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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

wenn er, seinen Ruin vor Augen, verlassen von seinem Weibe, aufgegeben von all seinen ehemaligen Freunden, zum letzten Mittel griff, um sich und das, was er für den Augenblick noch sein nannte, vor einem Hasse zu sichern, der, jahrelang gesäet und genährt, ihm jetzt seine volle bittere Frucht zu kosten gab. Arthur schloß wie todtmüde die Augen und lehnte den Kopf an die Lehne des Armsessels – er konnte nicht mehr.

Eugenie hatte leise ihr Versteck verlassen und war auf die Schwelle getreten. Vergessen war die vorhin überstandene Gefahr, vergessen die Anklage des Beamten, die sie eben noch mit solchem Entsetzen durchschauert, vergessen auch Der, dem sie galt, und Alles, was sich an ihn knüpfte; jetzt, wo sie ihrem Gatten nahte, sah und dachte sie nichts weiter, als nur ihn allein. Der Schleier, der so lang und dicht zwischen ihnen Beiden gelegen, sollte jetzt endlich zerreißen. Es mußte klar werden, und doch bebte sie vor der Entscheidung, als solle ihr Todesurtheil damit gesprochen werden. Wenn sie sich täuschte, wenn sie nicht so empfangen wurde, wie sie empfangen werden wollte und mußte nach diesem Opfer, das sie ihrem Stolze abgerungen – das Blut drängte mit stürmischer Gewalt zum Herzen der jungen Frau, und dieses Herz pochte in namenloser Angst – an der nächsten Minute hing für sie Alles.

„Arthur!“ sagte sie leise.


(Fortsetzung folgt.)




Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
VI.


Unser Herr Doctor Goethe, wie wir mit seinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen den Licentiaten höflicher Weise betiteln wollen, kehrte von seinem zweiten Ausflug in die Welt kaum weniger flügellahm in das heimatliche Nest zurück, als er von seinem ersten zurückgekehrt war. Leiblich zwar ist er bei seiner Heimkehr von Straßburg wohlauf gewesen, nicht aber seelisch. Denn eine allzu begründete Reue nagte ihm an der Seele und als echter Dichter mußte er jetzo das Weh Friederike in ebenso gesteigertem Maße bitter empfinden, als er vordem die Wonne Friederike selig genossen hatte. Kaum im Vaterlande angelangt, schrieb er an die Verlassene und – meldet er – „die Antwort Friederike’s zerriß mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit, ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eigenes Unglück nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Aennchen mich verlassen, hier war ich zum erstenmal schuldig. Ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet und so war die Epoche einer düsteren Reue bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe höchst peinlich, ja unerträglich. Aber der Mensch will leben –“

Ach ja, der Mensch will leben! Und er muß leben wollen, falls der geheimnißvolle, dem Dummsten gerade so wie dem Weisesten erkennbare, daß heißt unverkennbare Plan der ungeheuren Menschheittragödie zu fernerweit tragikomischer Ausführung gelangen soll. Das sinnliche Bedürfen und Begehren, das Thier im Menschen, welches, aus dem Thatsächlichen ins Philosophische übersetzt, beim Fichte das „Ich“ und beim Buddha-Schopenhauer der „Wille zum Leben“ heißt, rastet und ruht nicht. Ein recht gemeines Ding, genau angesehen, dieses Ich, dieser Wille, ganz ordinär; aber immerhin mächtig genug, die kolossale Tragikomödie des Erdendaseins im Gange und die ewigen Grundmotive derselben, Hunger und Liebe, in unendlicher Wiederholung wirksam zu erhalten.

