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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

und gravitätisch, wie das die Art seines Alters war, aber doch, mit herzlicher Freundlichkeit. Lotte hatte sich gut erhalten: ihre Gestalt, ihre Augen, ihre Wangen waren sogar noch immer schön; aber – sie wackelte mit dem Kopfe. Als sie gegangen, mochte der alte Olympier, wie stark zu vermuthen steht, in seiner damals schon häufig weit ins Chinesische sich hineinschnörkelnden Ausdrucksweise sich sagen: „Noch immer etwas, manches sogar von der Lotte von ehedem; aber der Wackelkopf! Und um sie bin ich verzweifelnd in der Werthertracht herumgelaufen? Hm, hm – wunderlichst, unbegreiflichst, incommensurabelst!“ Und doch ist die Wertherstimmung ihm später noch einmal nahegetreten. Zur Zeit nämlich, als die junge Ulrike von Lewezow in Marienbad das Herz des vierundsiebzigjährigen Dichtergreises mit Jugendglut erfüllt hatte. Der Buchhändler Weygand in Leipzig, der ursprüngliche Verleger des Werther, wollte zum Herbste von 1824, wo gerade fünfzig Jahre seit dem Erscheinen des Romans verflossen waren, eine Jubelausgabe desselben veranstalten und bat den Verfasser um ein einleitendes Gedicht. Goethe entsprach dem Wunsche und schrieb die wertherisch-schmerzliche Betrachtung nieder, welche er später als erstes Stück der „Trilogie der Leidenschaft“ in seine Werke aufnahm und die mit den tiefgefühlten Zeilen anhebt:

„Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten,
Hervor dich an das Tageslicht.
Begegnest mir auf neubeblümten Matten
Und meinen Anblick scheust du nicht.
Es ist, als ob du lebtest in der Frühe,
Wo uns der Thau auf einem Feld erquickt
Und nach des Tages unwillkommner Mühe
Der Scheidesonne letzter Stral entzückt:
Zum Weilen ich, zum Scheiden du erkoren,
Gingst du voran und – hast nicht viel verloren!“




Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Aber noch ehe er oder die Anderen diesen Entschluß ausführen konnten, wurde drunten rasch und heftig das Zeichen zum Heraufziehen gegeben. Die Obenstehenden athmeten auf und traten näher an die Oeffnung heran, in der auch nach kurzem Harren die Förderschale erschien. Ulrich stand in derselben, das Antlitz entstellt und geschwärzt vom Schweiß und Staub der furchtbaren Arbeit in den Schachten, die Kleidung zerfetzt, zerrissen, bedeckt mit Erde und Steintrümmern, während ihm von Stirn und Schläfen das Blut niederrieselte. Wie bei der Einfahrt hielt er den jungen Chef umfaßt, aber diesmal stützte er nicht blos einen Wankenden; Arthur’s Haupt lag todtenbleich mit geschlossenen Augen auf seiner Schulter, und seine Gestalt hing unbeweglich und leblos in den Armen, welche sie mit Anstrengung aller Kräfte aufrecht erhielten.

Ein Ruf des Schreckens tönte von allen Seiten. Man wartete kaum, bis die Maschine still stand. Mehr als zwanzig Arme streckten sich aus, den Besinnungslosen in Empfang zu nehmen und ihn zu seiner Gattin zu tragen, die, gleich all’ den Uebrigen, während der ganzen Zeit nicht von der Stätte des Unglücks gewichen war. Alles umdrängte die Beiden. Man rief nach Hülfe, nach dem Arzte, und Niemand achtete in der allgemeinen Verwirrung auf Ulrich, der es seltsam still und willenlos hatte geschehen lassen, daß man die Last aus seinen Armen nahm. Er sprang nicht mit seinen gewohnten raschen und energischen Bewegungen aus der Förderschale; langsam, mühsam stieg er aus und mußte sich zweimal an den Ketten festhalten, um nicht umzusinken. Er gab auch jetzt noch keinen Laut von sich, aber die Zähne des jungen Bergmanns waren wie in wüthendem Schmerze aufeinander gebissen, und das Blut strömte stärker, wenn man auch unter der dicken Staubschicht nicht sehen konnte, daß sein Gesicht an Leichenblässe dem des jungen Chefs nichts nachgab. Er ging schwankend noch einige Schritte vorwärts, bis in die Nähe der Gruppe, die sich um Arthur drängte, dann hielt er plötzlich inne und umfaßte krampfhaft mit beiden Armen einen der beiden Pfeiler des Gebäudes, um sich daran aufrecht zu erhalten.

