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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

berühmte Bandagenlehre und starb in hohem Alter und hohen Ehren in Berlin. Es war Professor Bernstein.

Während jenes Aufenthalts in der Ilmenauer Gegend wohnten die Beiden vorzugsweise in Stützerbach in dem ehemals Gundelach’schen, jetzt Ephraim Greiner’schen Wohnhause, bisweilen auch in Ilmenau selbst. In das Jahr 1777 fallen bereits die ersten Anfänge von „Wilhelm Meister’s Lehrjahren“, an welchem Werke Goethe, freilich mit großen Unterbrechungen, an zwanzig Jahre gearbeitet hat. Vieles davon wurde in Ilmenau geschrieben; ja, man darf mit Bestimmtheit annehmen, daß manche Begebenheit des Romans und manche Scenerie hier erlebt, erschaut und von hier entlehnt wurde. Die dicke Eiche, deren gelegentlich des Rücktransports der entführten Kaufmannstochter Erwähnung geschieht, ist es nicht der mächtige Baum, der auf der Höhe zwischen Ilmenau und Martinrode stand? Vor einer Reihe von Jahren ist er den Stürmen erlegen. Noch jetzt erschaut man den Stumpf der riesigen Pflanzenleiche, auf Mauerwerk dürftig aufgebahrt, an dem Platze, wo der Baum den Wettern länger als tausend Jahre Trotz geboten hatte; durch das Luftrevier aber, wo schon in grauer Vorzeit ihr Blätterwerk spielte, zieht jetzt ein schwanker Draht hin, der Leiter des elektrischen Funkens. – Der Vorgarten zur Amtsfrohnveste, die Porcellanfabrik auf der Sturmhaide, die heutzutage noch herrschende Liebhaberei der Fabrikarbeiter in der Gegend, Theater zu spielen, ein am 2. Mai 1776 in Ilmenau stattgefundener Brand, welcher sechs Häuser vernichtete, der Marktplatz mit zwei gegenüberliegenden Wirthshäusern und manche andere Momente deuten darauf hin, daß Goethe hier nachgezeichnet hat.

Letzterwähnte Wirthshäuser anlangend (jetzt Sonne und Adler), so coquettirte von dem Fenster des einen aus Philine mit Wilhelm, welcher vor der Thür des andern Blumen kaufte. Auf dem Markte vor dem einen Wirthshause producirten sich die Seiltänzer, sollte Mignon den Eiertanz tanzen. Das unglückliche italische Kind! Wie viele Bilder, Scenen und Gedichte des großen Meisters lassen sich auf Ilmenau und dessen Umgebungen zurückführen, die Wenige so genau kannten wie der Dichter des Faust und der Iphigenie!

Am 6. September 1780 treffen wir Goethe auf dem Kickelhahn. An demselben Tage schreibt er unter Andern an die Freundin Charlotte von Stein: „Es ist ganz reiner Himmel, und ich gehe, des Sonnenunterganges mich zu freuen. Die Aussicht ist groß, aber einfach. – Die Sonne ist nieder. Die Gegend ist so rein und ruhig wie eine große schöne Seele, wenn sie sich am wohlsten befindet. Wenn nicht hie und da einige Vapeurs von den Meilern aufstiegen, wäre die ganze Scene unbeweglich.“

Während dieses seines Aufenthaltes mag auch die nächtliche Scene im Gebirge vorgekommen sein, welche er in dem Gedichte „Ilmenau“ für Karl August’s Geburtstag, 3. September 1783, beschrieben hat. Die Gartenlaube hat diese Scene bereits im Jahrgang 1861 durch die kundige Hand Diezmann’s und durch eine prächtige Xylographie des Thüringer Malers H. von Oer verewigt, und bedarf es daher keiner weitern Schilderung.

Und nun der Abend des 7. September 1783: Goethe, vom Fenster des einsamen Bretterhäuschens aus dem Kickelhahn hinabträumend in die Wälder! Plötzlich zuckt er auf, als habe er etwas gefunden. Rasch wirft er es mit Bleistift auf das erste beste Brettstück neben dem Fenster, und fortan war dort zu lesen das herrliche Nachtlied „Ueber allen Gipfeln etc.“ (vergl. Nr. 40 der Gartenlaube von 1872). Nachträglich zu jenem Artikel sei mir verstattet hier zu bemerken, daß die Thür zu dem Zimmer, in welchem Goethe das Nachtlied schrieb, noch existirt. Dieselbe wird schon seit einer Reihe von Jahren und heute noch, nachdem sie wandelbar und durch eine neue ersetzt worden, von Kilian Merten aus dem Gabelbach aufbewahrt.

Außer auf dem Kickelhahn hielt sich Goethe vorzugsweise gern auf dem Schwalbenstein, oberhalb des Manebacher Grundes, auf. Zu jener Zeit stand dort auf dem vorspringenden Felsen ein Bretterhäuschen, in welchem Goethe, wie er selbst zu Bergrath Mahr geäußert, den ersten Plan zur Iphigenie gefaßt hat. Hier schrieb er auch: „Schwalbenstein bei Ilmenau. Sereno die, quieta mente (hellen Himmels, froher Seele) schrieb ich, nach einer Wahl von drei Jahren, den vierten Act meiner Iphigenia an einem Tage.“ Es war dies am 19. März 1779; am 28. März war die ganze Dichtung beendigt.

