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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Wunde hat dann noch das Uebrige gethan. Wie er es möglich gemacht hat, trotz dieser schweren Verwundung sich und Sie, Herr Berkow, aus den Trümmern emporzuarbeiten, Sie in die Förderschale zu heben und festzuhalten, bis Sie in Sicherheit waren, das ist fast nicht zu begreifen, und war eben auch nur ihm möglich. Er hat es gethan, aber er wird es auch mit dem Leben bezahlen!“

Arthur sah seine Gattin an; ihre Blicke begegneten und verstanden sich. Er raffte sich trotz seiner Erschöpfung empor und die Hand Eugeniens ergreifend, zog er sie fort nach dem Platze, wo den Verunglückten die erste, reichlich gebotene Hülfe zu Theil ward. Nur einen, den letzten, hatte man abseits getragen. Ulrich lag auf dem Boden ausgestreckt; sein Vater war noch nicht wieder zur Besinnung zurückgekehrt und wußte nichts von dem Schicksal des Sohnes, aber dieser war deshalb nicht allein oder nur von fremder Hülfe umgeben; an seiner Seite kniete ein junges Mädchen, das den Kopf des Sterbenden in ihren Armen hielt und mit dem Ausdruck herzzerreißender Angst in seine Züge blickte, ohne auf ihren Bräutigam zu achten, der an der andern Seite stand und die erkaltende Hand des Freundes gefaßt hatte. Ulrich sah beide nicht, wußte vielleicht gar nicht mehr, daß sie bei ihm waren; sein Auge war groß und starr auf den flammenden Abendhimmel, auf die sinkende Sonne gerichtet, als wolle es noch einen Strahl des ewigen Lichtes einsaugen und mit hinübernehmen in die lange düstere Nacht.

Arthur hatte eine halblaute Frage an den gleichfalls anwesenden Arzt gerichtet; dieser antwortete mit einem stummen Achselzucken – der junge Chef wußte genug. Die Hand seiner Gattin loslassend, flüsterte er ihr einige Worte in’s Ohr und trat dann zurück, während Eugenie sich zu Ulrich niederbeugte und seinen Namen nannte.

Da flammte es noch einmal mitten durch den Nebel des Todes mächtig auf; die ganze Gluth und Leidenschaft des Lebens drängte sich für einen Moment nochmals zusammen in diesem Blick, den er mit dem Ausdruck des vollsten Bewußtseins auf die junge Frau richtete, deren Lippen jetzt eine bange leise Frage aussprachen:

„Hartmann! Sind Sie schwer verwundet?“

Das Weh von vorhin zuckte wieder über sein Antlitz; die Stimme klang dumpf, gebrochen, aber ruhig. „Was fragen Sie nach mir? Sie haben ihn ja wieder. Was brauche ich da noch zu leben! – Ich hab’s Ihnen ja vorher gesagt: Er oder ich! Ich meinte es freilich anders, aber das war’s doch, was mir durch den Kopf fuhr, als die Wand stürzte. Da dachte ich an Sie und Ihren Jammer, und dachte daran, daß er mir da oben die Hand gereicht hatte, als sonst Niemand sie wollte, und da – da warf ich mich über ihn!“

Er sank zurück; der aufflammende Funke erlosch schnell in der Anstrengung des Sprechens, aber dieses wilde glühende Leben verblutete sich im Tode ruhig, ohne Kampf und Qual. Der Mann, dessen ganzes Dasein nur Haß und Kampf war gegen die, die das Schicksal über ihn gestellt, er hatte in der Rettung des Gehaßten sein Ende gefunden. Die Ahnung war zur Wahrheit geworden, die das Wasser ihm gestern zurauschte; es hatte aus der Tiefe der Schachte hervor dem Opfer den Todesgruß gebracht. Er brauchte nicht mehr über dieses „morgen“ hinauszublicken, das sich so dicht vor ihm verschleierte; es war Alles zu Ende für ihn mit diesem „morgen“ – Alles!

Drüben von der Landstraße her tönte der tactmäßige Schritt einer vorrückenden Menge, tönten Commandoworte und Waffenklirren; die aus der Stadt erbetene und erwartete Hülfe gegen den Aufruhr war eingetroffen. Schon beim Betreten der Colonie hatte der befehlshabende Officier erfahren, was hier geschehen war; er ließ seine Leute drüben auf der Chaussee Halt machen und kam, nur von einigen begleitet, hinüber auf den Schauplatz des Unglücks, wo er den Chef zu sprechen verlangte. Arthur trat ihm entgegen.

