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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

zu tödten. – Alle diese Beispiele sollen nun aber dazu dienen, den Beweis zu führen, daß der Verstand nicht mit auf die Welt kommt, sondern eine Arbeit des Gehirns ist, welche erlernt werden muß und nur nach vorheriger richtiger (das heißt dem jedesmaligen Standpunkte des Wissens angepaßter) Belehrung auch richtig vor sich gehen kann. Würden z. B. die sogenannten Spiritisten oder Geisterklopfer in der Schule gelernt haben, oder würden sie sich noch in ihren alten Tagen darüber belehren lassen, daß es eine Kraft ohne Stoff gar nicht giebt, am allerwenigsten aber eine geistige Kraft, einen Geist, der in ein Tischbein oder in einen Storchschnabel hineinfahren und daraus hervororakeln kann, so würden sie sich von schlauen Medien nicht an der Nase herumführen lassen und sich bei wirklich gebildeten Menschen nicht so lächerlich machen. Würde, wie sich gehörte, in den Schulen Anthropologie und Gesundheitslehre ordentlich getrieben, dann würden sich Kranke nicht an Afterärzte und Geheimmittelschwindler wenden, welche wohl etwas von der schamlosesten Reclame und Geldschneiderei, aber nichts vom menschlichen Körper verstehen.

Der Verstand selbst als Hirnarbeit kann sich nun zwar nicht, wie die sicht- und greifbaren Producte des Verstandes, vererben, wohl kann dies aber der durch vieles und richtiges Denken besser gewordene Verstandesapparat, nachdem das Gehirn sich seinen mit kräftigerer Ernährung verbundenen Arbeiten angepaßt und dadurch an Masse und Kraft zugenommen hat. Daher kommt es denn auch, daß mit vorschreitender Cultur des Menschengeschlechts das Gehirn und mit diesem der Schädel der Menschen immer größer (zumal in der vordern Kopfgegend) geworden ist und daß, wenn bis jetzt der Schädel der Frau kleiner als der des Mannes geblieben ist, dies eben darin liegt, daß schon in der Vorzeit der Mann der Hausfrau und Mutter die geistige Arbeit abnahm und so deren Gehirn weniger arbeiten ließ. Sicher aber werden in Zukunft die Frauen, wenn sie noch mehr als jetzt geistig thätig sind, sich nach und nach eines größeren Gehirnes und also auch eines größeren Schädels erfreuen und diese auf ihre Töchter vererben.

Die Egoisten des natürlichen Verstandes, welche mit der größten Arroganz und Ignoranz über ihnen ganz fremde Gegenstände zu raisonniren und von Unwissenheit strotzende Meinungen aufzustellen sich erlauben, denken und urtheilen nur mit ihrer regellosen Einbildungskraft und ihrem Glauben, statt mit dem auf Realität und Wissen sich stützenden Verstande. Sie meinen, das Wissen fliege ihnen nur so geradezu in den Kopf hinein und dieses brauche nur auf Glaubens- und nicht, wie es doch sein muß, auf Erfahrungsgrundsätzen zu beruhen. Sie mögen sich hiermit gesagt sein lassen, daß ohne hinlängliche naturwissenschaftliche Kenntnisse, besonders ohne Vertrautheit mit dem menschlichen Körper, der Verstand keines richtigen Urtheils, weder über sein eigenes Selbst, noch über seine Verhältnisse zu der Natur und seinen Mitmenschen, fähig ist. Es kann zwar der sogenannte natürliche Verstand noch durch Belehrung mit vielen Begriffen bereichert werden, allein Urtheilskraft kann niemals gelehrt, sie kann nur durch Uebung gewonnen werden.

