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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


mittleren Theile der Stirn. Dazu kommen nun aber noch senkrechte Furchen, die den äußern und gesenkten Theil der Stirnhaut von dem mittleren und in die Höhe gehobenen scheiden, und durch die Zusammenziehung der Augenbrauenrunzler erzeugt werden.

Die beiden Figuren 1 und 2 unserer Tafel sind Copien zweier in Darwin’s Buche heliotypirt wiedergegebenen Duchenne’schen Photographien eines jungen Mannes, der ein guter Schauspieler war; die eine stellt ihn in seinem natürlichen Zustande vor, während die andere den unverkennbaren Ausdruck des Kummers zeigt. Dieser Ausdruck scheint allen Menschenracen gemeinsam. Darwin erhielt glaubwürdige Schilderungen bezüglich des Vorkommens bei den Hindus, den Dhangars, den Malayen, Negern und Australiern. Bei Melancholie und besonders bei Hypochondrie können diese „Grammuskeln“, wie Darwin die in ihrem charakteristischen Zusammenwirken soeben geschilderten Muskeln kurzweg nennt, beständig in reger Thätigkeit gesehen werden, und die von ihrer fortwährenden Zusammenziehung abhängig bleibenden Linien oder Furchen sind für die Physiognomie solcher Geisteskranker bezeichnend. Auch die Nasenlippenfalte ist häufig bei derartigen Kranken ausgesprochen. Fragen wir aber nun nach der Ursache, warum sich bei Seelenschmerz blos die mittleren Bündel des Stirnmuskels in Verbindung mit denen rings ums Auge zusammenziehen, so giebt uns Darwin folgende Erklärung: „Wir haben Alle,“ sagt er, „als Kinder wiederholt unsere ringförmigen Muskeln, Augenbrauenrunzler und Pyramidenmuskeln zusammengezogen, um während des Schreiens unsere Augen zu schützen; unsere Vorfahren haben viele Generationen hindurch vor uns dasselbe gethan; und obgleich wir wohl mit fortschreitenden Jahren leicht das Ausstoßen von Schmerzensschreien verhindern können, wenn wir uns in Noth fühlen, so können wir doch der langen Gewohnheit wegen nicht immer eine leichte Zusammenziehung der eben genannten Muskeln verhindern; wir bemerken in der That weder deren Zusammenziehung bei uns selbst, noch versuchen wir, sie aufzuhalten, wenn sie nur unbedeutend ist. Die Pyramidenmuskeln scheinen aber weniger unter der Controle des Willens zu sein, als die andern damit in Beziehung stehenden Muskeln; und wenn sie ordentlich entwickelt sind, kann ihre Zusammenziehung nur durch die antagonistische Zusammenziehung der mittlern Bündel des Stirnmuskels gehemmt werden. Das Resultat, welches nothwendiger Weise daraus folgt, daß diese Bündel energisch zusammengezogen werden, ist das Ziehen der Augenbrauen schräg nach innen und oben, das Zusammenfalten ihrer inneren Enden und die Bildung rechtwinkliger Furchen auf der Mitte der Stirn. … In allen Fällen von Noth, mag dieselbe groß oder klein sein, strebt unser Gehirn in Folge langer Gewohnheit danach, gewissen Muskeln einen Befehl zum Zusammenziehen zu senden, als wären wir noch immer Kinder im Begriffe laut aufzuschreien; diesem Befehle aber sind wir durch die wunderbare Gewalt des Willens und die Gewohnheit theilweise entgegenzuwirken im Stande, obschon dies unbewußt geschieht, soweit es die Mittel des Gegenwirkens betrifft.“

Ich erwähnte vorhin noch das Herabziehen der Mundwinkel. Werfen wir einen Blick auf Figur 3. Wer je Kinder beobachtet hat, für den bedarf es keiner Erklärung dieses Bildes. Ich will also blos bemerken, daß diese Geberde, dieses „Mundhängen“ durch Zusammenziehen der (mit K bezeichneten) Herabzieher des Mundwinkels erfolgt. Aber nicht blos Kinder hängen den Mund, auch Erwachsenen ist es eigen, Melancholiker zeigen es namentlich bei Neigung zum Selbstmord, und Darwin erfuhr, daß es auch bei den Hindus, Malayen und Australiern gefunden wird. Die Ursache aber dieser Ausdrucksform liegt in dem nämlichen Princip wie bei der Schrägstellung der Augenbrauen; sie können „als rudimentäre Spuren der Schreianfälle betrachtet werden, welche während der frühesten Kindheit so häufig und so anhaltend sind“.

