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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Publicum zumeist nicht der sogenannte gebildete Theil des Volks. Während einerseits gerade in der Jetztzeit die Bildung begierig alle Züge nationalen Lebens zu erhaschen und festzuhalten sucht, geht sie an diesem werthvollen Reste des altdeutschen Volksdramas meist theilnahmlos vorüber. Es hat stets mit zu den Aufgaben der Gartenlaube gehört, den Gängen der Culturentwicklung unseres Volkes nachzugehen. So darf auch dieser verborgene Hort den Lesern der Gartenlaube nicht länger fremd bleiben.

Das Repertoire unserer Bühne besteht außer den erwähnten „Faust“ und „Hamlet“ gewöhnlich noch aus folgenden Stücken: „Genoveva, Pfalzgräfin bei Rhein“; „Judith und Holofernes“; „Kunz von Kaufungen oder der sächsische Prinzenraub“; „Das Müllerröschen oder die Schlacht bei Auerstädt“; „Die Rückkunft aus Palästina oder der zweihundertjährige wandelnde Geist“; „Der Eremit von Formentera oder die Schlangeninsel“; „Don Juan“; „Der studirte Nachtwächter“ und dergleichen. Alle diese verschiedenen Stücke stehen in so weit in einem innern Zusammenhange, als in ihnen allen eine Figur stets wieder auftritt, dies ist der bereits erwähnte Casperle, die lustige Person. Trotz des äußern Rollenwechsels ist dabei sein Charakter genau festgehalten und in allen Stücken derselbe. Mit den humoristischen Figuren Shakespeare’s, namentlich mit „Falstaff“, hat er Manches gemein. Er hat immer Hunger und noch größeren Durst; er ist ebenso aufschneiderisch und hat doch in der Stunde der Gefahr ebensowenig Courage, wie Jener. Dennoch stiftet er gern Händel und zettelt Prügeleien an. Dabei ist er aber nicht so fett und gichtgeplagt, wie „Falstaff“, sondern schmeidig und beweglich, klug und durchtrieben, weiß er aus den bedenklichsten Situationen sich glücklich herauszuretten. Während sein Herr in den meisten Fällen der Tragik seines Geschicks unterliegt, kommt er mit heiler Haut davon. Natürlich. Er darf ja nicht sterben; sonst könnte er ja im nächsten Stücke nicht wieder mit auftreten. Auch der Teufel kann ihm nichts anhaben. Als er, um der Luftfahrt gen Parma theilhaftig zu werden, dem ihm zugegebenen Teufel sich verschreiben soll, philosophirt der Schlaukopf dieses Ansinnen mit den Worten hinweg: „Was soll ich Euch verschreiben? Den Leib brauch’ ich selber, denn ohne den kann ich nicht mitfahren. Und was die Seele betrifft, eine Seele hat Casperle nicht. Ihr dummen Teufel, daß Ihr das nicht gemerkt habt. Als ich zur Welt gekommen bin, war keine Seele mehr vorräthig.“ In effektvoller Weise weiß der Poet dieser Stücke mittelst dieser lustigen Person die oft thörichten Thaten seines Herrn zu parodiren. So stellt er sich mit seinem stark materialistischen Drange nach guten Mahlzeiten und hohen Trinkgeldern gleich im ersten Acte des Faustdramas in einen scharfen Gegensatz zu dem die verborgenen Tiefen der Natur erforschenden Faust und dem gelehrten „Grillenfänger“ Wagner, der da meint, man müsse Mitleid haben mit dem einfältigen ungelehrten Menschen; wenn er studirt hätte, wäre er wohl so lustig nicht. Im zweiten Act parodirt er dann die Geistercitation in ebenso drastischer Weise wie im dritten Act die Wunderthaten seines Meisters, während er im letzten Act die Scenen der steigenden Verzweiflung des der Hölle verfallenen Faust durch die realistischen Scenen seines häuslichen Lebens mildernd unterbricht.

In der „Rückkunft aus Palästina“ tritt zu der edlen tiefen Treue der Gräfin Kunigunde, welche ihrem mit dem Kreuzheer nach dem Orient gezogenen Geliebten sieben Jahre treu geblieben ist, der leichte Sinn von Casperle’s Frau in Gegensatz, welche nach dem angeblichen Tode ihres Gatten rasch einen Andern geheirathet hat: ein Umstand, der ihr von ihrem heimkehrenden Gatten eine gute Tracht Prügel zum Willkommen einträgt. Casperle ist, wie aus mehreren Stücken hervorgeht, verheirathet; seine Ehe ist aber keine glückliche, sondern eine stete Abwechselung von Schelten und Schlägen: Bei all seinem Hang zum Leichtsinn ist er aber kein Bösewicht. Für das Böse hat er eine zu harmlose Natur. Und wenn er auch nur des leidigen Geldes willen scheinbar mit dem Bösen sich verbindet, wie in der „Genoveva“, wo er dem Golo für fünfzig Gulden den Pfalzgrafen zu morden verspricht, so führt er doch die böse That nicht aus, er verräth sie vielmehr dem Grafen.

