Seite:Die Gartenlaube (1873) 300.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


und in derartigen Fällen sind die Muskeln, welche am wenigsten unter der besondern Controle des Willens stehen, diejenigen, welche am meisten geneigt sind, doch noch thätig zu werden, und damit Bewegungen zu veranlassen, welche wir als expressive anerkennen. In gewissen anderen Fällen erfordert das Unterdrücken einer gewohnheitsgemäßen Bewegung andere unbedeutende Bewegungen, und diese sind gleicherweise ausdrucksvoll.“

„In Bezug auf unser erstes Princip,“ heißt es weiter, ist es bekannt, wie stark die Macht der Gewohnheit ist. Die complicirtesten und schwierigsten Bewegungen können mit der Zeit ohne die geringste Anstrengung und ohne Bewußtsein ausgeführt werden. Man weiß nicht sicher, woher das kommt, daß Gewohnheit so wirksam in der Erleichterung complicirter Bewegungen ist. Physiologen nehmen aber an (er citirt z. B. Johannes Müller), daß sich die Leitungsfähigkeit der Nervenfasern mit der Häufigkeit ihrer Erregung ausbildet. Dies bezieht sich auf die Bewegungs- und Empfindungsnerven ebensowohl, wie auf die Nerven, welche mit dem Acte des Denkens in Zusammenhang stehen. Daß irgend eine physikalische Veränderung in den Nervenzellen oder den Nerven hervorgebracht wird, welche gewohnheitsgemäß benutzt werden, kann kaum bezweifelt werden; denn im andern Falle wäre es unmöglich zu verstehen, warum die Neigung zu gewissen erworbenen Bewegungen vererbt wird.“ Schon Darwin’s interessantes Buch „Das Variiren der Thiere und Pflanzen“ giebt hierüber reiche Aufschlüsse, und jetzt führt er uns einen ganz merkwürdigen Fall nach Galton an von der Vererbung gewohnheitsgemäßer Geberden, wo durch drei auf einander folgende Generationen die seltsame Gewohnheit sich vererbte, während des festen gesunden Schlafes – also nicht als Nachahmung erklärlich – den rechten Arm zur Stirn zu heben und in der Art fallen zu lassen, daß die Hand auf die Nase schlug. – Als ein Beispiel, wie leicht Handlungen mit anderen Handlungen oder mit verschiedenen Seelenzuständen associirt werden, führen wir das an: Jeder sucht sich, wenn er auf den Boden fällt, durch Ausstrecken seiner Arme zu schützen, und nur Wenige können es über sich gewinnen, nicht so zu handeln, wenn sie absichtlich sich auf ein weiches Bett fallen lassen. Es giebt Handlungen, die unter gewissen Umständen, unabhängig von der Gewohnheit, ausgeführt werden und welche eine Folge einer Nachahmung oder irgend einer Art Sympathie zu sein scheinen. „So kann man zuweilen Personen sehen, welche, wenn sie irgend etwas mit einer Scheere schneiden, ihre Kinnbacken in gleichem Tempo mit den Scheerenblättern bewegen. Wenn Kinder schreiben lernen, drehen sie häufig, so wie sie ihre Finger bewegen, die Zunge umher in einer lächerlichen Weise.“

Von hoher Bedeutung für den Ausdruck sind Reflexthätigkeiten. Wir verstehen unter diesen meist ohne alles Empfinden oder Bewußtsein sich vollziehenden merkwürdigen Vorgängen Folgen der Erregung eines peripherischen Nerven, der seinen Einfluß gewissen Nervenzellen überliefert, worauf diese ihrerseits wieder gewisse Muskeln oder Drüsen zur Thätigkeit anregen. Hierher gehört z. B. Husten und Niesen. Beides werden kleine Kinder ohne Weiteres ausüben. Das gewissermaßen analoge Schnauben aber, das Zusammendrücken der Nase und heftige Blasen durch den verengten Gang müssen sie erst lernen; es ist eine willkürliche Bewegung, obschon sie später beinahe so leicht wie eine Reflexthätigkeit vollzogen wird. – Wahrscheinlich sind einige Handlungen, welche anfangs mit Bewußtsein ausgeführt wurden, durch Gewohnheit und Association in Reflexhandlungen umgewandelt worden und jetzt so so fixirt und vererbt, daß sie ausgeführt werden, selbst wenn kein Nutzen damit verbunden ist, so oft nur dieselben Ursachen eintreten, welche ursprünglich durch den Willen in uns diese Handlungen erregten. So wurden Niesen und Husten – nach Darwin – wahrscheinlich ursprünglich durch die Gewohnheit erlangt, jedes reizende Theilchen so heftig als möglich aus dem empfindlichen Luftwege auszustoßen. „Was das Moment der Zeit betrifft, so ist davon mehr als hinreichend vergangen, daß diese Gewohnheiten eingeboren oder in Reflexhandlungen umgewandelt wurden. Denn sie sind den meisten oder allen höheren Säugetieren gemeinsam und müssen daher zuerst in einer sehr weit zurückliegenden Zeit erlangt worden sein.“

