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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
VIII.


Der Prophet war in Wetzlar nicht zu dem Berge gekommen, das heißt nicht zu dem hochaufgebauten Berge der Reichskammergerichtsakten: Lotte war ja davor gestanden, und da auch der Berg seinerseits sich nicht zu dem Propheten bemüht hatte, so kam der Wolfgang aus der Lahnstadt als derselbe Nichtjurist zurück, als welcher er vordem aus der Pleißestadt und der Rheinstadt zurückgekehrt war. Wie soll das Corpus Juris unter einer Gehirndecke Platz haben, wo ein Werther zum „Stern der dämmernden Nacht“ hinaufklagt und daneben verschiedene Unbände von Kraft- und Saftgeniestreichen herumrumoren? Etliche davon mußten auch heraus, wollten nicht länger innerhalb der dichterlichen Schädelwände eingesperrt bleiben, da half nichts, und die Kobolde haben, freigegeben, in ihrem jugendlichem Uebermuth mit Pritsche und Knittel (reim) nach rechts und links wacker dreingeschlagen. Das geschah in den Puppenspielen und Possen, welche Goethe, theils durch persönliche und lokale, theils durch literarische Bezüge angeregt, in der Zeit ausgehen ließ, welche zwischen seiner Heimkunft aus Wetzlar und seinem Abgang nach Weimar verstrich: – also in den Fastnachtsspielen „Pater Brei“ (gegen Leuchsenring, das heißt gegen die warmbrüderliche Anschmiegerei und Ränkelei gerichtet) und „Satyros oder der vergötterte Waldteufel“ (gegen Basedow, den kynischen Philanthropen und Pädagogen, oder gegen Heinse, den lüsternen Schwarmgeist, das heißt gegen die nebenbei nach Pöbelgunst lechzende Affektation des von Rousseau erphantasirten sogenannten Naturzustandes), ebenso in dem „moralisch-politischen“ Puppenspiel „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweiler“ (auf allerhand Kameelhöcker der übergestiegenen Aufklärerei wie der süßen Lammfrömmelei losschlagend) und in der Farce „Götter, Helden und Wieland“ (gegen den Dichter der Musarion, das heißt gegen die Verhunzung des Griechenthums durch Beimischung moderner Sentimentalität und gegen die wohlfeile Plattheit abstrakter Tugendlichkeit). Die derbste und tollste dieser Possen, „Hannswursts Hochzeit“ (mit Ursel Blondine), ein sehr bengelhafter Nachschößling der deutschen Fastnachtsspiele des fünfzehnten Jahrhunderts, wagte sich kluger Weise über den engeren Freundeskreis des Dichters nicht hinaus und fand auch später keine Aufnahme in die Gesammtwerke. Alle diese Feuerspeiteufel erregten natürlich ebenso viel Aergerniß als Ergötzen. Die Getroffenen und Gebrannten geiferten, schimpften und zeterten nach Noten, den feinen Wieland ausgenommen, welcher bei dieser Gelegenheit erwies, daß er doch trotz alledem der „Dichter der Grazien“ sei, indem er in seinem Deutschen Merkur das gegen ihn gerichtete goethe’sche Pasquill „allen Liebhabern der pasquinischen Manier als ein Meisterstück von Persiflage und sophistischem Witz“ zu empfehlen sich beeilte …

Also mit des Wolfgangs Rechtsanwaltschaft war und blieb es so, daß er Advocat hieß und Herr Johann Kaspar die Processe führte. Bei sothaner Arbeitstheilung der juristischen Praxis hatte der Herr Advocat ausreichende Zeit zum leben, lieben und lustigsein. Ließ es auch nicht daran fehlen, bewahre! und ließ sich sogar die Trennung von seiner ihm doch immerhin sehr lieben Schwester Kornelia, welche im Spätherbste von 1773 ihrem Gatten Schlosser nach Emmendingen folgte, um schon nach vierthalbjähriger nichtglücklicher Ehe zu sterben, nicht allzusehr anfechten. Hatte anderes zu thun, stand eben wieder einmal in Flammen, der gute Junge. Die „Max“ war ja jetzt in Frankfurt, vom ehrenwerthen Handelsherrn Peter Brentano im Januar von 1774 als Ehefrau in sein etwas dunkles und winkeliges Haus heimgeführt. „Die Max ist noch immer der Engel“ – schrieb Goethe – „der mit den simpelsten und werthesten Eigenschaften alle Herzen anzieht, und das Gefühl, das ich für sie habe, worin ihr Mann eine Ursache zur Eifersucht finden wird, macht nun das Glück meines Lebens.“ Frau Brentano war aber verständig, Herr Brentano war auch verständig, Herr Goethe war, nachdem er sich des Lotte- und Max-Feuerstoffes durch das Niederschreiben von Werthers Leiden entladen hatte, ebenfalls verständig und aus dieser dreifältigen Verständigkeit ergab sich das allgemeine Wohlgefallen einer dauerhaften Freundschaft. Unser Wolfgang hatte auch hierin Glück, wie noch in so vielem anderen. Denn der Weg von der Liebe zur Freundschaft ist unendlich viel schwieriger zurückzulegen als der umgekehrte. Es hat auf jenem schon mancher und manche nicht gerade den Hals, aber doch das Herz gebrochen.