Eine große Rolle spielen in unsern Stücken die Erscheinungen der Geister, diese „verkörperten Gewissensbisse“. So erscheint dem Kunz von Kaufungen der Geist seines todten Vaters und warnt ihn vor der Ausführung des Prinzenraubes. Eigenthümlich und die große dramatisch-plastische Anschaulichkeit dieser Volksstücke beweisend ist auch die Erscheinung, daß die innern Seelenkämpfe der Helden, welche die moderne Kunstdichtung in langen Monologen zum Ausdruck zu bringen pflegt, aus der Seele des Individuums gleichsam losgelöst und in einzelnen Stimmen „von rechts und links“ verkörpert werden. So fordert die Stimme zur Linken den grübelnden Faust auf, sich der Magie zu ergeben, während die Stimme zur Rechten, die sich als sein Schutzgeist ausgiebt, ihn aufleht, sich nicht verblenden zu lassen und bei dem Glauben zu bleiben. Als in dem angebrochenen Wettstreite dann die Stimme zur Linken den Sieg davon zu tragen beginnt, schwillt dieselbe zu einem förmlichen Chor an.

Daß die Stücke für moderne Nervenschwäche kein Verständniß haben, ist wohl selbstverständlich. Die Enthauptung des Prinzenräubers Kunz von Kaufungen geht deshalb ebenso auf offener Bühne vor sich, wie die Abschlagung des Kopfes von Holofernes durch Judith.

Die Gewalt der dramatischen Macht, das Packende der Handlung tritt noch vielfach in einer Weise hervor, daß unsere heutigen Buchdramatiker davon lernen könnten. So, um nur ein Beispiel zu erwähnen, in der Rachethat des von der Pfalzgräfin Genoveva mit seinen Liebesanträgen energisch zurückgewiesenen Golo. Dieselbe besteht darin, daß Golo den Lieblingsdiener der Gräfin, den Koch Trogo, ersticht, den Leichnam in das Gemach der schlafenden Gräfin schleppt und sodann mit lautem Geschrei das ganze Hofgesinde herbeiruft, um in Gegenwart desselben zu verkünden, daß er den Koch aus Pflichteifer getödtet habe, weil er ihn im Gemache seiner Herrin ertappte. Diese einzige Handlung gewährt nicht blos eine bedeutende dramatische Ausbeute, sondern es baut sich auch auf ihr das ganze weitere Stück leicht und wahrscheinlich auf. Der Charakter des Golo steht mit einem Male in seiner ganzen Furchtbarkeit, in seiner Mischung von Heuchelei, Schlauheit, Grausamkeit und Rachsucht vor uns, während ebenso die Täuschung der Umgebung der Gräfin über deren wahren Charakter, aus welcher die Fortentwicklung der ganzen Handlung beruht, damit wahrscheinlich wird. Das weitere Fortschreiten Golo’s auf seiner dunkeln Bahn, namentlich sein Plan, auch den Pfalzgrafen selbst aus dem Wege zu räumen, um sich vor den drohenden Folgen seiner Reue zu sichern – ein Zug, der ebenso wenig wie die geschilderte That der alten Volkssage entnommen, sondern frei erfunden ist – ergiebt eine Steigerung, wie wir sie sonst nur bei den Bösewichten Shakespeare’s gewohnt sind.

Schließlich sei es uns vergönnt, noch auf das Stück „Faust“ näher einzugehen, schon um erkennen zu lassen, wie es Goethe nicht verschmäht hat, auf diesem kleinen Stücke sein erhabnes Meisterwerk aufzubauen – freilich in einer Weise, daß auf einem Sandkorn sich ein Dom gewölbt hat.

Wir finden Faust in seinem Studirzimmer, vor einem Folianten sitzend, und also vor sich hinsprechend:

So weit hab’ ich’s nun mit Gelehrsamkeit gebracht,
Daß ich allerorten werd’ ausgelacht.
Alle Bücher durchstöbert von vorn bis hinten
Und kann doch den Stein der Weisen nicht finden.
Jurisprudenz, Medicin, Alles umsonst,
Kein Heil, als in der nekromantischen Kunst.
Was half mir das Studium der Theologie?
Meine durchwachten Nächte, wer bezahlt mir die?
Keinen heilen Rock hab’ ich mehr am Leibe
Und weiß vor Schulden nicht wo ich bleibe.
Ich muß mich mit der Hölle verbünden,
Die verborgenen Tiefen der Natur zu ergründen etc.

Dann kommt der bereits erwähnte Seelenkampf Faust’s, dargestellt durch den Streit seines guten und bösen Genius. In einer weitern Scene mit dem Famulus Wagner erhält Faust den Besitz des von ihm gesuchten werthvollen Buches über den Schlüssel der Magie. Im zweiten Acte citirt Faust mit Hülfe dieses Buches die Geister. Sieben derselben entläßt er wieder, da das Maß der Geschwindigkeit ihrer Dienste ihm nicht genügt, obwohl sich dieselbe von derjenigen der Schnecke im Sande, des Baches vom Felsen, des Vogels in der Luft, der Kugel im Laufe bis zu der des Windes und des Pesthauchs steigert.

Endlich erscheint als achter Geist Mephistopheles, der so geschwind ist wie der Gedanke des Menschen. Diese Schnelligkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_341.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)