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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Sinnes, des Gehörs, fast gänzlich beraubte, hat ihm die Lust und Kraft zum eigenen Sang benommen und seinem liederreichen Munde vorzeitig Schweigen geboten. Noch ehe der Abend seines Lebens gekommen, in einem Alter, da es Anderen vergönnt ist, in noch unverkümmerter Frische zu schaffen – er ist am 28. Juni 1815 geboren –, fand er sich gezwungen, auch seiner praktischen Thätigkeit zu entsagen und die Aemter niederzulegen, mit denen ihn seine Vaterstadt Halle betraut hatte. Damit zugleich aber ging er auch seiner gesicherten Lebensstellung verlustig. So sieht er sich und die Seinen denn auf den bescheidenen Ertrag seiner Bearbeitungen Bach’scher und Händel’scher Tonschöpfungen, denen er trotz periodischer Arbeitsuntüchtigkeit sich mit voller Hingebung widmet, angewiesen – und die Sorge pocht mit harter Hand an seine Thür. Warum säumen wir, den unholden Gast von der Schwelle seines Hauses zu verscheuchen? Geziemt es uns nicht, dem kranken Sänger, da es noch Zeit ist, mit dem Lorbeer zugleich den Ehren- und Dankessold zu reichen, den wir dem Genius schulden?

La Mara.




Schwimmende Schlafstätten.


Um die Mitte des Monats September im Jahre 1871 erfreute sich die Schwäbische Industrie-Ausstellung zu Ulm des lebhaftesten Besuchs. Am 16. September gab allein der Zählhaspel eine Zahl von nahezu Dreitausend an. Darunter waren viele Wiener, die gesammte Wiener Ausstellungscommission mit dem Geheimrath Dr. Wilhelm Freiherrn von Schwarz-Senborn an der Spitze. Sie waren mit Extrazug nach Ulm gekommen und ließen sich’s nicht nur angelegen sein, zu beobachten, was hier und wie es ausgestellt worden war, und an den kleineren Einrichtungen Erfahrungen zu sammeln, die sich für größere Verhältnisse verwerthen ließen, sondern auch mit voller frischer Hingabe ein Stück Ulmer Volkslebens mit durchzuleben. Der sonnige Nachmittag lockte alle Welt in die Friedrichsau, eine freundliche „Taschenausgabe“ des Wiener Praters, ebenfalls hart an der schönen blauen Donau gelegen. Dort gestaltete sich das Wogen und Treiben, dessen Mittelpunkt die Wiener bildeten, zu einem gemüthlichen Volksfeste, und als der Abend anbrach, vereinigte ein fröhliches Banket im „Gasthofe zum Kronprinzen“ die Ulmer und ihre lieben Gäste.

Wess’ das Herz voll ist, dess’ geht der Mund über, zumal wenn auch der Kopf nicht ganz leer geblieben ist. Ein herzlicher Trinkspruch folgte dem andern.

Da trat ein Ulmer an die Tafelrunde, in hocherhobener Hand hielt er den „Willkomm“ (so heißt der altehrwürdige Pokal der ehemaligen Ulmer Schifferzunft):

„Ein Silberbecher in Schiffesgestalt,
Ein heiliges Erbe, Jahrhunderte alt,
Ringsum am Borde mit Münzen behangen,
Als Zeugen der Tage, die längst schon vergangen.
Vornan noch ein Schifflein von Silber und Gold,
Der Zunft von Herzog Heinrich gezollt.
Ein Jeder, der den Willkomm erfaßt,
Fühlt sich begeistert zu einem Toast.
Es klingen so hell aneinander die Münzen
Und mahnen an Kaiser, Könige, Prinzen
Und manchen in Deutschland berühmten Mann,
Der schon aus dem Becher den Trunk hat gethan.
Es ist als ob in des Willkomms Tiefe
Die Zeit der Altvordern gebannt sei und schliefe.
Doch hält ihn der Zecher fröhlich am Munde,
Da steigt sie wieder herauf aus dem Grunde
Mit ihrer glorreichen Herrlichkeit,
Die alte, die längst schon vergangene Zeit.“

So geschah es auch dem Ulmer, der damals das Wort ergriff. Er erinnerte daran, daß unter den Denkmünzen des Willkomms auch eine von der Kaiserin Maria Theresia zum Gedächtniß an die Donaufahrt gestiftet worden sei, die sie und ihr Gemahl sammt Gefolge im Jahre 1745 vom 19. bis 27. October auf vierunddreißig Ulmer Schiffen von Ulm nach Wien gemacht habe, und brachte ein Hoch auf die deutschen Brüder in Oesterreich aus.

