Seite:Die Gartenlaube (1873) 544.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Wir hatten Gefallen aneinander, aber es schien stillschweigend abgemachte Sache, daß wir uns, auch wenn wir ganz unbeobachtet waren, nur bis auf einen bestimmten Punkt nahe treten dürften. Ich respectirte die Meisterin und auch die alleinstehende junge Wittwe, deren guten Ruf zu hüten die Pflicht der Hausgenossen war, aber ich gestehe auch, daß ich damals noch an dem Hochmuthe litt, keine Neigung aufkommen lassen zu dürfen, die mich gänzlich an meinen Berufsstand fesseln mußte, und sie hinwieder kam nicht von dem Gedanken los, daß ich zwar ihr gegenüber ein Geselle, aber doch eines Pfarrers Sohn sei und vornehme Verwandte habe, und daß mir noch irgendwo und wie ein großes Loos zufallen werde, an dem sie doch nur freundschaftlich theilnehmen könne. Diese Rücksichten, die uns schienen trennen zu müssen, trugen doch gerade mit dazu bei, uns zusammenzuhalten; wir merkten gar nicht, daß bei meinem längeren Aufenthalte eine Gefahr sei, und hätten uns gegen einander vielleicht nie ausgesprochen, wenn ich nicht endlich doch gegangen wäre.

Ich hatte ja meine Mutter, meine Schwestern – meines Vaters Grab besuchen wollen, und mein Heimathsdorf lag gar nicht mehr fern. Ich mußte mich der Lieblosigkeit anklagen, daß ich so lange zögerte. Und so stand’s denn eines Morgens bei mir fest, daß am Sonntag Abschied genommen werden müßte. Ich sagte es bescheiden, aber bestimmt der Meisterin bei Tisch und nannte meine Gründe, die wohl gut genug waren. Sie wurde ganz bleich vor Schreck und antwortete nur verwirrt, daß sie mich ja nicht halten könne und meinem Glück nicht im Wege sein wolle. Als ich sie Abends wiedersah, hatte sie verweinte Augen, und es schnitt mir in’s Herz, daß ich ihr Kummer machen müßte, aber es war einmal beschlossen, und ich schwieg. So auch die andern Tage bis Sonntag. Als sie aus der Kirche kam, gab sie mir den verdienten Lohn und einen Thaler darüber und sagte mir, daß ich nun entlassen sei; wenn ich sie aber Nachmittags noch zu Kaffee besuchen wolle, werde es ihr lieb sein. Es war das erste Mal, daß ich in der Putzstube am Sophatisch ihr gegenüber saß und aus einer der großen Tassen mit Goldrand trank und von dem Rosinenkuchen aß, den sie gebacken hatte. Ich glaube auch, so war noch kein abziehender Geselle honorirt worden, so lange das Haus stand. Sie erzählte von ihrem Großvater, der Aeltermann gewesen war, und von der polnischen Prinzessin, der jener kleine Schuh gepaßt hätte, und wie früher doch ganz andere Zeiten gewesen sein müßten und ganz andere Menschen. Zuletzt gab sie mir eine silberne Medaille zum Andenken, die einer ihrer Vorfahren einmal aus Amsterdam mitgebracht hatte, und ich schüttelte ihr gerührt die Hand zum Abschiede und sagte ihr, daß ich mein Lebtage nicht vergessen werde, wie wohl es mir in ihrem Hause geworden.

Als ich auf die Straße trat, war mir’s, als ob die Figur über der Thür mit der Hand drohte, und die Drachen oben die langen Hälse vorstreckten. Ich drückte den Hut über die nassen Augen und eilte fort. –

Meine Mutter fand ich in dem kleinen Pfarrwittwenhause. Drei von ihren Töchtern hatte sie bei sich, die vierte war auf einem Gute als Wirthschafterin eingetreten; geheirathet hatte keine. Es war ein trauriges Wiedersehen, viel trauriger, als ich mir’s gedacht hatte, und als wir zusammen an des Vaters Grabe standen, auf dem nur ein schlechtes Kreuz errichtet war, und meine Mutter mit bitterem Vorwurf sagte: ‚Die Todten sind bald vergessen!‘ da mußte ich laut aufschluchzen und mich selbst anklagen, daß ich so spät erst an die Heimkehr gedacht hatte.

Meiner armen Mutter ging es schlecht. Sie hatte zwar freie Wohnung und einen Morgen Gartenland, aber sonst nur das, was ihr die Wohlthätigkeit des neuen Pfarrers oder der Bauern zuwenden wollte. Die Schwestern machten Handarbeit für Fremde und verdienten wenig. Oft wußten sie am Abend nicht, wie sie den nächsten Tag beleben sollten. ‚Warum hast Du Dich aber nicht an Deine Söhne gewendet?‘ fragte ich die alte vergrämte Frau. ‚An meine Söhne –‘ seufzte sie; ‚habe ich denn Söhne? Sie brauchen so viel für sich – für die Mutter bleibt nichts übrig.‘

