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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.
Von Dr. Hugo Müller.


Wie viele Schriftsteller haben nicht bereits das innere Getriebe des Theaters, das Leben hinter den Coulissen in den Bereich ihrer Feder gezogen, wie vielen Romanen, Novellen, Humoresken, Feuilletons etc. gab dieses willkommene Thema Nahrung! Der größere Theil der Leser hat sich daran ergötzt und das ihm interessant Geschilderte gläubig für baare Münze genommen – nur der Künstler selbst schüttelte bei dieser Art Lectüre zumeist den Kopf, weil es ihm unfaßbar erschien, daß man mit so großer Unkenntniß der Verhältnisse dieselben so sicher zu zeichnen unternähme. Auf der zweiten, dritten Seite fielen ihm bereits die entschiedensten Fehler bei Beurtheilung und Behandlung aller technischen Verhältnisse des Theaters in die Augen, und er fragte sich erstaunt, wie es möglich sei, das Alles so unbefangen dem Publicum aufzutischen. Der Grund liegt jedoch sehr nahe: man ist gewöhnt, mit den Schauspielern ohne Umstände zu verfahren, und wo man bei jedem andern Stande vier, fünf Mal vorsichtig nachfragt, ehe man eine Behauptung aufstellt, da spricht man bei uns frischweg ab; es kann ja nichts Uebles daraus entstehen! Der Oeffentlichkeit exponirt, sind wir gewohnt, nicht mit Glacéhandschuhen angefaßt zu werden.

Ich weiß nicht, welcher geistreiche Kopf das Princip verkündet hat: „wer in der Oeffentlichkeit steht, muß sich jedes Urtheil und jede Anschauung gefallen lassen“; es wäre vergebliche Mühe einen logischen Schlüssel für diese Auffassung zu suchen, aber die scandalsüchtige Welt hat diesen Grundsatz adoptiert und somit wird er tagtäglich, namentlich von der kleinen Presse, an uns ausgeübt, gleichviel wie viel Jammer, Elend, Familienunglück etc. dieser Cultus des Waschfasses im Gefolge trägt. Mir ist ein Schriftsteller bekannt, der eine vorübergehende Liaison mit einer Dame vom Theater hatte; die Verbindung löste sich, wahrscheinlich aus Gründen, welche die Dame verschuldet. Aus Rache schrieb er einen Roman, der große Verbreitung fand, indem er den ganzen weiblichen Künstlerstand kurzweg als Canaille schilderte. Ein anderer mir bekannter Schriftsteller hatte ein Stück zur Aufführung gebracht, das er für gut hielt. Das Publicum war anderer Meinung und pfiff es aus. Empört schob er, wie in solchen Fällen gewöhnlich, alle Schuld auf die Darsteller und läßt seitdem keine Gelegenheit vorübergehen, die Schauspieler in seinen Artikeln für dumm, unfähig und lächerlich zu erklären.

Nach solchen Vorkommnissen scheint es in der That nicht unangebracht, wenn ein ganz parteiloser, seit achtzehn Jahren inmitten der zu schildernden Verhältnisse lebender Mann es unternimmt, dem Publicum, das gern hinter die Coulissen blicken möchte, die Wahrheit zu sagen, und zwar im Gewand des heitern Humors und des bittern Ernstes.

Unsere Verhältnisse können begreiflicher Weise nicht mit altbürgerlicher Elle gemessen werden, und in diesen Skizzen wird Manches enthalten sein, was weder für prüde Heilige, noch für Pensionskinder geschrieben ist, aber derartige Rücksichten können bei Besprechung einer solchen Frage auch unmöglich mitreden. Wo es absolut nothwendig sein wird, die schlimme Wahrheit zu sagen, wird es geschehen ohne bitteren Zusatz, denn ich kenne nichts Verächtlicheres, als eine Kritik, welche die Strenge mit Hohn und hämischer Gesinnung paart. Meine Collegen, die diese Blätter lesen, werden am besten zugeben können, daß, was ich hier dann und wann unter dem Geläute der Schellenkappe vorführe, keinen Exceß nach irgend einer Richtung enthält und daß es mir nur darum zu thun gewesen ist, das lesende Publicum davon überzeugen, daß unser Stand zwar einzelne schlimme, meist aber nur harmlose und humoristische Auswüchse aufzuweisen hat, die man uns schon dem Werth der Kunst gegenüber zu gut halten kann.




