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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Am Ende aber gab es in diesem Kaffeehause mehr Blinde als Sehende und fast mehr Trommeln als Ohren. Durch die Belagerung von Paris ward es vollends zu Grunde gerichtet und genöthigt, seine Pforten zu schließen. Die Blinden unternehmen nicht mehr ihre abendlichen Omnibusfahrten, und was aus dem Wilden mit den fünfzehn Trommeln und dem Bauchredner geworden, das wissen die Götter.

Vielleicht wissen die Götter auch, was am Ende aus den vielen Sängern und Sängerinnen wird, die sich jeden Abend in den Cafés-chantants, und zwar während der schönen Jahreszeit in den Elysäischen Feldern und während der rauhen im Innern der Stadt hören lassen. Gar viele dieser lyrischen Künstlerinnen haben eine dunkle Vergangenheit. Unter Ersteren aber giebt es manches verfehlte Genie, manchen Conservatoriumsschüler, von dem man sehr viel erwartete und der den Erwartungen so wenig entsprach, daß er statt der erhofften hunderttausend Franken jährlicher Gage sich mit dem hundertsten Theil begnügen muß und statt, wie er sich einst geschmeichelt, vor gekrönten Häuptern zu singen und von feinen mit Glacéhandschuhen bekleideten Händen applaudirt zu werden, seine zerbrochenen Triller vor der kleinen Bourgeoisie spinnen muß und von Händen bekatscht wird, die niemals Handschuhe getragen und nur oberflächlich gewaschen sind. Indessen kommt es auch vor, daß in diesen Anstalten ein bedeutendes lyrisches Naturtalent entdeckt wird, welches seinen eigenen Werth nicht kennt, von dem glücklichen Entdecker herangebildet wird und dann auf den größten Scenen Europas die Kunstfreunde in Flammen setzt.

Jedes Café-chantant hat eine kleine Bühne, oder wenigstens eine Estrade, auf der nicht nur Sänger und Sängerinnen, sondern auch Schauspieler und Schauspielerinnen ihr Talent zum Besten geben. Es leben in Paris Hunderte, ja Tausende solcher Künstler untergeordneten Ranges. Auf welche Weise enden dieselben? Diese Frage ist schon oft aufgeworfen, aber von Niemandem beantwortet worden. Sie gleichen darin den Spatzen, die man überall in großer Menge sieht und von denen ebenfalls kein Sterblicher weiß, wie sie ihr Leben beschließen. Paris ist ein Ocean. Man kann hier auf tausendfache Art spurlos zu Grunde gehen. Die Verschwundenen lassen keine Lücke zurück.

In den Pariser Vorstädten giebt es sehr viele Kaffeehäuser, wo Getränke von höchst räthselhafter Mischung verabreicht werden, wo der Kaffee weder von Java, noch von Martinique stammt, wo man den Traubensaft erst tausend widrigen Proceduren unterwirft, bevor er der Kundschaft dargeboten wird, und wo in den geistigen Getränken alle Geister herrschen, nur kein guter. Diese Anstalten bilden die Zufluchtsstätten der Armuth und des Elends. Sie sind schlecht beleuchtet und die ganze Einrichtung, wenn hier von Einrichtung die Rede sein kann, entspricht vollkommen dem Stande und dem Zustande der Besucher. Und dennoch gehören diese Anstalten nicht zu den widrigsten. In den alleräußersten Stadttheilen von Paris findet man Kaffeehäuser, in denen neben der Armuth auch das Verbrechen einkehrt. Dort wird der Kaffee, wie man das ekelhafte Gebräu nennt, nicht in Tassen, sondern in dicken Näpfen und der Wein in irdenen Töpfen servirt, und zwar gegen augenblickliche Bezahlung. Die Solidität der Gefäße hat den Grund in der beständigen Gefahr, der sie ausgesetzt sind; und der Wirth hat auch die allertriftigsten Gründe auf die Entrichtung der Consumtion nicht einen einzigen Augenblick zu warten. Er kennt seine Kundschaft und weiß, daß gar Mancher von ihr mit der Themis sehr über den Fuß gespannt ist. Die schmutzigen Hände, welche den Napf oder den Topf ergreifen, haben schon mit falschen Schlüsseln um Mitternacht Zimmer- und Schrankthüren geöffnet, oder sich gar mit Blut befleckt. Mehr als einer dieser Kunden hat einen Theil seines Lebens zwischen dicken Mauern zugebracht und dort auf’s Bitterste bereut – nicht vorsichtiger gewesen zu sein. Der Wirth taugt nicht mehr als die Kundschaft; das Etablissement wird daher von Polizeigehülfen überwacht, die sich in allerlei Verkleidungen unter die Gäste mischen. Diese ihrerseits sind fortwährend auf der Hut und betrachten mit Mißtrauen jedes fremde Gesicht, das sie gewahr werden.

Manche dieser Kaffeewirthschaften dienen zu Spielhöllen und suchen sich in den entferntesten und ödesten Stadtteilen, und dort in halbverfallenen Häusern, zu verstecken. Sie werden aber früher oder später doch entdeckt. Das Nest wird dann ausgehoben und das lose Gevögel in feste Käfige gethan.

