Seite:Die Gartenlaube (1873) 110.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


wo er gehört worden, sein Vortrag der Lieder und Balladen gerühmt. – „In ihm begrüßten wir einen Rivalen Stockhausen’s, und das will viel sagen,“ heißt es in einem andern Bericht aus derselben Stadt.

Hierzu noch einige ergänzende Bemerkungen. Man ersieht aus dem mitgetheilten Rollenverzeichniß zunächst, daß unserem dramatischen Sänger Aufgaben von der größten Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zufallen. Er tritt in tragischen, hochleidenschaftlichen und dämonischen Partien auf, nicht weniger in heiteren, graziösen, humoristischen, und zwar in deutschen, französischen und italienischen Opern. Allen diesen Aufgaben wird er in gleich vorzüglicher Weise gerecht; das vermögen aber nur die Künstler, welche ihre Subjectivität zu verleugnen und sich in jede fremde Person, die ihnen der Dichter vorzeichnet, zu verwandeln verstehen, nämlich die objectiven Schauspieler. Darauf war und ist Gura’s Streben von Anfang seiner theatralischen Laufbahn an mit allen Sinnen gerichtet; und diesem Streben kam ein höchst glücklicher Umstand erleichternd zu Hülfe. Gura hatte sich früher der Malerei gewidmet; er studirte drei Jahre auf der Münchener Akademie und mit solchem Ernst und Fleiß, daß er auch in diesem Fach als ein tüchtiger Meister hervorging. Sein reiches Album trefflicher Genre- und Charakterbilder liefert einen interessanten Beweis dafür. Der Historien- und Genremaler aber ist vor Allem auf die schärfste Beobachtung des Menschen in allen seinen verschiedenen Gestalten, Trachten, Handlungen und Charakteren angewiesen, und wie sich deren innere Empfindungen durch äußere Zeichen ankündigen. Hieraus erklärt sich Gura’s überaus mannigfaltiges Gestenspiel und seine nüancenreiche Mimik, die überall dem Charakter und der Situation naturgetreu nachgebildet sind.

Als einen besonderen Vorzug betrachte ich Eugen Gura’s sorgfältige Beachtung und Ausarbeitung des stummen Spiels. Im wirklichen Leben bleibt das niemals aus, auf der Bühne nur gar zu oft. Es giebt viele Mimen, die nur agiren zu müssen glauben, so lange sie reden, aber ganz gemüthlich ruhen, sobald Andere sprechen. Man hört und sieht ja nicht mehr auf dich, wenn Andere reden und handeln, denken solche Leutchen, was sollst du dir vergebliche Mühe mit einem besonderen stummen Spiele machen? Mag aber die Kette der leidenschaftlichen Momente äußerlich durch die Reden Anderer unterbrochen werden, im Innern jeder Person läuft sie ununterbrochen fort, und wenn die Zunge schweigen muß, reden die Mienen und Bewegungen des Körpers und der Glieder weiter. – Wie Gura überall nach objectiver Wahrheit strebt und nach den Lehren Hamlet’s „die Gebehrde zu den Worten und die Worte zur Gebehrde passen läßt“, so thut er dieses nicht blos zu seinen Worten, sondern auch zu den Worten und Gebehrden der Mithandelnden und Redenden. Hierdurch gewinnen seine Darstellungen jene durchgängige Harmonie, d. h. jene Einheit der Gestalt und des Charakters, sowie jene objective Eigenthümlichkeit, wodurch sich jede seiner Rollen von der anderen scharf abscheidet.

Freilich hat es die Natur mit Gura ganz besonders gut gemeint. Sie hat ihm eine reiche Einbildungskraft, ein leicht erregbares Gemüth, einen scharfen Verstand und dazu eine männlich schöne, kräftige Gestalt verliehen, endlich ein Antlitz, – nun, das haben ja die Leser und Leserinnen der Gartenlaube jetzt in einem ganz vortrefflich gelungenen, treuesten Abbilde vor Augen, und ich glaube, daß Niemand unter den Millionen, die es betrachten, ihm Geist und Liebenswürdigkeit absprechen wird.

Eben nun, als ich zum Schluß die Lebens- und Bildungsgeschichte unseres Künstlers zu skizziren mich anschicke, fällt mir noch ein Gedanke ein, den ich nicht zurückhalten will. Wie viele Theatergänger haben wohl schon einmal daran gedacht, welche Schwierigkeiten alle der dramatische Sänger zu überwinden hat, bevor er mit seiner Darstellung auf der Bühne erscheinen kann, und die noch viel größeren Schwierigkeiten, wenn er wirklich darauf erscheint?

