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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

„Geh’ in Dein Haus und bleib drinn!“ war die Antwort, und mit diesem Worte ging der Häuptling weiter auf das Haus des Missionars Herrn R. zu, den die ungewöhnliche Unruhe ebenfalls vor die Thür getrieben hatte. Auch dieser fragte Little Crow nach der Ursache, bekam aber keine Antwort, obwohl er mit ihm auf dem besten Fuße gestanden hatte; der Häuptling wandte stumm sein Gesicht ab und ging mit niedergeschlagenen Augen vorüber. Die fürchterliche Wahrheit begann jetzt plötzlich in Prescott’s Seele zu tagen. „Herr,“ sagte er zu mir mit dumpfer Stimme, „Sie sind zu einer unglücklichen Stunde zu uns gekommen; es ist etwas Blutiges im Werk, und wir sind ganz unvorbereitet. Es ist nur Ein Weg übrig: augenblickliche Flucht. Hinunter zur Fähre, und dann nach Fort Ridgley! ohne Verzug! in einer Viertelstunde kann Alles zu spät sein.“ Kaum hatte er ausgeredet, als der erste Schuß fiel. Ein Fuhrmann, der gerade aus dem Regierungsstalle trat, war das erste Opfer. Ihm folgte der Superintendent der Farmen, der auf Little Crow’s Befehl niedergeschossen wurde. Jetzt zögerte Herr R. nicht länger. Schnell floh er durch die Hinterthür seines Hauses, erreichte die Fähre glücklich, und eilte dann in der Richtung des Forts weiter. Dem Doctor, dessen Frau krank war, glückte es ebenfalls mit ihr und seinen drei Kindern über den Fluß zu entkommen. Doch sollte der Arme das Fort nie erreichen. Er und seine ganze Familie, bis auf den ältesten Knaben, der wie durch ein Wunder entkam, wurden auf dem Wege dahin auf’s Gräßlichste ermordet. Der Major hatte mich bei den ersten Schüssen sogleich aufgesucht, um mir den Weg zur Flucht zu zeigen; da ich aber das Haus schon verlassen hatte fand er mich nicht mehr in meinem Zimmer und mußte mich, da er für sein eigenes Leben zu fliehen hatte, meinem Schicksale überlassen.

Ich war in einen der nächsten Kaufläden, einem Herrn Forbes gehörig, getreten und befand mich mit fünf oder sechs Personen in dem unteren Raum desselben, als das schauerliche Kriegsgeheul der Wilden die Luft erfüllte. Alles eilte zur Thür, um zu sehen, was vor sich gehe; kaum aber waren wir in der Thür sichtbar geworden, als ein Kugelregen uns traf und Alle bis auf mich und einen Mann, Namens Spencer, tödtete. Spencer, der leicht verwundet ward, und ich rannten nun nach der Treppe, die auf eine Kammer im zweiten Stock führte. Als wir uns umsahen, hatte der Laden sich schon halb mit Indianern gefüllt, von denen einer uns fast bis zur Treppe gefolgt war. Ich sah, wie er auf uns anlegte, und gab mich schon verloren; zum Glück versagten ihm aber beide Büchsenläufe, und in einigen Sätzen waren wir in der oberen Kammer. Die Hoffnung, unser Leben zu retten, war nur sehr schwach; aber wir wollten es wenigstens so theuer wie möglich verkaufen und verriegelten und verrammelten deshalb die Thür, so gut wir konnten. Dann warfen wir uns, von der Aufregung erschöpft, auf ein paar Betten und horchten, was die Wilden wohl nun beginnen würden.

Wir vernahmen bald, daß sie eifrig beschäftigt waren, die Waarenkisten zu öffnen und zu entleeren, und schöpften schon ein wenig Muth, hoffend, daß sie über ihrer Beute uns vielleicht vergessen würden. Zu unserm Schrecken fingen sie aber sehr bald an sich zu berathen, ob sie das Haus nicht sofort anzünden sollten, und mein Gefährte, der ihre Sprache verstand und redete, hörte, daß sie schnell zu dem Entschluß kamen, dies sogleich auszuführen. Die Aussicht, lebendig verbrannt zu werden, war keine gerade sehr erfreuliche, und wir dachten sofort an einen Fluchtversuch. Leise lösten wir die Schnüre von den Bettstellen, banden sie zusammen und befestigten das eine Ende an den Bettpfosten, während wir uns mit dem anderen Ende an das Fenster postirten und nun der Dinge warteten, die da kommen würden. Es dauerte kaum eine Viertelstunde, bis wir die Wilden Anstalten treffen sahen, das Haus in Brand zu stecken. Trockenes Reisig wurde herbeigeschleppt und in den unteren Lagerraum hineingeworfen, und in wenigen Minuten prasselten die Flammen unter uns und erfüllten bald alles mit dichtem Qualm. Wir sahen, daß der Augenblick der Entscheidung gekommen war; uns blieb die Wahl zwischen gewissem Tode durch Ersticken und Verbrennen, oder wahrscheinlichem Tode durch die Kugel oder das Tomahawk. Wir zögerten nicht lange, rissen das Fenster auf, schwangen uns hinaus und glitten schnell am Seile hinunter. Schon hofften wir, unbemerkt entkommen zu können, da sich in diesem Augenblick Niemand an der Seite des Hauses befand; kaum aber hatten wir den Boden berührt, als zwei Indianer um die Ecke kamen und sofort sich unter Wuthgeheul auf uns stürzten. In einem Augenblicke waren wir von einer ganzen Schaar rother Teufel umringt, und ihr Geschrei gellte uns in die Ohren. „Tödtet sie! nieder mit ihnen!“

