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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Reisegenossenschaft heftig den Kopf geschüttelt habe („daß du mit diesen Burschen ziehst, ist ein dummer Streich!“). Sagte Merck so, hatte er recht, wie sich bald herausstellte. In Emmendingen sah der Wolfgang am 4. Juni seine Schwester Cornelie, welche ebenfalls entschieden gegen seine Heirat mit Lili aufgetreten war, zum letztenmal. Acht Tage später finden wir ihn in der jetzt noch wohlerhaltenen Lavaterstube im zweiten Stock der Helferei zum Sanct Peter in Zürich, nachdem er von Emmendingen aus eine Abschrift seines in letzter Zeit fertiggewordenen Singspiels „Claudine von Villa Bella“ (in der ursprünglichen Gestalt) an Knebel zur Mittheilung an den Erbprinzen Karl August gesandt hatte. In Zürich ließ er die Stolberge laufen; er war der Kraftgeniestreiche, welche sie machen zu müssen glaubten, um sich als Genies im Allgemeinen und als Poeten im Besonderen auszuweisen, herzlich müde geworden. Mit einem zufällig getroffenen Landsmann, Passavant, fuhr er den See hinaus, welchen vordem Klopstock so schön gefunden und so schön gefeiert hatte. Goethe seinerseits dichtete „Auf dem See“:

„Und frische Nahrung, neues Blut
Saug’ ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertact hinauf
Und Berge, wolkig, himmelan,
Begegnen unserm Lauf –“

und hat dabei gewiß an dem alten prächtigen Kerl, dem Glärnisch, welcher dort linkshin hinter den Voralpen majestätisch aufsprang, eine rechte Freude gehabt. In seine Naturschwelgerei drängte sich aber doch während der ganzen Schweizerreise, welche zu einigen der später dem Werther angehängten „Briefe aus der Schweiz“ Veranlassung gab, der Gedanke an Lili, „freudvoll und leidvoll“. Auf dem Wege von Richtersweil nach Mariä-Einsiedeln schrieb er, von der Schindeleggi auf den Zürichsee niederblickend, in sein Taschenbuch:

„Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte,
Welche Wonne gäb’ mir dieser Blick!
Und doch, wenn ich, Lili, dich nicht liebte,
Was, was wär’ mein Glück?“

Ueber den rauhen Haken nach Schwyz und von dort über das noch nicht unter dem Roßbergsturze von 1806 begrabene Goldau zum Rigi gewandert, erstieg der Dichter den Gipfel des berühmten Berges, welchen ich das Ausrufungszeichen in der Riesenschrift der schweizerischen Alpen nennen möchte. Dann ging es an den Vierwaldstättersee hinunter, zu Schiffe nach Flüelen, das Reußthal entlang und zur Wasserscheide des Gotthardpasses empor. Wollt ihr erfahren, was für unverwischbare Eindrücke Goethe von dieser Gotthardwanderung mit heimgenommen, so les’t im Schiller die Stelle, wo der Tell dem Parricida den Gotthardweg weis’t. Daß Schiller diesen Weg, ohne ihn jemals mit leiblichen Augen gesehen zu haben, also schildern konnte, verdankte er der Beschreibung, welche sein großer Freund ihm davon entworfen hatte. Vom Gotthardhospiz aus wurde die Rückwanderung nach Zürich angetreten, wo unser Wanderer mit Lavater und dem alten Bodmer noch gute Tage verlebte. Die Heimreise ging zunächst über Konstanz nach Ulm, von wo der arme Schubart etwas später an seinen Bruder schrieb: „Goethe war auch hier – ein Genie, groß und schrecklich, wie’s Riesengebirg!“ Von Ulm wandte sich der Dichter nach Stuttgart und von dort nach Straßburg, aber nicht nach Sesenheim. Während der kurzen Rast zu Straßburg machte er die Bekanntschaft des mit mehr oder weniger Recht berühmten Arztes Zimmermann, der in seine schweizerische Heimat zu reisen im Begriffe war, und dieser zeigte ihm eine Sammlung von Schattenrissen, worunter auch der von Charlotte Stein, einer Weimarer Hofdame. Der Anblick des Bildchens und Zimmermann’s lebhafter Commentar dazu erregten Goethe’s Theilnahme in nicht geringem Grade: „Zukünftiges wirft seinen Schatten voran.“ Am 25. Juli war er wieder in Frankfurt.

