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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


und untersuchte ihren Stand, um daraus die Stunde zu errathen. Es war nur natürlich, daß er in dem wortkargen Brüten und in der Einsamkeit vielfach ein Anderer geworden: zu der Schwere und Wucht der Bürde, die er unsichtbar und schweigend trug, war die lange Zeit, während deren sie getragen werden mußte, als neues Gewicht hinzugekommen und hatte den alten Spruch wahr gemacht, daß die Länge die Last trage.

Fünf Jahre waren vergangen, seit er Dickl den Lindhamerhof übergeben hatte, seit Wolf in die weite Welt, er selbst aber in das Austragshäuschen gewandert war; die fünf Jahre hatten ihn um zehn älter gemacht.

Nach einer geraumen Weile hob er das Antlitz empor, sei’s, daß er dem wehmüthigen Summen der Windharfe lauschen wollte oder daß der feinhörige Blinde den Schritt Th’resens vernommen hatte, die aus dem Hause auf die Gräd getreten war und, auf das Geländer gelehnt, in den Morgen hinaussah; sie hatte den Fuß angehalten im Gehen. Sie wollte offenbar nicht gleich bemerkt sein; auch durch ihre Seele ging die Erinnerung eines andern Morgens, an dem sie auch so dagestanden, der noch viel klarer und schöner heraufgegangen, und dem doch ein so banger und trotz allen Glanzes lichtloser Abend gefolgt war.

Auch an ihr war die Zeit nicht vorüber gezogen, ohne ihre Stundenzeichen anzumerken; aber sie hatte durch die Aenderung nichts an ihrem eigenthümlichen Wesen eingebüßt, sondern eher an Bedeutsamkeit gewonnen: ihre Gesichtsfarbe war bleicher und ihre Gestalt schlanker geworden; aber das ließ ihr gut und der Ausdruck ihrer Mienen war noch einnehmender, denn der herbe Zug, der früher ihren Mund umgeben hatte, war gemildert und zu jener weichen Wehmuth geworden, die, eine Tochter der Ergebung, über ihren Schmerz in sich selbst Herr geworden und sich ein Verlorenes dadurch wieder erworben hat, daß sie darum trauert. In dem Schauen und Erinnern wollte sich etwas wie brütender Trübsinn auf sie niedersenken; aber sie ließ es nicht Macht gewinnen über sich: gewaltsam raffte sie sich auf und fuhr mit der Hand über die Stirn, als könne sie mit der Wolke, die sich darauf gelagert, auch jene glätten, die sich hinter derselben zusammen gezogen. „Wie geschieht Dir denn, Th’res?“ sagte sie in halblautem Selbstgespräch vor sich hin. „Hast Dir nit vorgenommen, daß Du alleweil den Kopf über’m Wasser behalten willst? Heißt das sich zusammen nehmen und nimmer an das denken, wo alles Denken doch nichts mehr nutzt? … Ach, ja wohl,“ setzte sie dann mit einem Seufzer hinzu, „versprechen und verbieten ist halt leichter als halten und folgen … Das ist, als wenn ich da drinn’ einen Spiegel stehen hätt’, durch den ein Sprung geht, was ich auch anschau’ damit, der Sprung laßt sich nit leugnen und schneid’t Alles mitten auseinander.“

Die Aeolsharfe ließ sich wieder hören.

„Rührst Dich auch noch?“ sagte sie schmerzlich; „Dir geht’s halt wie mir, Du traurige Saiten! Das Spiel, zu dem Du gehörst, ist lang zerbrochen; aber Du kannst es nit lassen und fangst doch dann und wann wieder zum Klingen an. – Guten Morgen, Lindhamer,“ fuhr sie fort, indem sie über die Stufen herab zu dem Alten trat. „Seid Ihr schon heraus und habt gar nicht auf mich gewartet? Sonst ist es doch mein Geschäft, daß ich Euch in’s Freie führ’.“

Der Alte lachte, wie Jemand, der sich seiner Ueberlegenheit bewußt ist. „Was denkst von mir?“ rief er. „Ich bin ein bissel früher wach geworden als sonst und bin gleich heraus – Du meinst wohl, ich kann keinen Schritt allein gehn?“

„Fallt mir nit ein,“ entgegnete Th’res; „ich hab’s ja erst neulich gesehn, wie gut Ihr fort könnt, wie Ihr allein den Bergweg hinunter seid.“

„Willst mich vexiren?“ unterbrach sie der Alte rasch. „Ich wär’ auch ganz gut hinuntergekommen, wenn der Dickl nit den alten Weg verlegt und eine neue Fahrstraß’ gebaut hätt’, ohne mir was zu sagen …“ Sein ärgerlicher Ton zeigte, wie sehr ihm die Erinnerung unangenehm war, und das Lachen klang sehr gezwungen, mit dem er fortfuhr: „Eine neue Fahrstraß’! Seit der Lindhamerhof steht, ist der alte Weg gut genug gewesen; aber die jungen Leut’ wollen halt Alles fein bequem haben und die verstehn Alles besser, als die Alten. Aber davon wollt’ ich noch nicht reden, wenn er nur nicht die Geschicht’ angefangen hätt’ mit dem Brünnl’.“