„Beruhigen Sie sich, gnädige Frau! Es ist ja nur eine Ohnmacht,“ tröstete der Arzt, der, bei den Verunglückten beschäftigt, sofort hergeeilt war. „Ich finde nicht die geringste Verletzung an dem Herrn; er wird sich erholen.“

Eugenie hörte nicht auf den Trost; sie sah nur das bleiche Antlitz mit den geschlossenen Augen, nur die hingestreckte Gestalt, die kein Lebenszeichen von sich gab. Es hatte eine Zeit gegeben, wo die junge Frau als Neuvermählte, wenige Stunden nach ihrer Trauung, als eine fremde Hand sie der Gefahr entriß und sie noch in Ungewißheit über das Schicksal ihres Gatten schwebte, mit kühler Besonnenheit und Ruhe zu ihrem Retter gesagt hatte: „Sehen Sie nach Herrn Berkow!“ Was Kälte und Verachtung damals gesündigt, das freilich war mehr als gesühnt durch die Qual dieser letzten Stunden, in denen sie erfahren hatte, was es heißt, für das Geliebte zu zittern, ohne ihm helfen zu können, ohne ihm auch nur nahe zu sein. Jetzt sandte und ließ sie keinen Anderen an seine Seite; jetzt lag sie auf den Knieen neben ihm und rief wie jede andere Frau in Todesangst den Namen ihres Mannes:

„Arthur!“

Es war ein Schrei der leidenschaftlichsten Liebe, der vollsten Verzweiflung, und bei diesem Aufschrei ging ein leises schmerzliches Zucken durch die Gestalt des jungen Bergmannes, der noch immer am Pfeiler lehnte, und der sich aufrichtete bei diesem Ton. Noch einmal wandten sich die finsteren blauen Augen hinüber zu den Beiden, aber es lag nichts mehr von dem alten Trotz und Haß darin, nur ein stummes tiefes Weh; dann umschleierte sich der Blick; die Hand hob sich, nicht nach der blutenden Stirn, sondern nach der Brust, wo doch keine Verletzung war, aber sie preßte sich so fest darauf, als wühle dort der schlimmere Schmerz, und in demselben Augenblicke, wo Arthur in den Armen seines Weibes das Auge aufschlug, stürzte Ulrich hinter ihnen zusammen. – – –

Obgleich jetzt auch die Letzten dem Schachte entstiegen waren, blieb es doch seltsam still und bang in der versammelten Menge. Kein Jubel, keine Freudenbezeigungen gaben sich kund; der Anblick der Geretteten verbot sie. Man wußte ja noch nicht, wer von ihnen wirklich dem Leben erhalten blieb, und ob der Tod nicht noch die ihm mühsam entrissenen Opfer zurückverlangte. Der junge Chef hatte sich schneller von seiner Ohnmacht erholt, als man geglaubt. Es war in der That ein Nachsturz des schwer erschütterten Erdreiches gewesen, der ihn und seinen Gefährten noch im letzten Augenblick getroffen, aber wunderbarer Weise hatte Arthur nicht die geringste Verletzung davon getragen; er stand bereits wieder aufrecht, wenn auch noch matt und bleich, auf den Arm seiner Gattin gestützt, und bemühte sich, seine Erinnerungen zu sammeln, um Eugeniens angstvolle Fragen zu beantworten.

„Wir befanden uns bereits am Ausgange des Schachtes. Hartmann war einige Schritte vorauf und somit schon in Sicherheit; da muß er irgend ein Anzeichen der Gefahr bemerkt haben. Ich sah ihn plötzlich zu mir zurückstürzen und meinen Arm ergreifen, aber es war zu spät; schon wankte Alles um und über uns. Ich fühlte nur noch, wie er mich zu Boden riß und sich über mich warf, fühlte, wie er mich mit seinem eigenen Körper gegen die herabstürzenden Trümmer deckte – dann vergingen mir die Sinne.“

Eugenie gab keine Antwort; sie hatte die Nähe dieses Mannes so unendlich gefürchtet, hatte so namenlos gezittert, als sie hörte, daß Arthur in seiner Begleitung das Wagniß unternommen, und jetzt dankte sie es dieser Nähe allein, daß sie den Gatten lebend und gerettet in ihren Armen hielt.

Der Oberingenieur näherte sich den Beiden. Sein Gesicht war sehr ernst, und auch seine Stimme hatte einen tiefernsten Klang, als er sagte: „Der Arzt meint, sie würden Alle gerettet werden, nur der eine, der Hartmann nicht – bei dem ist jede Hülfe umsonst! Was er heute da unten in den Schachten geleistet, das war zu viel, selbst für seine Riesennatur, und die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_357.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)