Ich wollte es nicht glauben, aber sie wies mir Briefe vor. Der Landwirt hatte sich Jahre lang als Inspector gequält, dann eine kleine Pachtung übernommen und dieselbe wegen Mangels an Mitteln wieder aufgeben müssen, um von Neuem in Dienst zu treten. Der Officier vertröstete auf die Zeit, wenn er Hauptmann erster Classe sein würde. Des Rectors Familie hatte sich sehr schnell vermehrt, und seine Frau kränkelte fortwährend. Der Regierungsassessor war mit einer Dame von Adel verheirathet, deren Vermögen noch nicht flüssig, mußte großen Aufwand machen, um auf schnelle Beförderung rechnen zu dürfen, und erklärte, sich vorläufig und wahrscheinlich noch für längere Zeit hinaus keine neue Last auflegen zu können. Mein jüngerer Bruder endlich befand sich auf einem Lehrerseminar; von ihm war nichts zu erwarten. Die Schwestern begleiteten diese Briefe mit Bemerkungen, die für die Betheiligten nicht schmeichelhaft waren; ich ersah daraus, wie man einander in dem Pfarrwittwenhause mehr und mehr erbittert hatte, und meine eigenen Erfahrungen waren so traurig, daß ich schon genug Milde zu üben glaubte, wenn ich sie verschwieg, um nicht noch mehr zu reizen. ‚So ist am wenigsten von den Kindern zu erwarten,‘ sagte meine Mutter, ‚für die wir am meisten gethan, für die wir gesorgt und gedarbt haben. Sie haben sein Herz für die Familie. Du, mein Sohn, wärst vielleicht nicht wie sie geworden; ich erkenne es daraus, daß Du Deinen Vater noch im Grabe ehrst, obgleich er Dich gegen Deine Brüder zurückgesetzt hat. Alle meine Bitten und Thränen halfen nichts; er blieb dabei, daß Du ein Handwerk lernen möchtest. Nun weiß ich, daß ich an Dir keine Stütze haben kann.‘ – ‚Und doch, Mutter!‘ rief ich, ebenso von Mitleid bewegt, als von dem Ehrgeiz gestachelt, meine ungebrochene Kraft zu beweisen – ‚doch kann vielleicht der arme Handwerker helfen. Was ich durch meine Arbeit verdiene, ist nicht viel, aber ich will es gern mit Euch theilen. Gebt mir einen kleinen Raum am Fenster, und ich schlage bei Euch meinen Tisch auf. Was ich erspart habe, reicht zur ersten Einrichtung aus, und wenn nichts mehr, so sollen wir wenigstens das Sattessen haben. Kein Wort weiter! Es bleibt dabei!‘ – Meine Mutter umarmte mich gerührt; meine Schwestern danken voll Freude; schon am nächsten Tage beschaffte ich das Nöthige für die neue Werkstätte.

Es war vielleicht recht unklug, daß ich mich in einem Dorfe niederließ, das für einen zweiten Schuhmacher kaum ein wirkliches Bedürfniß hatte, aber ich fühlte doch die stolzeste Befriedigung, durch meiner Hände Arbeit die Noth der armen Frauen erleichtern zu können, und ließ es an rastlosem Fleiß nicht fehlen. Bald fanden sich auch Kunden aus der Umgegend, die sonst ihren feineren Bedarf aus der Stadt entnommen hatten, und der Verdienst besserte sich. Aber er blieb noch immer schwach genug, und es kamen stille Tage, an denen ich den Muth sinken ließ und mit heimlichen Thränen das Brod aß, das mir mit Seufzen zugeschnitten war.

So war etwa ein halbes Jahr vergangen, als eines Tages ein Brief an mich anlangte, der den Poststempel dieser Stadt trug. Die Schrift war von ungeübter Hand, aber gut leserlich, und ich kannte sie aus den Wochenrechnungen, die ich in diesem Hause zu revidiren gehabt hatte. Die Meisterin schrieb mir, daß das Geschäft nach meinem Abzuge wieder schnell rückwärts gegangen sei: ein ungetreuer Geselle habe sie bei den Ledereinkäufen auf’s Schändlichste betrogen, ein Anderer von den Kunden Geld eincassirt, ohne es an sie abzuführen. Jetzt erst erkenne sie so recht, was sie an mir gehabt und verloren habe. Nun könne sie mir zwar nicht zumuthen, wieder als Geselle bei ihr einzutreten, aber sie biete mir das Haus zum Kauf an. Wegen des Kaufgeldes solle ich unbesorgt sein, das könne stehen bleiben, so lange es mir gefalle; sie sei ihrer Person sicher und sie wisse auch, daß ich das alte Geschäft bald zu Ehren bringen und genug verdienen werde, um sie nach einigen Jahren auch wegen des Capitals befriedigen zu können. Sie werde dann zwar kümmerlich, aber in ihrer Verlassenheit doch ohne große Sorgen leben, und daß sie das alte Haus in guten Händen wisse, sei ihr doch auch eine Beruhigung. Sie bat schließlich, die Frau Mutter und die Fräulein Schwestern zu grüßen und ihre Kühnheit zu entschuldigen, sie wisse aber nicht mehr aus noch ein, und ich sei der Einzige auf der Welt, zu dem sie noch Vertrauen habe.

Der Brief versetzte mich in die größte Aufregung. Ein Anderer hätte vielleicht ohne Besinnen zugegriffen, besonders in meiner jetzigen Lage, denn es war nicht zweifelhaft, daß ein Meister und Bürger in der großen Stadt für seine Angehörigen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_544.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)