Geheimrath von Schwarz-Senborn sprach seinen Dank und die Bitte aus, daß die Ulmer recht zahlreich zur Weltausstellung nach Wien kommen und dabei nicht vergessen möchten, den alt-ehrwürdigen Willkomm mitzubringen.

„Auf Wiedersehen in Wien!“ so klang es herüber und hinüber. Es war das auch der Abschiedsgruß, als der Bahnzug am andern Morgen die Wiener Gäste den Ulmern wieder entführte.

Drei Monate später sandten die Commissionsmitglieder der Wiener Weltausstellung den Commissionsmitgliedern der Schwäbischen Industrie-Ausstellung einen stattlichen Silberpokal mit einer Zuschrift, die mit den Worten schließt: „Wenn die Commission für die Industrie-Ausstellung in Ulm sich später auflöst, so finden Sie wohl ein Plätzchen, wo der Becher aufgehoben und bei Zeit und Gelegenheit auch benutzt wird. Vielleicht postiren Sie ihn in der Nähe des altehrwürdigen Bechers, den wir zu bewundern Gelegenheit gehabt. Vor Allem aber bitten wir unseren lieben Freunden in Ulm in’s Gedächtniß zu rufen, daß bei dem Abschiede die Parole ausgegeben wurde: ‚Auf Wiedersehen in Wien!‘“

Die Begeisterung, mit welcher dieser Zuruf vernommen wurde, verflackerte nicht wie flüchtiges Strohfeuer; sie gründete sich bei den Ulmern auf eine von alten Zeiten her fest eingewurzelte Neigung und fand in dieser ihre immerwährende Nahrung. Ich bezweifle, daß es außerhalb Oesterreichs irgend eine Stadt gebe, deren Bevölkerung so sehr wie die Ulmer zu Wien sich hingezogen fühlt. Die Donau, die bei Ulm schiffbar wird, bildet das Band zwischen der alten Reichsstadt und der österreichischen Kaiserstadt, und von jeher war es hauptsächlich die Ulmer Schifferzunft, welche die Beziehungen zwischen beiden rege und warm erhielt. Das aber ist auch der Grund, weshalb in Ulm kein Stand eines so volksthümlichen Ansehens sich erfreut hat, als gerade diese ehrbare Schifferzunft.

Unter freiem Himmel am Ufer der Donau zimmert sie ihre sogenannten Ordinari, im Volksmund „Ulmer Schachteln“ genannt – Fahrzeuge mit fünfhundert Centner Tragkraft, zugleich Fahrgelegenheit für Reisende, welche die lustige, wenn auch langsame Donaufahrt der staubigen Landstraße vorziehen. Haid berichtet in seinem Buche über Ulm, daß die Ulmer Ordinari zu seiner Zeit – in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – in drei Monaten einmal bei dreitausend Menschen von Ulm nach Wien und Ungarn geführt haben.

In Wien oder Ungarn verkauft der Ulmer Schiffer als Holzhändler seine Schachtel und fährt – ehedem per Post, jetzt per Eisenbahn zurück, um daheim in allen Variationen das alte Thema zu verkünden:

„’S giebt nur a Kaiserstadt, ’s giebt nur a Wien“.

Wenn ein Ulmer Kaufmann oder Handwerker einen Sohn in die Fremde schicken wollte, wohin schickte er ihn lieber als nach Wien, mit dem er durch seine Landsleute, die Schiffer, in beständiger Verbindung blieb? Sie waren ihm Briefträger und Brief zugleich. Als im Jahre 1848 eine Abtheilung österreichischer Artilleristen in die Bundesfestung als Theil der Besatzung einrückte, wurden die Soldaten wie alte Bekannte begrüßt. Es läßt sich nicht leugnen, daß die gemüthliche treuherzige Art, mit welcher sie – Officiere und Mannschaft – mit den Ulmern verkehrten, viel dazu beitrug, die Voreingenommenheit für Oesterreich und seine Hauptstadt lebendig zu erhalten.

Es hat sich indessen Vieles geändert. Mit den übrigen Zünften hat auch die Schifferzunft ihr Ende gefunden. Die Locomotive that den Ordinari großen Abbruch. Was früher bei den Schiffern als Nebengeschäft galt – der Holzhandel, die Fischerei, ward zum Hauptgeschäft, sie selbst aber erhielten sich bei ihren Mitbürgern im alten Ansehen. Und heute noch übt eine einfache lustige Marschmelodie einen größeren Zauber auf den Ulmer, als irgend ein anderes Musikstück.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_241.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)