Ich meine den Unterschied der geistigen Prozeduren bei Entwurf und Ausführung der Aufgabe des Schauspielers, und der viel größeren Schwierigkeiten, die er zu besiegen hat, verglichen mit dem Verfahren der Schaffenden in allen anderen Kunstgebieten. Der Dichter, der Maler, der Bildhauer, der Componist, der Architekt, sie alle können mit ihrer Einbildungskraft und ihrem Verstande über ihrer Idee brüten, so lange, bis sie ihnen fertig und klar vor dem Geiste steht. Zur Ausführung, zur äußeren Veranschaulichung derselben aber stehen ihnen nach Belieben Wochen, Monate, Jahre zu Diensten; sie arbeiten an dem Werke, wenn sie Lust und Stimmung haben, und setzen aus, wenn jene fehlen. Ihr Hauptvortheil jedoch ist, sie dürfen ändern, zusetzen, wegstreichen, feilen und verbessern, bis sie mit dem Ganzen zufrieden sind.

Nun aber, der Schauspieler! – Es heißt freilich, seine Aufgaben seien leichter, denn er schaffe ja nicht, er reproducire nur. Er empfange ja vom Dichter seine Aufgabe. Der schreibe ihm Alles vor, Charakter, Handlung, Reden der Person, die er vorzustellen habe.

So? Und also wäre das Was beim Kunstwerke die Hauptsache? Man sollte meinen, es wäre das Wie – der Ausführung! Nicht der Gegenstand macht es, sondern die Behandlung desselben. In der Behandlung, der Ausführung aber kann sich der echte Schauspieler ebenso selbstschöpferisch zeigen, wie jeder andere Künstler, und zeigt sich oft schöpferischer als der dramatische Dichter selbst. So ist, um nur ein Beispiel anzuführen, der Carlos in Goethe’s Clavigo jahrelang für eine unbedeutende Nebenpartie gehalten worden, bis Seydelmann kam und sie – reproducirte? nein, wahrlich, durch seine nach der Natur aufgefaßte Ausführung zu einer höchst dankbaren Gastrolle umschuf.

Damit ist aber die Hauptschwierigkeit der Schauspielerkunst noch nicht berührt. Diese liegt darin, daß der Künstler sein zu Hause in der Einbildungskraft nur entworfenes Menschen- und Charakterbild durch sich selbst, an seiner eigenen Person zur Darstellung und Anschauung bringen, fix und fertig, lebendig in wenigen Stunden hinstellen und ausprägen muß. Er kann nicht, wie jeder andere Künstler, ändern, was ihm nicht im Augenblick gelungen, er kann nicht inne halten und etwa zum Publicum sagen: „Hochverehrte Zuschauer, mit der eben gespielten Scene bin ich nicht zufrieden, die ist mir nicht gelungen. Ich muß für heute aufhören; bitte, kommen Sie gefälligst morgen wieder, da hoffe ich sie besser auszuführen.“ Es ist dies nicht ganz Fiction. Ich weiß aus unseres Gura eigenem Munde, daß er nach manchem Momente, das in seinen Augen nicht seiner Intention genügt, gern so zum Publicum spräche.

Und wieder mehr noch als der bloße Schauspieler hat der dramatische Sänger mit Schwierigkeiten zu kämpfen, denn wenn jener doch mit der Bestimmung seiner Gesten und Bewegungen gewissermaßen noch ein freier Mann ist, insofern er nur den Vorschriften des Dichters zu gehorchen hat, so ist dieser zugleich ein Sclave des Componisten, der ihn durch die ganze Partie an der Leine des Tactes und Tempos führt, nach welcher er alle seine Bewegungen auf’s Minutiöseste einzurichten und zu berechnen hat. Welch ein anhaltendes, anstrengendes, geistiges Vorherdenken aber und Vorherberechnen aller Momente unter jenen strengen Bedingungen gehört beim Einstudiren einer Singpartie dazu, bis alles Dieses in der Phantasie festgestellt und dem Gedächtniß sicher eingeprägt ist! Wer aber von allen den Zuschauern und Zuhörern denkt nun an diese Schwierigkeiten, wenn er den armen, an allen Ecken und Enden gefesselten Sclaven seine Rolle bei der Aufführung so leicht und sicher hinspielen sieht, als wäre er der freieste Mann unter der Sonne? Es sind nur leise und unvollständige Andeutungen, die ich in der Eile über diesen Punkt gebe, denn noch lange nicht sind damit die Schwierigkeiten des Theaterspiels erschöpft, die noch weiter entstehen, z. B. durch die Mitspieler etc. Und erst wenn alle dem Publicum zum Bewußtsein kommen, würde die rechte Schätzung der Schauspielkunst gegenüber den anderen Künsten gewonnen werden können.

Mögen nun diesen Artikel einige Notizen über die Lebens- und Bildungsgeschichte unseres Künstlers vervollständigen.

Gura, ein Deutsch-Böhme, ist am 8. November 1842 in dem weit vom Weltverkehr abgelegenen Dorfe Pressern bei Saatz geboren, wo sein Vater noch heute als Volksschullehrer lebt. Vom fünften Jahre an ertheilte der musikalisch tüchtig gebildete Vater dem Knaben neben den gewöhnlichen Schulstunden regelmäßigen Clavierunterricht, und mit so gutem Erfolge, daß der kleine Gura in seinem achten Jahre schon von den benachbarten Schulmeistern in Betreff des Clavierspiels als eine Art Wunderkind angestaunt wurde.

In seinem zwölften Jahre wurde er nach Komotau in die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_110.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)