So wollte denn auch der Doctor Goethe leben und zwar unbedingt besser, als ihm seine durch die angehobene so nebenbei und obenhin betriebene Advocatur beschafften eigenen Mittel erlaubt haben würden. Die wirklich erforderlichen zu beschaffen, war der Vater natürlich wiederum gut genug; ebenso, die eigentlichen Advocatengeschäfte für den „singulären“ Menschen zu verrichten. Dieser stellte, wie er uns bekannt hat, sein Absehen vorerst darauf, in seiner Weise hinsichtlich des Idylls von Sesenheim poetisch Reu’ und Leid zu machen und das Friederikenweh künstlerisch loszuwerden. Wir wissen ja, daß um jene Zeit (November 1771) der „Götz von Berlichingen“ im ersten Wurf entstanden ist und daß unser Dichter mittels Schaffung der beiden Figuren Maria und Weislingen eine dichterische Beichte und Büßung beabsichtigte. In der erstgenannten Gestalt sollte die verlassene Geliebte schön verklärt, in der zweiten er selbst, der Treulose, mit aller Strenge bestraft werden. Auch in die gleichzeitig oder wenig später fragmentarisch-hastig auf das Papier geschleuderten Anfänge der Faust-Dichtung spielten zweifelsohne die Erinnerungen an sein Verhältniß zur Friederike Brion herein. Viel that an dem sich Härmenden auch jetzt wieder der liebevoll-verständige Zuspruch der Mutter. Alte Freunde nahmen sich seiner an und suchten mittels geselliger Zerstreuungen ihn vergessen zu machen, was er jüngst verloren. Trösterin Natur war auch nicht lässig; dem Berg und Thal, Feld und Wald durchstreifenden und seines Herzens Pein in kraftgenialischen Liedern („Wanderers Sturmlied“) ungestüm ausströmenden Dichter gab sie den Trost, den sie jedem zu ihr flüchtenden Kummerträger giebt: Sieh’ mich an! Auch ich leide und dulde unter der Schwere des Gesetzes ewiger Nothwendigkeit … So lös’te sich denn mälig das Gefühl der Herbigkeit seines Verlustes und seiner Reue in jene Weichheit der Erinnerung auf, welche das Herz umschmiegt „sanft wie geliebter Todten Angedenken“, und so mochte im Rückblick auf Friederike ihm zu Muthe sein, als er die Schlußstrophe von „Jägers Abendlied“ (in des Gedichtes ältester Gestalt) vor sich hinsang:

„Mir ist es, denk’ ich nur an Dich,
Als säh’ den Mond ich an;
Ein süßer Friede kommt auf mich,
Weiß nicht, wie mir gethan.“

Für die literarische Thätigkeit des in dieser Weise von seiner Herzenswunde Genesenen war es nicht bedeutungslos, daß sein nachmaliger Schwager Schlosser die Redaction der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ übernahm (1772). Denn Goethe wurde einer der eifrigsten Mitarbeiter an dieser Zeitschrift, welche sich so recht als der Moniteur der Sturm- und Drangperiode unserer Literatur aufthat. Von noch größerer Bedeutung aber war es für unseren Dichter, daß er durch Schlosser’s Vermittelung mit dem Kriegszahlmeister Johann Heinrich Merck in Darmstadt bekannt und bald auch befreundet wurde. Diesem führenden Freunde seiner Jugend hat er später in „Dichtung und Wahrheit“ noch weniger Gerechtigkeit widerfahren lassen als dem Vater, indem er Merck’s nur als seines, jugendlichen Goethe-Faust’s, Mephisto sich erinnern wollte. Und doch war der darmhessische Kriegszahlmeister keineswegs „der Geist, der stets verneinte“. Im Gegentheil er war der erste entschiedene Bejaher des Goethe’schen Genius, er war es, welcher den Schöpfer des Götz und des Werther zur Veröffentlichung dieser Sturm- und Dranggenialitäten drängte und trieb – („Bei Zeit auf die Zäun’, so trocknen die Windeln!“). Auch die Stiftung der Frankfurter gelehrten Anzeigen ging vorzugsweise von ihm aus. Merck ist demnach nichts weniger als ein Philister gewesen. Eine erkleckliche Dosis vom Sturm und Drang der Zeit webte und waltete auch in ihm und er bethätigte sich lebhaft an den Strebungen der jüngeren Generation, welchen Strebungen, vorweg den national literarischen, es vielfach und nachhaltig zum Vortheil gereichte, daß dieses Mentors und Kritikers Verstand scharf, sein Geschmack gesund und fein, sein Urtheil unbestechlich war. Summa: so ein Mann, der fähig und bereit ist, das Gute und Tüchtige zu erkennen, anzuerkennen und zu fördern; aber ebenso, jedes „dumme Zeug“ und allen „Quark“ frank und frei mit dem richtigen Namen zu nennen. Unser Dichter war dem Freund und Berather zu großem Danke verpflichtet und demnach ist es nur gerecht, daß die deutsche Literaturgeschichte des Kriegszahlmeisters Merck dankbar eingedenk sei und bleibe.

Der Merck’sche Freundeskreis in Darmstadt nahm den jungen Frankfurter Doctor mit großer Freundlichkeit auf und Wolfgang

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_290.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)