Damals war es, daß die Männer des „lustigen Weimars“ oft und gern in den Wäldern Ilmenaus verkehrten. Seckendorf, Knebel, Herr von Stein, der Gatte der vielgenannten Freundin Goethe’s, Einsiedel, Jean Paul, Herder und Andere verlebten im Orte und auf den Bergen stille und zu Zeiten auch vielbewegte Tage, wenn der ewig heitere und gut aufgelegte Fürst und Freund Karl August dort eintraf. Einige Jahre später siedelte dann Corona Schröter, die schöne und liebenswürdige Sängerin, und nach ihr auch L. v. Knebel nach Ilmenau über.

Im Jahre 1813 lebte Goethe, wie er an Knebel schreibt, „sieben sehr vergnügte Tage“ in Ilmenau. Von da an ließ er sich viele Jahre nicht mehr hier sehen. Nur einmal noch kam er; es war bekanntlich zu seinem Geburtstage, den 28. August 1831. Er glaubte „die diesmal sehr gesteigerte Feier“ dieses Tages in der Nähe von Weimar nicht bestehen zu können und verfügte sich deshalb mit seinen beiden Enkeln nach Ilmenau, um die Geister der Vergangenheit durch die Gegenwart der herankommenden auf eine gesetzte und gefaßte Weise zu begrüßen. In Gesellschaft des vor mehreren Jahren hier verstorbenen Bergrath Mahr fuhr er hinauf auf den Kickelhahn, erfreute sich an dem herrlichen Walde und der prachtvollen Aussicht und schritt dann zu Fuße auf den Berggipfel hinauf, wo er noch das kleine Waldhaus in der Nähe wußte. Als er hier in dem oberen Zimmerraume angekommen war, äußerte er zu Mahr:

„Ich habe in früherer Zeit in dieser Stube mit meinem Bedienten im Sommer acht Tage gewohnt und damals einen Vers an die Wand geschrieben. Ich möchte ihn nochmals sehen.“ Er las: „Ueber allen Gipfeln ist Ruh“ und – wie wir bereits früher einmal erzählten – Thränen flossen ihm über die Wangen, und in sanftwehmüthigem Tone wiederholte er: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch.“

Schweigend blickte er dann lange über die waldigen Höhen hin, und als er sich endlich zum Gehen wandte, gedachte er wiederholt seines „guten Großherzogs“, der ihm drei Jahre vorher in’s Jenseits vorangegangenen Karl August. – Diezmann, dessen „Weimar-Album“ ich dies entnehme, fährt fort: „Sechs Tage blieb er in Ilmenau, wo er am Geburtstage durch eine Morgenmusik, Abends durch einen Auszug der Bergknappen mit ihren Grubenlichtern und eine Aufführung des ‚Bergmann und Bauer‘ erfreut wurde. Mit besonderem Interesse erkundigte er sich auch, ob das kleine Haus auf dem Schwalbensteine noch stehe, in welchem er einen Theil seiner ‚Iphigenie‘ geschrieben.“

Wenn aus dem Gesagten schon genugsam hervorgeht, wie lieb und theuer Karl August und Goethe Ilmenau geworden war, wo sich das zwischen Beiden schon früher angeknüpfte Freundschaftsbündniß durch den engsten persönlichen Verkehr zu einer Intimität steigerte, die für die ganze Menschheit zu unermeßlichem Segen gedeihen sollte, so darf eine Scene nicht unerwähnt bleiben, worin Karl August selbst hiervon das rührendste Zeugniß abgab. Es war früh vor sechs Uhr am 3. September 1825, dem fünfzigjährigen Regierungsjubiläum dieses unvergleichlichen Fürsten, als Goethe, der Erste der Glückwünschenden, im römischen Hause zu Weimar zu dem Jubilar eintrat. Karl August erfaßte die Hände des Dichters, der vor tiefer Bewegung nur die Worte hervorbringen konnte: „Bis zum letzten Hauche beisammen!“ Der Fürst gedachte der schönen fernen Jugendzeit und tief ergriffen rief er aus: „O achtzehn Jahre und Ilmenau!“

Solche Erinnerungen sind wohl zu pflegen, und gern beschreitet man die Stätten, an welche sie sich knüpfen. Aber der Thüringer Wald und namentlich Ilmenau mit seinen Umgebungen müssen wohl außer diesen klassischen Erinnerungen auch einen eigenthümlichen wohlthuenden Reiz auf empfängliche Gemüther üben, denn Thatsache ist es, daß viele Reisende, wenn sie die Herrlichkeiten des Meeres und der Alpen gesehen, stets wieder auf die Thüringer Berge zurückkehren, weil es ihnen hier „doch am wohlsten sei“. – Ich selbst kannte einen viel gereisten jungen Mann, der diesem Reize nicht widerstehen konnte. Im Drange seiner Jugendlust war er, nachdem er ganz Deutschland gesehen, durch die lachenden Fluren Südfrankreichs bis zu den Wasserfällen der Pyrenäen gezogen, hatte von Nizzas Höhen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 477. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_477.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)