Am widerwärtigsten sind die Urtheile, welche die Gevattersleute über Spiritismus und Materialismus, sowie über Darwinismus, trotz ihrer positiven Wissensleere, nur mit Hülfe ihres in früher Jugend schon eingeimpften Aberglaubens und ihres angeblich gesunden Menschenverstandes fällen. Sie mögen sich merken, daß über Materialismus nur Der mitreden darf, welcher mit Bau, Leben und Leiden des Gehirns, und zwar ebenso des thierischen wie menschlichen, genau vertraut ist. Auch der philosophischste Kopf darf ohne diese Kenntniß des Gehirns nicht mitreden, denn mit diesem Organe steht alle geistige (spirite) Thätigkeit im innigen Zusammenhange. Und wenn die Wissenschaft zur Zeit auch noch nicht die Art und Weise kennt, wie diese Hirnthätigkeit zu Stande kommt, so steht doch so viel fest, daß ohne richtig gebautes und richtig chemisch zusammengesetztes Gehirn alle geistige Kraft eine Unmöglichkeit ist. Der Materialist – den die unwissende Menge, weil er „gar nichts glaubt und nur zu wissen sich bestrebt“ und weil er alle kirchlichen Glaubenssatzungen nicht anerkennt, für ein zu jeder Schandthat bereites Subject hält, dessen Denken und Thun nur auf materielle Genüsse gerichtet sei, – behauptet nun, daß nach den von Ewigkeit an herrschenden und unveränderlichen Naturgesetzen mit dem Untergange der Materie des Gehirns (daher Materialismus) auch dessen geistige Kraft (der Geist, Spiritus) aufhören muß. Für ihn existirt also eine persönliche Fortdauer, sowie ein Jenseits mit Himmel und Hölle nicht. Für ihn schließt darum das Diesseits schon das Jenseits ein und sein Streben ist deshalb darauf gerichtet, sich schon hier auf der Erde seinen Himmel zu bereiten. Dies hält er aber nur dann für möglich, wenn er sich durch das Princip der Humanität und sein Ehrgefühl in allen seinen Handlungen leiten laßt. Für den Materialisten giebt es daher nur eine Verpflichtung und zwar die, der menschlichen Gesellschaft nützlich zu sein, ihr Wohl sich noch mehr als sein eigenes angelegen sein zu lassen, da er, als der Einzelne, ihr natürlich mehr zu verdanken hat, als sie ihm. Für ihn giebt es keine andere Sünde, als die Verletzung des Eigenthums, der Ehre, der Freiheit und des Friedens seiner Mitmenschen, überhaupt Alles dessen, wobei der Menschen Wohl betheiligt ist. So denkt und thut der echte, d. h. der wissenschaftliche Materialist und ein solcher dürfte, da seine Moral durch Belohnung und Bestrafung im Jenseits nicht beeinflußt wird, einem guten Christen nicht nachstehen. Mit Häckel müssen wir den Wunsch aussprechen, „daß unsere sogenannten ‚gebildeten Kreise‘ endlich einmal aufhören mögen, sich durch die Zweideutigkeit dieses Stichwortes (‚Materialismus‘) täuschen und irre führen zu lassen. Es ist doch wahrlich nicht schwer, bei einem unbefangenen Blicke in Leben und Geschichte gewahr zu werden, daß der gewiß ganz verwerfliche ‚ethische oder sittliche Materialismus‘ ganz und gar nichts mit dem von den echten Materialisten vertretenen ‚wissenschaftlichen oder naturphilosophischen Materialismus‘ zu thun hat. Im Gegentheil schließen sich Beide gewöhnlich geradezu aus. Die praktisch-materialistischen Tendenzen, das hastige Streben nach materiellen Glücksgütern und raffinirtem Lebensgenuß, und die daraus folgende sittliche Entartung findet sich gerade in denjenigen Kreisen der Gesellschaft am stärksten entwickelt, welche am breitesten ihre religiöse Frömmigkeit zur Schau tragen und welche dagegen von der Natur und ihrem Wesen nichts wissen, sich also auch keine philosophisch-materialistischen Gedanken darüber machen können. Umgekehrt findet sich dieser ethische Materialismus gerade am wenigsten bei den materialistischen Philosophen ausgebildet. Wenn diese wirklich materiellen Vortheilen und Genüssen nachjagten, könnten sie wahrlich etwas Zweckmäßigeres und Vortheilhafteres thun, als ihre innersten Ueberzeugungen ehrlich auszusprechen und ihre sociale Stellung denselben zum Opfer zu bringen; denn sie wissen im Voraus, daß sie den herrschenden Vorurtheilen gegenüber nur materielle Nachtheile und persönliche Angriffe dafür zu erwarten haben.“ Daß mit dem Materialismus der Idealismus zu Grunde ginge, kann nur Der behaupten, welcher vom Materialismus nichts versteht. Gerade der Materialist ist mehr als jeder Andere Idealist, denn sein Ideal ist es, die Menschheit ohne Mitwirkung des Glaubens allmählich für die höchste Höhe der Sittlichkeit zu erziehen.

Ueber Darwinismus – d. h.: über die Abstammungs- oder Umbildungslehre (Lamarck’sche Descendenztheorie), nach welcher auf der Erde eine fortschreitende Umbildung der organischen Wesen stattfindet, und über die Züchtungslehre (Darwin’sche Selectionstheorie), welche die mechanisch-wirkenden Ursachen (das Warum und Wie) erforschte, durch welche jene Umbildung zu Stande kommt, – darüber erfrechen sich gelehrte und ungelehrte Crethi und Plethi in einer Weise zu urtheilen, die geradezu bemitleidenswerth ist. Die ungelehrten urtheilen mit Hülfe ihres natürlichen Verstandes, welchen sie dem in der Jugend eingeimpften Glauben an eine ganz unnatürliche Schöpfungsgeschichte, sowie der Arroganz des Menschen verdanken, nach welcher er als Herr der Schöpfung doch nicht mit dem Affen verwandt sein könne. Die gelehrten Verurtheiler der Abstammungslehre sind meistens einseitige und zopfige Zunft- und Fachgelehrte und principielle Feinde dieser Lehre. Für sie existiren die beweisenden Thatsachen einfach gar nicht und sie steifen sich immer und immer wieder auf die angebliche Unzulässigkeit der Beweise für den Darwinismus, ohne es aber zu versuchen, ihre Behauptung wissenschaftlich zu begründen. Sie wollen sich eben nicht von derjenigen Anschauungsweise der Natur trennen, mit welcher sie alt geworden sind. Wenn nun gar gelehrte Sachunverständige (Philosophen) sich erdreisten, den Darwinismus als eine reine Fiction zu bezeichnen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_373.JPG&oldid=- (Version vom 31.7.2018)