In die nächste Zeit fiel seine Beschäftigung mit der Geschichte der niederländischen Insurrection gegen Spanien und so wandte er denn seinen Blick in ein Jahrhundert zurück, das ihm zur Stofffundgrube für sein erstes epochemachendes Werk gedient hatte. Auch jetzt bot es ihm wieder den Stoff zu einer Dichtung, welche unter den so recht charakteristisch-goethe’schen mit in erster Linie steht: – die ersten Scenen vom „Egmont“ wurden geschrieben. Aber dieses Drama, womit, wie einer der feinsinnigsten Beurtheiler Goethe’s, Rosenkranz, treffend bemerkt hat, unser Dichter ebenso in die Sphäre zurückgriff, in welcher der Götz, wie in die Sphäre vorausgriff, in welcher die Iphigenie entstand, sollte erst viele Jahre später unter der Sonne Italiens ausreifen. Der Hochsommer und Spätherbst von 1775 waren für den Wolfgang keine ausgiebige Schaffenszeit. Gleich nach seiner Heimkehr aus der Schweiz hatte ja die Lili-Qual wieder begonnen. Von der Herbigkeit derselben geben dazumal entstandene Lieder wie „Lili’s Park“ und „Herbstgefühl“ Andeutungen, welche deutlich genug sind. Das ganze Verhältniß war verhetzt und vertrübt, unsühnbar und unhellbar. Mitte Septembers schrieb der Dichter an Auguste von Stolberg: „Lili heut nach Tisch geseh’n – in der Komödie geseh’n. Hab’ kein Wort mit ihr zu reden gehabt – auch nichts gered’t. Wär’ ich das los! Und doch zitter’ ich vor dem Augenblick, da sie mir gleichgiltig, ich hoffnungslos werden könnte.“ Nun, gleichgiltig wurde ihm das „leidig liebe“ Mädchen, welches schlechterdings nicht zu ihm paßte, und zwar bald ward es ihm gleichgiltig, aber er ist darum nicht hoffnungslos geworden. Das Menschenherz ist bekanntlich zwar ein eitel und verzagt Ding, wie die Schrift besagt, aber auch ein sehr zähes und trotziges. Die Werther und Günderoden der Wirklichkeit lassen sich zählen, nur die gebrochenen Mutterherzen sind unzählbar.

Der Bruch zwischen den Verlobten war eine Thatsache, ohne daß das Wort ausgesprochen worden wäre. Unser Dichter fühlte, daß er fort mußte aus Frankfurt, und als der Herzog Karl August mit seiner jungen Neuvermählten am 12. October anlangte und die Einladung Goethe’s nach Weimar mit voller Bestimmtheit und Herzlichkeit wiederholte, sagte der Eingeladene zu. Wie jedermann weiß, hätte aber ein dummer Zufall die ganze Angelegenheit um’s Haar vereitelt und konnte der Dichter peinliche Tage lang wähnen, man habe ihn eigentlich zum Narren gehabt, worüber Herr Johann Kaspar („Nah’ bei Hof, nah’ bei Höll’!“) seine geheime, nein, seine offene Freude hatte. „Hör’ mal, Wolfgang,“ ließ er sich vernehmen, „wenn du gescheid bist, so gehst du, maßen es mit dem Weimar doch nur Firlefanz zu sein scheint und du doch einmal fort willst und fort mußt, stante pede nach Italien. Das wird dir gutthun und das Geld dazu sollst du haben.“ Der Wolfgang packte ein, das heißt, Liebmütterlein packte ihm die Koffer, und er fuhr am 30. October ab: – Italiam! Italiam! Am Abend des ersten Reisetages setzte er sich zu Ebersbach an der Bergstraße hin und schrieb unter anderem in sein Tagebuch: „Lili, Adieu! Lili, zum zweitenmal! Das erstemal schied ich noch hoffnungsvoll, unser Schicksal zu verbinden. Es hat sich entschieden, wir müssen unsere Rollen einzeln ausspielen. Mir ist weder bang für dich noch für mich, so verworren es aussieht. Adieu!“ Das war der Strich unter das Lili-Capitel in Goethe’s Leben. Das Mädchen ist keineswegs daran gestorben, bewahre! Lili war dazu weder gemacht noch aufgelegt; wohl aber dazu, unlange darauf ganz munter einen straßburger Bankherrn zu heiraten, was ihr recht gut bekam … Unser Flüchtling war derweil bis nach Heidelberg gelangt. Hier ereilte ihn der Bote, welcher den „dummen Zufall“ aufklärte. Nach kurzem Bedenken faßte der Dichter den Entschluß, umzukehren, und warf sich in die Postkalesche mit den Worten seines Egmont: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch und uns bleibt nichts, als muthig gefaßt die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze dort, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es?“

Vorderhand ging es Weimar zu.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_518.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)