1. Regie-Freuden und Leiden.

Die zehnte Stunde hat geschlagen, diese Normalstunde der Proben an allen soliden Theatern. Eifrige Novizen sind bereits auf der Bühne versammelt; sie können den Moment nicht erwarten, in dem sie sich reden hören und agiren sehen dürfen. Andere, von diesem Verlangen bereits Abgekühlte sind noch auf dem Wege zu Thaliens Hallen, denn sie wissen, daß ihnen in Anbetracht der großen Entfernungen eine Respectsfrist von zehn Minuten vergönnt ist; wieder Andere befinden sich um dieselbe Zeit noch bei der Toilette, fluchend über den unanständig frühen Probetermin und in Gedanken die Strafe berechnend, mit der die voraussichtliche Versäumnis ihre Casse schädigen wird. Der Herr Regisseur, begreiflicher Weise ein Mann der Pünktlichkeit, steht seit dem Schlage Zehn auf seinem Posten und verkürzt sich die Respectsminuten durch Instructionen an Theatermeister, Decorateure, Garderobiers und den Souffleur, besonders an Letzteren.

„Lieber Sendelmayer, Sie wissen, wir haben heute die letzte Probe; nicht so laut, nicht so laut, die Herrschaften können ja ihre Rollen.“

Sendelmayer nickt zustimmend mit dem Kopfe; aber indem er sich in seinen Orcus zurückbeugt, überfliegt ein diabolisches Lächeln seine Züge und mit dem Streichen seines Backenbartes scheint er anzudeuten, daß seine Ueberzeugung mit der seines Chefs nicht Hand in Hand gehe. Der Herr Regisseur ist ein feiner jovialer Mann in den besten Jahren, in Kunst und Leben gleichmäßig zu Hause, beiden gleich ergeben und ängstlich darauf bedacht, keinen der beiden Theile durch zu übertriebenen Verkehr mit dem andern zu verletzen. Er liebt ein gutes Stück, einen guten Künstler so aufrichtig, wie einen alten gezehrten Bordeaux, und ein schlechter oder fauler Schauspieler ist ihm so zuwider, wie eine Flasche Sekt, die nach dem Korken schmeckt. Er ist stets darauf bedacht, guten Ton walten zu lassen, sich mit Allen „gut zu stehen“ und jede Uneinigkeit, jedes Gezänk, jede Rohheit zu verhindern, wobei tausenderlei Rücksichten, die er nach oben zu nehmen hat, diese löbliche Absicht in ihrer Ausführung erschweren. Aber er ist bei alledem zufrieden und kommt bei seiner Philosophie niemals zu dem wehmüthigen Ausruf „Diem perdidi!“

Die zehn Minuten sind verstrichen; mit geübtem Strategenblick mustert der Regisseur das inzwischen angewachsene Häuflein und erkennt sofort Mehrere, „die nicht da sind“, darunter Fräulein Heloise, die bei Hofe eingeführt ist und in den ersten Familien der Aristokratie Bilder stellt, Gründe genug, der Dame nichts Verletzendes zu sagen, oder sie gar in Strafe zu nehmen. Er giebt also noch fünf Minuten Galgenfrist, die er jedoch, um es nicht auffällig zu machen, in höchst politischer Weise durch Privatgespräche mit seinen Collegen ausfüllt.

„Guten Morgen, Lehmannchen, altes Haus, wie geht’s Euch denn?“ begrüßt er den Heldenvater, dessen feiste Schultern klopfend und erhält sogleich die geistreiche Antwort: „Ich danke Euch, so so!“

Die Anrede „Ihr“ ist nämlich bei den älteren Mimen, denen aus der sogenannten guten Zeit, noch sehr beliebt und gebräuchlich; die jüngere Generation hat, Gott sei Dank, diesem schauderhaften Brauch entsagt.

„Na, Fritzchen,“ wendet er sich zum jugendlichen Liebhaber, „wie war der Bube gestern Abend? kleines Six durchgebracht?“

„Ach, reden Sie schon gar nicht davon!“ lautet der Bescheid und die krausen Falten auf Romeo’s Stirn geben ein treues Spiegelbild von denen seines Portemonnaies.

Inzwischen ist auch Fräulein Heloise eingetroffen und schwebt sogleich mit unnachahmlicher Grazie auf den Regiestuhl los, dem gestrengen Vorgesetzten drei ihrer Lilienfinger entgegenstreckend, zu welchem Behuf sie den Handschuh bereits auf der Treppe ausgezogen hat. „Mille pardons,“ haucht sie, wenn ich warten ließ, aber ich bin mit entsetzlichen Kopfschmerzen aufgewacht.“ Der Regisseur küßt jeden der drei Lilienfinger einzeln und versichert mit zärtlicher Devotion, daß das nichts ausmache. Während Heloise sich wendet, wirft sie ihm noch die geflügelten Worte zu: „Ich war gestern Abend bei Hofe; Serenissimus sprach sich außerordentlich günstig über Sie aus, – ich glaube – ich glaube – –“ ein Lächeln einerseits, ein Augenleuchten andererseits – große Geister verstehen sich – noch ein Händedruck, und Heloise verschwindet hinter den Coulissen. Der Ernst des Lebens beginnt; der Regisseur nimmt die kleine Amtsmiene an (er kann sie erforderlichenfalls durch drei Potenzen steigern) und winkt dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_292.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)