Da sprang plötzlich eine mächtige Gestalt zwischen die Wüthenden, stellte sich mit hochgeschwungenem Tomahawk vor Spencer und rief mit funkelnden Augen in die tobende Menge hinein: „Dem ersten, der diesen hier anrührt, spalte ich den Schädel; ihr kennt Wakinyatawa und dieser weiße Mann ist sein Camerad. Hättet ihr ihn getödtet, ehe ich ihn sah, dann wäre es recht gewesen; aber wir sind Freunde und Cameraden seit zehn Jahren, und jetzt, da ich ihn gesehen habe, will ich ihn und seinen Freund (indem er auf mich deutete) schützen oder mit ihnen sterben! Ihr kennt Wakinyatawa; drum hütet euch und laßt mich mit ihm gehen!“

Ohne weiter auf die Menge zu achten, schob er sie bei Seite und führte uns unbelästigt weg. Als er aus ihrem Bereiche gekommen war, übergab er uns zweien Indianerfrauen, um uns nach seinem vier Meilen entfernten Hause zu geleiten. Ehe wir es erreichten, wurden wir wiederholt angehalten und die Squaws ausgefragt. Die einfache Antwort jedoch: „Dies sind Wakinyatawa’s Freunde, und er hat ihnen das Leben geschenkt,“ genügte, um uns überall freie Bahn zu schaffen.

„Was hat uns denn eigentlich die wunderbare Hülfe dieser ritterlichen Rothhaut verschafft?“ fragte ich unterwegs Spencer, nachdem ich mich einigermaßen von dem Erstaunen erholt hatte, in das mich dieser deus ex machina versetzt hatte.

„Das will ich Ihnen erklären,“ sagte Spencer. „Wakinyatawa ist der erste und vornehmste von Little Crow’s Kriegern und hochangesehen, ja gefürchtet unter seinen Stammesgenossen. Er war vor fünf Jahren einer der Gesandten, die zum ‚Großen Vater‘ nach Washington geschickt wurden, und ist seitdem fast wie ein Häuptling geachtet. Was meine ‚Cameradschaft‘ mit ihm betrifft, so ist das ein Verhältniß, welches häufig unter den Sioux und wohl auch bei andern Stämmen gefunden wird, eine Art Freimaurerei oder Brüderschaft, die überaus heilig gehalten wird, und zu der auch zuweilen Weiße, die lange unter ihnen gewohnt haben, zugelassen werden. Als ich seine Stimme erkannte, wußte ich, daß wir gerettet werden würden.“

Daß ich im innersten Herzen für den Segen dieser Freimaurerei dankte, wird man mir wohl glauben; es war wenigstens Ein Beweis gegen die Ansicht des Doctors, daß es gar keine besseren Indianer gäbe; es war doch in diesem Einen wenigstens ein Rest von Treue übrig geblieben. Er erschien bald darauf in seiner Wohnung, wusch und verband die Wunden seines „Cameraden“ und versicherte uns seines Schutzes, so lange wir in seinem Wigwam bleiben würden. Spencer fragte ihn, was dieser fürchterliche Ausbruch eigentlich zu bedeuten habe, konnte aber wenig von dem schweigsamen Indianer erfahren. Das Einzige, was er aus ihm herausbekommen konnte, war, daß Wakinyatawa gegen Little Crow’s Plan gewesen sei, aber nichts gegen die Ueberzahl im Rathe habe ausrichten können; daß er in seiner Stellung nicht habe zurückbleiben können, aber versuchen werde, ohne dabei sein eigenes Leben zu gefährden, das Blutbad zu beschränken, und entschlossen sei, selbst seine Hand womöglich mit keines Weißen Blut zu beflecken. Er überließ es uns, entweder bei ihm zu bleiben, oder auf eigne Gefahr hin die Flucht nach dem Fort zu versuchen. Dann verließ er uns wieder und begab sich nach dem Schauplatz des Mordes zurück.

Ich überlegte nun, was weiter zu thun. Spencer fühlte sich schwach; seine Wunde war bedeutender, als er in der Aufregung bemerkt hatte. Auch war er, der mit Sprache und Sitten der Indianer vertraut und Wakinyatawa’s „Camerad“ war, verhältnißmäßig sicher; er beschloß also, vor der Hand zu bleiben. Für mich dagegen war die Gefahr des Bleibens viel größer. Wer konnte sagen, wie lange die Freundschaft Wakinyatawa’s mit Spencer sich auch auf mich ausdehnen würde, oder wie lange er mich gegen seine Genossen würde schützen können? Wie leicht konnte ich, bei meiner völligen Unbekanntschaft mit den Gebräuchen der Wilden, durch irgend etwas die Wuth der gereizten Bestien auf mich lenken und so ihrer Rache zum Opfer fallen! Außerdem war ich unverwundet und hatte mich durch Speise und Trank, die uns die gutmüthigen Squaws gegeben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_116.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)