Solche Fatalitäten überließ unser frisch und fröhlich wachsender und gedeihender Olympier den armen Sterblichen, welche kein Flügelroß Bellerophons aus dem Dunkel und Düster ihrer Herzensbedrängnisse in die heiteren Gestirnregionen künstlerischen Schaffens emporträgt. Und zudem erging es dem Wolfgang dazumal auch herunten auf der „nährenden Muttererde“ ganz erträglich. Ein Kreis von lieben Freunden und lieberen Freundinnen umgab ihn. Der originelle Rath Krespel war in diesem Kreise der Spiritus humoristicus, der Jugendkamerad Horn (seiner possirlich kleinen Figur halber „das Hörnchen“ genannt) hatte die Rolle der an Scherzen unerschöpflichen „lustigen Person“. Auch ein katholischer Prälat, Se. Hochwürden Damian Dumeitz, Dechant zu St. Leonhard, that unbefangen mit. Damals gab es nämlich noch vernünftige, helldenkende und liebenswürdige katholische Priester in deutschen Landen, Priester, welche zu leben und leben zu lassen verstanden. Die guten, gescheiden, fried- und duldsamen „Dicken“! Man wird ordentlich gerührt, so man jetzo ihrer gedenkt, vollends angesichts ihrer Nachfolger, der „Dünnen“ unserer Tage, und unwillkürlich wird in uns der Wunsch wach:

„Oh, ihr Dicken, steigt doch wieder lebend aus der Todesurne!
Doch mit altem, guten Magen! Werdet christliche Saturne
Und verschlingt den magern Nachwuchs! Oh, dann sind wir beider los;
Denn nicht lange mehr kann leben, wer solch’ gift’ge Kost genoß.“

Im Winter von 1773–74 war unserem Dichter das Dasein, wie er sich in einem Briefe an seine düsseldorfer Freundin Betti Jakobi ausdrückte, „recht raritätenkastenmäßig aufgeputzt“. Zu den vergnüglichsten „Raritäten“ gehörte auch das durch Klopstock in die Mode gebrachte und vom Wolfgang leidenschaftlich betriebene Schlittschuhlaufen. Einer seiner Läufe gab Veranlassung zu jener allerliebsten Scene, welche er im 16. Buche seiner Selbstbiographie beschrieb. Bettina hat im 2. Bande ihres angeblichen „Briefwechsels Goethe’s mit einem Kinde“ diese Scene in ihrer Art „aufgeputzt“, aber, wie man gestehen muß, recht hübsch. Sie behauptet, die Frau Aja habe ihr also erzählt: – „An einem hellen Wintermorgen, als ich Gäste hatte, schlug mir der Wolfgang vor, mit den Fremden an den Main zu fahren, indem er sagte: ‚Mutter, Sie hat mich ja noch nicht Schlittschuh fahren gesehen und das Wetter ist heut so schön!‘ – Ich zog meinen karmosinrothen Pelz an, der einen langen Schlepp hatte und vorn herunter mit goldenen Spangen zugemacht war, und so fahren wir hinaus. Da schleift mein Sohn herum, wie ein Pfeil zwischen den andern durch. Die Luft hatte ihm die Backen roth gemacht und der Puder war aus seinen braunen Haaren geflogen. Wie er nun den karmosinrothen Pelz sieht, kommt er herbei an die Kutsche und lacht mich ganz freundlich an. ‚Nun, was willst Du?‘ sagt’ ich. – ‚Ei, Mutter, Sie hat ja doch nicht kalt im Wagen; geb’ Sie mir Ihren Sammetrock!‘– ‚Du wirst ihn doch nicht gar anziehen wollen?‘ – ‚Freilich will ich ihn anziehen.‘ – Ich zieh’ halt meinen prächtig warmen Rock aus, er zieht ihn an, schlägt die Schleppe über den Arm und da fährt er hin wie ein Göttersohn auf dem Eise. Bettine, wenn Du ihn gesehen hättest! So was Schönes gibt’s nicht mehr! Ich klatschte in die Hände vor Lust. Mein Lebtag seh’ ich noch, wie er den einen Brückenbogen hinaus und den andern wieder herein lief und wie da der Wind ihm den Schlepp lang hintennach trug. Damals war Deine Mutter (die ‚Max‘) mit auf dem Eise; der wollt’ er gefallen.“ Sieht man da nicht die Frau Rath leibhaft vor sich, wie sie mit von Stolz und Zärtlichkeit leuchtendem Antlitz sich aus dem Kutschenschlage beugt und mit den Händen klatscht, um zu dem Jubellied ihres Mutterherzens über den „Göttersohn“ den Takt zu schlagen?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 420. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_420.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)