„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sagte er mit ruhigem Ernste. „Aber Sie kommen zu spät; ich bedarf Ihrer Hülfe nicht gegen meine Leute. In einem gemeinsamen zehnstündigen Kampfe um das Leben der Unsrigen haben wir Frieden miteinander gemacht – hoffentlich für immer!“




Wieder war es Sommer geworden; wieder lag Sonnenschein und Sommerpracht auf den Waldbergen und Thälern und über der Berkow’schen Colonie, wo sich das Leben so rührig und rüstig regte, wie nur je vorher, aber freier, freudiger war es geworden. Es wehte jetzt wie ein Athem von Freiheit und Glück durch diese Werke, die an Großartigkeit nichts eingebüßt hatten, wo sie doch Alles gewannen, was ihnen einst fehlte. Freilich war das nicht in Wochen und Monaten geschehen; es hatte Jahre dazu gebraucht, und sie waren nicht leicht gewesen, diese Jahre, die der Katastrophe folgten. Damals, als die Arbeit auf den Werken wieder aufgenommen wurde, lag noch eine schwere Last auf den Schultern des jungen Chefs, der zwar Frieden gemacht hatte mit seinen Leuten, aber auch beinahe am Ruine stand. Jene Zeit der Gefahr, wo es sich darum handelte, mit persönlichem Muthe und persönlicher Aufopferung den Excessen einer rebellischen Menge gegenüberzutreten, war vorüber; aber nun kam das Andere, Schwerere, die Zeit der Sorge, der steten mühseligen Arbeit, des oft verzweiflungsvollen Ringens mit der Macht der Verhältnisse, die Arthur fast zu Boden drückten. Doch er hatte in dem ersten Kampfe seine Kräfte kennen und erproben gelernt; er wußte sie in dem zweiten zu gebrauchen. Länger als ein Jahr war es zweifelhaft gewesen, ob die Werke überhaupt ihrer Bestimmung und ihrem Besitzer erhalten blieben, und auch nachdem diese erste, gefährlichste Krisis überstanden war, gab es noch immer genug der Gefahren und Verluste, denen man die Stirn bieten mußte. Schon während der letzten Lebenszeit des alten Berkow hatten gewagte Speculationen, maßlose Verschwendung und vor Allem das gewissenlose, nur auf den augenblicklichen Gewinn berechnete System der Unternehmungen, dessen verhängnißvolle Folgen doch schließlich auf den Unternehmer zurückfielen, die Stellung und das Vermögen desselben schwer erschüttert. Der Stillstand der Werke, die fast einen Monat lang feierten, das Unglück in den Schachten, zu deren Herstellung die bedeutendsten Mittel nöthig waren, drohten das schon halb Verlorene vollends zu vernichten. Mehr als einmal schien es unmöglich, die Werke zu behaupten; mehr als einmal schienen die Wunden, welche die Vergangenheit und vor Allem der letzte Streit ihnen geschlagen, unheilbar zu sein; aber der so spät erwachte Charakter Arthur’s stählte und entwickelte sich vollends in dieser Schule ununterbrochener angestrengter Thätigkeit.

Es wankte Alles und drohte zusammenzustürzen, als der junge Chef vor Jahren an die schwere Aufgabe gegangen war, aus einem wahren Chaos von Geschäften, Verpflichtungen und Anforderungen, die er vor allen Dingen zu bewältigen hatte, eine neue Ordnung der Dinge zu gestalten; aber er hatte Vertrauen auf sich selbst gelernt; er hatte sein Weib zur Seite, und es galt, für Eugenien und für sich selber die Zukunft und das Lebensglück zu erringen. Das war es, was ihm Muth gab, wo vielleicht jeder Andere muthlos und verzweifelt zurückgewichen wäre; das war es, was ihn aufrecht erhielt, wenn die Aufgabe doch bisweilen über seine Kräfte ging, das war es, was ihm endlich den Sieg zuwandte. Jetzt waren die letzten Nachwehen jener Katastrophe überwunden und das alte Glück zurückgezwungen zu all den Unternehmungen, die sich an den Namen Berkow knüpften; aber dieser Name hatte abgestreift, was ihm einst Schlimmes anhaftete; er stand jetzt rein und ehrenvoll da vor aller Welt. Die Werke mit ihrer riesigen Ausdehnung und ihrem großartigen Betriebe waren fester und sicherer gegründet, als je zuvor, und mit ihnen war es auch der Reichthum des Besitzers. Dieser Reichthum, der dem jungen verwöhnten Erben einst so verderblich zu werden drohte und zum Theil schon geworden war, weil das Glück ihn mühelos zu seinen Füßen niedergelegt hatte, auf den er eben deshalb mit so verächtlicher Gleichgültigkeit herabblickte, jetzt, wo er ihn in jahrelangem Kampfe zurückerobern mußte, wo er in seiner Hand zum Segen für so Viele wurde, jetzt war er ihm auch werth geworden.

Es war gegen Mittag, als der Director und der Oberingenieur, von den Werken kommend, nach ihren Wohnungen gingen. Die Beiden waren wohl älter geworden im Laufe der Jahre, verändert hatten sie sich nicht. Der Eine hatte seine Gutmüthigkeit und der Andere seine Malice behalten, die gerade jetzt wieder aus seiner Stimme klang, als er das vorhin angefangene Gespräch fortsetzte:

„Der Herr Baron von Windeg haben sich schon wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_358.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)