Betrachten wir jetzt unsere Figur 7, die in Figur 8 ihr Gegenstück findet. „Herr, wie können Sie sich unterstehen, mich so zu beleidigen?“ ruft es uns aus letzterer entgegen, während das entschuldigende Achselzucken der Sieben ein „Ich konnte wahrhaftig nicht anders!“ oder so etwas Aehnliches vorbringt. Dieses Achselzucken der Hülflosigkeit, der Unfähigkeit, der Geduld ist oft von Seitenwendung des Kopfes begleitet; die Stirn ist durch Heben der Augenbrauen in quere Falten gelegt, der Mund geöffnet; die Ellenbogen sind dicht nach innen gebogen; und die gehobenen offenen Hände mit gespreizten Fingern nach auswärts gedreht. Worin mag diese Geberde, deren Nutzen man nicht einsieht und die gleichwohl in allen Theilen der Welt ganz allgemein vorkommt, bei Hindus, Malayen, Mikronesiern, Abessiniern, Arabern, bei Indianern des fernen Westens und Australiern so gut wie bei den Europäern und ebenso auch bei Blinden und Tauben, die sie nicht durch Nachahmung gelernt haben können – worin, fragen wir, mag sie wohl ihren Grund haben? Nach Darwin liegt die Erklärung zweifellos im Principe des unbewußten Gegensatzes, wonach, wie wir in der vorigen Nummer (S. 300) sahen, direct entgegengesetzte Seelenzustände unwillkürlich auch entgegengesetzte Bewegungen veranlassen. „Dieses Princip scheint hier so deutlich ins Spiel zu kommen wie in dem Falle mit dem Hunde, welcher, wenn er sich böse fühlte, sich in die gehörige Stellung zum Angriffe versetzt und sich seinem Gegner so fürchterlich erscheinend macht als möglich, sobald er sich aber zuneigungsvoll gestimmt fühlt, seinen ganzen Körper in eine direct entgegengesetzte Stellung wirft, obgleich das von keinem directen Nutzen für ihn ist. Man beachte, wie ein indignirter Mensch, welcher empfindlich ist und sich einem Unrechte nicht unterwerfen will, seinen Kopf aufrecht trägt, seine Schultern zurückwirft und seine Brust ausdehnt. Er ballt häufig seine Fäuste und bringt einen oder beide Arme in die Höhe zum Angriffe oder zur Vertheidigung, wobei die Muskeln seiner Gliedmaßen steif sind. Er runzelt die Stirn und da er entschlossen ist, schließt er seinen Mund. Die Handlungen und die Stellungen eines hülflosen Menschen sind in jedem einzelnen dieser Punkte genau das Umgekehrte. Der hülflose Mensch zieht unbewußter Weise die Muskeln seiner Stirn zusammen, welche Antagonisten derjenigen sind, welche das Stirnrunzeln bewirken, und hierdurch hebt er seine Augenbrauen in die Höhe. Zu gleicher Zeit erschlafft er die Muskeln um den Mund, so daß der Unterkiefer herabhängt. Der Gegensatz ist in jeder Einzelnheit vollständig, nicht blos in der Bewegung der Gesichtszüge, sondern auch in der Stellung der Gliedmaßen und der Haltung des ganzen Körpers.“ Das Einstemmen der Ellenbogen und Ballen der Fäuste kommt nicht bei allen Racen vor, wenn sie sich indignirt fühlen – und ebenso wird in vielen Gegenden der Erde der hülflose Seelenzustand durch bloßes Achselzucken ausgedrückt, ohne ein gleichzeitiges Drehen der Ellenbogen und Oeffnen der Hände.

In der nämlichen Weise erklärt sich die Geberde des Erstaunens (Figur 9) durch das Princip des Gegensatzes. Dieses Heben der Arme oder doch der Vorderarme, dieses Oeffnen der Hände und Ausstrecken derselben nach hinten mit gespreizten Fingern, es steht in vollkommenem Gegensatze zur Haltung Dessen, der sich im gewöhnlichen, ruhigen Seelenzustande befindet, der nichts thut und an nichts denkt.

Von einem ganz besonderen Interesse aber ist der Ausdruck des Hohnes, welchen uns Figur 5 zeigt. Es ist dies das Bildniß einer Dame, die zuweilen unabsichtlich den Eckzahn der einen Seite zeigt, und welche das mit ungewöhnlicher Deutlichkeit willkürlich thun kann. So konnte nach Ch. Bell der Schauspieler Cooke den entschiedensten Haß ausdrücken, wenn er bei einem schrägen Blicke seiner Augen den äußern Theil der Oberlippe in die Höhe zog und den Eckzahn zeigte. Darwin sagt zu dieser merkwürdigen Ausdrucksweise des Menschen: „Sie enthüllt seine thierische Abstammung; denn Niemand, selbst wenn er in einem tödtlichen Kampfe mit einem Feinde sich auf dem Boden wälzt und versucht, ihn zu beißen, würde versuchen, seine Eckzähne mehr zu brauchen als seine andern Zähne. Wir dürfen wohl nach unsrer Verwandtschaft mit den antropomorphen Affen glauben, daß unsre männlichen halbmenschlichen Urerzeuger große Eckzähne besaßen, und noch jetzt werden gelegentlich Kinder geboren, bei denen sie sich von ungewöhnlich bedeutender Größe entwickeln mit Zwischenräumen in den einander gegenüber stehenden Kinnladen zu ihrer Aufnahme. Wir können ferner vermuthen, obwohl wir keine Unterstützung aus Analogie haben, daß unsre halbmenschlichen Urerzeuger ihre Zähne entblößten, wenn sie sich zum Kampfe bereiteten, da wir es immer noch thun, wenn wir wild werden, oder wenn wir einfach irgend Jemanden verhöhnen oder ihm herausfordernden Trotz bieten, ohne irgend welche Absicht, mit unsren Zähnen wirklich Angriffe zu machen.“

Es steht freilich wohl zu befürchten, daß Worte, wie diese,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_307.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)