Was nun das zweite Princip betrifft, so beruht es darin: Gewisse Seelenzustände führen zu bestimmten gewohnheitsgemäßen, zweckmäßigen Handlungen; bei einem direct entgegengesetzten Seelenzustande tritt eine unwillkürliche Neigung zur Ausführung von direct entgegengesetzten Bewegungen ein, wenn auch dieselben von keinem Nutzen sind. Zur Erläuterung dient folgendes charakteristische Beispiel. Wenn sich ein Hund in feindseliger Stimmung nähert, so geht er aufrecht und recht steif einher; sein Kopf ist leicht emporgehoben, oder nicht sehr gesenkt, der Schwanz wird aufrecht und vollständig steif getragen; die Haare sträuben sich, besonders dem Nacken und Rücken entlang; die gespitzten Ohren sind vorwärts gerichtet, und die Augen haben eine starren Blick. Diese Erscheinungen sind eine Folge davon, daß es Absicht des Hundes ist, seinen Feind anzugreifen; sie sind hiernach in hohem Grade verständlich. Nehmen wir nun an, daß der Hund plötzlich die Entdeckung macht, der Mann, der sich ihm nähert, sei kein Fremder, sondern sein Herr – vollständig und augenblicklich wandelt sich die ganze Haltung um. Der Körper duckt sich und führt windende Bewegungen aus; der Schwanz wird gesenkt und von einer zur andern Seite gewedelt; das Haar wird augenblicklich glatt; die Ohren sind heruntergeschlagen und nach hinten gezogen; die Lippen sind schlaff. Dadurch, daß die Ohren nach hinten gezogen werden, werden die Augenlider verlängert und die Augen erscheinen nicht länger mehr rund und starr. Nicht eine der soeben bezeichneten Bewegungen, welche einen so deutlichen Ausdruck der Zuneigung darstellen, ist von dem geringsten directen Nutzen für das Thier und nur dadurch zu erklären, daß sie in einem vollständigen Gegensatze zu der Haltung und den Bewegungen stehen, welche eintreten, wenn ein Hund zu kämpfen beabsichtigt.

Hören wir aber, wie sich Darwin über den Ursprung dieses zweiten Princips äußert. „Da das Vermögen der gegenseitigen Mittheilung sicherlich für viele Thiere von großem Nutzen ist,“ sagt er, so hat die Vermuthung a priori nichts Unwahrscheinliches in sich, daß Geberden, welche offenbar entgegengesetzter Natur sind, verglichen mit denen, durch welche gewisse Gefühle bereits ausgedrückt werden, zuerst willkürlich unter dem Einflusse eines entgegengesetzten Gefühlszustandes angewendet worden sein dürften. Die Thatsache, daß die Geberden jetzt angeboren sind, bietet keinen gültigen Einwurf gegen die Annahme dar, daß sie ursprünglich beabsichtigt waren; denn werden sie viele Generationen hindurch ausgeführt, so werden sie wahrscheinlich schließlich vererbt werden. … Und darüber kann kein Zweifel bestehen, daß mehrere von dem Principe des Gegensatzes abhängige Bewegungen vererbt werden.“

Wir haben nun noch das dritte Princip in’s Auge zu fassen, das Princip nämlich, daß Handlungen durch die Constitution des Nervensystems verursacht werden, von Anfang an unabhängig vom Willen und in einer gewissen Ausdehnung unabhängig von der Gewohnheit. Der hier vorliegende Gegenstand ist, wie Darwin offen eingesteht, sehr dunkel. Ein Beispiel ist das Zittern der Muskeln, das, den Menschen und vielen Thieren gemeinsam, am leichtesten durch Furcht, gelegentlich auch bei Zorn und bei großer Freude hervorgebracht wird.

Dieses Princip der directen Einwirkung des erregten Nervensystems auf den Körper ist in höchst verwickelter Weise mit dem Principe gewohnheitsgemäß associirter zweckmäßiger Bewegungen verbunden, so bei den wahnsinnigen Geberden der Wuth und dem Sichwinden unter heftigem Schmerz etc., und selbst bei schwacher Erregung von dergleichen Empfindungen führt die Macht lange associirter Gewohnheit ähnliche Handlungen herbei, die nicht unter der Controle des Willens stehen.

(Schluß folgt.)




Gondelgruß.
(Mit Abbildung, S. 289.)

     Glücklich hab’ ich ihn erlauscht –
Ob ich neckend mich verstecke?
Schwesterchen, die Gondel rauscht,
Sieh, da fährt er um die Ecke!
     G’raden Flugs herauf zu mir
Dringt sein herrlich leuchtend Grüssen –
Blumen, glücklich seid nur ihr,
Daß euch seine Lippen küssen!




Zur Beachtung. Die in Nr. 7 angezeigte Preisherabsetzung der Gartenlaube 1867 bis 1869 hat von heute an keine Gültigkeit mehr, dagegen können die beiden Jahrgänge 1868 und 1869 bis Ende Mai (statt 4 Thlr.) noch für den Gesammtpreis von 1 Thlr. 24 Ngr. bezogen werden.

Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_300.JPG&oldid=- (Version vom 19.9.2018)