Ich habe vor mehreren Jahren eine der oben erwähnten Spelunken besucht und werde niemals den Eindruck vergessen, den dieselbe auf mich machte. Das Etablissement bestand aus einem sehr weiten, sehr hohen Raume, dessen unbekleidete steinerne Mauern von Ruß angeschwärzt waren; ich vermuthe, daß sich in derselben ehemals eine Schmiedeesse befunden. Männer und Weiber verschiedenen Alters saßen auf hölzernen Bänken an langen schmutzigen Tischen, und jedes Individuum hatte einen Topf mit Wein vor sich. Auf den Gesichtern dieser Kundschaft malten sich alle Grade der Verkommenheit. Die Männer waren fast ausschließlich in Blousen mit schlecht zusammengeflickten Lappen gekleidet; die Frauen trugen sämmtlich als Kopfbedeckung ein baumwollenes, über der Stirn geknüpftes Tuch, dessen ursprüngliche Farbe selbst das geübteste Auge nicht mehr entdecken konnte. Ekelhafte Ausdünstungen und Tabaksqualm verpesteten die Luft, so wie der Gesang der Einen, das Geschrei der Anderen und das Klappern der Töpfe das Ohr beleidigten. Die sehr zahlreiche Gesellschaft gehörte größtentheils zum Stande der Chiffonniers, der Lumpensammler, dem letzten aller Stände, in welchen sich alle Hungerer und Lungerer, alle verfehlten Menschen und sehr oft bestrafte Verbrecher flüchten.

Ich hatte mich in einem Winkel an einen Tisch gepflanzt und dachte nur daran, wie ich mit Glimpf wieder in’s Freie kommen könnte, zumal sich viel neugierige und verdrossene Blicke auf mich richteten, als ein alter Mann, der mir gegenüber saß, auf’s Lebhafteste meine Aufmerksamkeit erregte. Er trug einen alten schwarzen Leibrock und einen alten Seidenhut, der bereits stark in’s Roth schillerte. Aber nicht nur durch seine Kleidung, sondern auch durch seine Physiognomie zeichnete er sich vor den übrigen Gästen aus. Das Elend hatte in seinen Gesichtszügen stark gewühlt; doch verriethen dieselben einen Mann, der nicht zu dieser Gesellschaft paßte. Er wurde auch von seiner Tischnachbarschaft mit einer gewissen Ehrfurcht behandelt. Sie nannten ihn „Docteur“. Sein Nachbar zur Rechten ersuchte ihn um ein Mittel gegen ein hartnäckiges Halsleiden, worauf der Alte erwiderte, er würde ihm ein solches verschreiben. In seiner Aussprache glaubte ich einen leichten deutschen Accent wahrzunehmen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Auf meine Frage, ob ich einen Landsmann in ihm gefunden, antwortete er sogleich in deutscher Sprache, und ich erfuhr von ihm, daß er wirklich Arzt sei, daß er in Heidelberg das Doctorexamen trefflich bestanden und sein Diplom erhalten habe. Ich bat ihn, mit mir in’s Freie zu gehen. Er zögerte einen Augenblick, willigte aber endlich ein, und zu meinem Erstaunen sah ich jetzt, daß er Holzschuhe trug.

Sobald wir die abscheuliche Kneipe verlassen hatten, sagte ich ihm, daß keine blöde Neugierde, sondern eine aufrichtige Theilnahme meinen Wunsch veranlaßt, mich ungestört mit ihm zu unterhalten.

„Sie sehen in mir eine Menschenruine,“ begann er, indem er die tiefgefurchte Stirn zusammenzog; „aber seien Sie fest überzeugt, daß keine schlechte Handlung mich in den Abgrund gestürzt, in welchem sie mich sehen. Es hat mir weder an Wissen, noch an gutem Willen gefehlt, mir eine geachtete Stellung zu erwerben, sondern an Muth und Gewandtheit. Mit geringen Mitteln, aber voll Hoffnung kam ich nach Paris und zweifelte nicht, bald ein glänzendes Ziel zu erreichen. Ich hatte nicht bedacht, daß in dieser Weltstadt das Wissen und das Talent allein nicht genügen, daß man eine außerordentliche Energie besitzen müsse, um sein Talent und sein Wissen geltend zu machen. Meine Geldmittel waren bald erschöpft. Ich war daher genöthigt, meine Möbel zu verkaufen, meine Wohnung in der Rue Vivienne zu verlassen und ein möblirtes Zimmer im Faubourg St. Denis zu beziehen. Auch dort gelang es mir nicht, eine Praxis zu erwerben. Statt nach allen Enden und Ecken zu laufen, mir Eingang in viele Familien zu verschaffen, mich von Freunden empfehlen zu lassen und mich selber zu empfehlen, blieb ich zu Hause oder studirte in den Bibliotheken, sowohl um meinen Wissensdrang zu befriedigen, als auch meine traurige Lage zu vergessen. Dieselbe erregte nach und nach in mir ein unbezwingliches Schamgefühl, das mich menschenscheu machte. Dadurch sank ich immer tiefer, und seit Jahren lebe ich abgeschieden in diesem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_314.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)