugenie fuhr plötzlich auf, als müsse sie sich einer Gefahr entreißen, die sie umstrickt hielt.

„Der Nebel wird immer dichter,“ sagte sie gepreßt, „und das Wetter immer unheimlicher! Glaubst Du, daß irgend eine Gefahr für uns auf diesem Wege vorhanden ist?“

Arthur blickte in die wogende Dunstmasse und strich sich mit der Hand die Tropfen aus dem feuchten Haar.

„Ich kenne unsere Berge nicht genug, um zu wissen, in wieweit ihre Stürme gefährlich werden können. Und wenn es nun der Fall wäre, würdest Du Dich fürchten?“

„Ich bin nicht furchtsam, und doch zagt man immer, wo es sich um das Leben handelt.“

„Immer? Ich dächte, das Leben, das wir in diesen vier Wochen geführt haben, wäre nicht derart gewesen, daß man zittern müßte, es auf’s Spiel zu setzen, zumal für Dich nicht!“

Die junge Frau senkte das Auge. „Ich bin Dir, so viel ich weiß, noch mit keiner Klage lästig gefallen,“ erwiderte sie leise.

„O nein! Ueber Deine Lippen kommt gewiß keine Klage. Wenn Du nur so gut wie die Klagen der Lippen auch die Blässe der Wangen zurück zwingen könntest! Du thätest es sicher, aber daran scheitert selbst Deine Willenskraft. Glaubst Du, daß es mir so große Freude macht, zu sehen, wie mein Weib sich an meiner Seite schweigend verblutet, weil das Schicksal sie nun einmal an diese Seite gezwungen hat?“

Jetzt war es Eugenie, die tief und glühend erröthete; aber es war nicht der Vorwurf in seinen Worten, der diese Gluth auf ihre Wangen rief, nur der seltsame Ausdruck, den er zum ersten Male ihr gegenüber gebrauchte. „Mein Weib!“ hatte er gesagt. Ja freilich, sie war ihm angetraut, aber es war ihr noch niemals eingefallen, daß er ein Recht haben konnte, sie „sein Weib“ zu nennen.

„Weshalb berührst Du denn jetzt diesen Punkt wieder?“ fragte sie sich abwendend. „Ich hoffte, es sei mit jener ersten nothwendigen Erklärung zwischen uns für immer abgethan.“

„Weil Du Dich in dem Irrthume zu befinden scheinst, ich wolle Dich zeitlebens in den Fesseln halten, die mir wahrlich so drückend sind, wie sie Dir nur je waren.“

Der Ton klang eisig kalt, und doch blickte Eugenie rasch zu ihm auf, aber sie vermochte nicht das Geringste in seinem Gesichte zu lesen. Warum verschleierten sich denn diese Augen immer wieder, sobald sie es versuchte, darin zu forschen? Wollten sie ihr nicht Rede stehen oder fürchteten sie sich davor?

„Du sprichst von einer – Trennung?“

„Meinst Du, ich hätte eine dauernde Ehe zwischen uns für möglich gehalten nach jenen Ausdrücken von Hochachtung, die ich am ersten Abende aus Deinem Munde hören mußte?“

Eugenie schwieg. Ueber ihrem Haupte rauschten und wehten wieder die grünen Tannenarme; die Waldesstimme drang mahnend und warnend herab zu den Gatten, die eben im Begriff standen, das Trennungswort auszusprechen, denn Keiner von Beiden wollte die Warnung verstehen.


(Fortsetzung folgt.)




Ein Sänger von Gottesgnaden.


Es giebt ganze Sänger, dazu aber nur halbe Schauspieler. Es giebt ganze Schauspieler, dazu aber nur halbe Sänger. Endlich giebt es auch ganze Sänger und ganze Schauspieler. Der letzten Art einer ist der Leipziger Sänger und Schauspieler Eugen Gura.

Eugen Gura, dessen treues Bild die Gartenlaube bringt, ist seit zwei Jahren als erster Baritonist am Leipziger Stadttheater angestellt, „ein Sänger von Gottesgnaden“, wie ihn zuerst Andere, nicht ich, genannt haben, welche Bezeichnung ich aber vollständig acceptire, wie gewiß Alle, die seine Leistungen kennen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_108.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)