„Ich mein’, Ihr solltet jetzt hinüber kommen in Eure Stuben,“ sagte Th’res rasch dazwischen, „ich hab’ Euch das Frühstück hinüber gebracht.“

„Ist es denn schon so spät?“ rief der Alte sich erhebend. „Es rührt sich ja noch gar nichts auf dem Hof. Alles ist mäuselstill im Stall und auf der Tenn’ – sie sollten ja schon lang’ mit Dreschen angefangen haben.“

Das Mädchen sah traurig umher und warf dann einen Blick des Mitleids auf den blinden alten Mann; eine so schmerzliche Regung überkam sie, daß sie die Lippen zwischen die Zähne klemmen mußte, um ohne Stimmzittern die Frage des Bauers beantworten zu können. „Weiß nit recht,“ erwiderte sie; „ich denk’, es wird wohl so ein halber Feiertag sein. Virgili, glaub’ ich – oder was!“

„Lauter neue Bräuch’!“ grollte der Alte. „Ich hab’ meiner Lebtag nit gehört, daß am Virgilitag nit gearbeit’ wird, will nur sehn, was sie noch Alles aufbringen …“ So murrte er in sich hinein, während er allein, geraden Weges, aber doch etwas unsicheren Schrittes, seiner Wohnung zuging. Nach einer Weile hielt er inne, wandte sich um und sagte mit halblauter, etwas unterdrückter Stimme: „Wie ist’s, Th’res? Wenn ein halber Feiertag ist, hast vielleicht Zeit, daß Du auf ein Stündel zu mir hereinkommst – können wir Eins mit einander schwätzen, und weißt Du was?“ fügte er etwas gleichgültiger hinzu, „kannst auch Deine Cither mitbringen. Ich mach’ mir zwar nicht viel aus dem Geklimper, aber ich weiß ja, Du hörst es gern.“

Th’res lächelte und sah den Alten mit einem leichten Kopfnicken an, als wenn sie sagen wollte, daß sie ihn wohl kenne und wisse, daß es, so abgeneigt er sich auch anstelle, doch Niemand mehr um das Citherspiel zu thun sei, als ihm selbst. „Wenn Du noch so fein auftrittst,“ dachte sie, „ich hör’ Dich doch gehn, Alter,“ und legte traulich ihre Hand auf seinen Arm. „Es wird sich wohl machen, daß ich die Cither herüberschwärzen kann auf ein halbes Stündl’,“ sagte sie mit ihrem besten herzlichsten Ton, „ich hab’ so was gehört, daß die Bäurin ausfahren will: sie ist bei der Müllerin am Ort zu Gevatter gestanden; da soll heut’ das Kindelmahl sein; ich bin begierig, ob ich noch was spielen kann, drüben im Haus komm’ ich nie dazu; die Bäurin kann’s nit leiden, und es ist recht gut und brav von Euch, daß Ihr Euch so aufopfert und laßt mich bei Euch spielen, wenn’s Euch auch zuwider ist.“

Sie huschte hinweg; geschmeichelt tastete sich der Alte nach dem Austraghause in seine Stube und ließ alle Thüren hinter sich offen stehen, damit er hören könne, was draußen vorginge, vielleicht auch, daß, wenn Jemand ihn zufällig beobachtete, er sich überzeugen mußte, wie gut er sich zurecht zu finden wisse. Er hatte am Tische Platz genommen und schickte sich eben an, sich den Kaffee zurecht zu machen, als es draußen vor dem Hause laut wurde und Stimmen durcheinander tönten, so daß er nach den ersten Worten, die er verstehen konnte, das Geschirr zurückschiebend, sich wieder erhob und nach dem Ausgange tastete.

Eine scharfe kreischende Weiberstimme wurde in lautem heftigen Schelten hörbar; sie gehörte der jungen Bäurin, Dickl’s Frau, die vom Straßenwirthshause auf den Lindhamerhof als Herrin eingezogen war. Die Bäurin war eine stark gebaute und wohl genährte Person, deren Verhältnisse über die gewöhnlicher Frauen etwas hinausgingen; dennoch war sie durchaus nicht unförmlich und die ganze Erscheinung, wenn auch in etwas größeren Maßen ausgeführt, machte wohl einen überraschenden, aber keineswegs unangenehmen Eindruck. Man traute es ihr auf den ersten Blick zu, daß sie wohl im Stande war, als Herrin und Wirthschafterin eines großen Anwesens das Regiment zu führen. Das Angesicht war von blühendem Aussehen; rothe Wangen, rothe Lippen und hochblaue Augen boten mit der auffallend weißen Haut ein lockendes Bild jugendlicher Frische; aber die Züge waren nicht edel: die stumpfe Nase, der aufgeworfene Mund und das etwas vorgedrängte breite Kinn ließen den Zornmuth und die Derbheit errathen, in denen sie sich so eben erging. Sie war im höchsten Staat, den eine Bauersfrau zu tragen vermag; eine schwere goldene Erbsenkette hing von dem weißen Halse, den sie ein paar Mal umwand, bis auf das Silbergeschnür am Mieder herab, an welchem, um den Reichthum recht zu zeigen, goldene Münzen und andere kostbare Schaustücke, zum Theil mit Edelsteinen besetzt, funkelten. Wie das bunte langbefranste Brusttuch,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 433. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_433.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)