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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Wie ein Leichnam sollt Ihr werden!“


„Wie ein Leichnam sollt Ihr werden,“
Tönt Loyola’s Zauberspruch,
Und so hüllen sie Europa
Wieder in ein Leichentuch!

5
Keine That im Reich der Geister

Weckt lebend’gen Wiederhall;
Nur die Heil’gen reden dreister –
Zeichen, Wunder überall!

Welke Königslilien schmücken

10
Eine Bastardrepublik,

Die zu Gnadenbildern pilgert,
Um’s Gewand den Büßerstrick,
In der Hand die frommen Kerzen,
In den Augen Himmelslust,

15
Auf der Brust geweihte Herzen –

Nichts Geweihtes in der Brust.

Frankreichs große Todte regen
Zürnend sich im Heiligthum;
Wie im Dom der Invaliden

20
Schläft des Volkes Macht und Ruhm;

Die der Geister Schlacht geschlagen,
Sehn erzürnt den nächt’gen Trug;
Die des Adlers Blitz getragen,
Schauern vor dem Eulenflug.

25
Königliche Paladine

Kämpfen bei Trompetenschall;
Dort, wo Roland’s Horn ertönte
Einst im Thal von Ronceval,
Wo im Schlachtenungewitter

30
Karl’s des Großen Stern erblich,

Drängen jetzt die irren Ritter
Um die kleinen Karle sich.

Du zerfleischtes Land der Stolzen,
Spanien, du Marmorbraut,

35
Die mit thränenlosen Augen

Auf ihr wachsend Elend schaut:
Nur der Purpur und die Stola
Retten dich zum letzten Mal;
Dich begraben die Loyola

40
Wieder im Escurial.


Einer nur von sieben Hügeln
Bleibt dem priesterlichen Rom;
Doch noch wölbt die alte Kuppel
Stolz sich über Petri Dom.

45
In der Völker bang Gewissen

Schleicht von Neuem alter Wahn;
Denn von Sonnenfinsternissen
Dunkelt’s um den Vatican. –

„Wie ein Leichnam sollt Ihr werden,“

50
Tönt Loyola’s Zauberspruch.

Deutsches Reich, du neugebor’nes,
Trotzest diesem Bann und Fluch.
In der Heimath eines Hutten
Zünden Eure Strahlen nicht,

55
Und mir leuchten dunkeln Kutten

Unverzagt in’s Angesicht.

Licht des Geistes, schimm’re freudig
Von des Reiches Zinnen her!
Geist der Freiheit, brause mächtig

60
Durch die Lande segensschwer!

Der Verwesung laß die Leichen!
Die Lebend’gen athmen frei,
Daß dies Reich vor allen Reichen
Fels und Hort der Menschheit sei!

Rudolf Gottschall.




Der Vampyr-Schrecken im neunzehnten Jahrhundert.
I.

Dem Jahre 1872 blieb es vorbehalten, den Beweis von der ungeschwächten Fortdauer der ohne Frage furchtbarsten Wahnvorstellung, welche jemals die überreizte Phantasie eines kranken Gehirnes ausgesponnen hat, bis vor ein preußisches Obertribunal zu bringen. Denn furchtbar muß der Vampyrglaube nicht blos wegen seines selbst starke Nerven erschütternden Inhalts genannt werden, sondern noch mehr wegen der Lebensgefahr, in welche er, einer ansteckenden Seuche gleich, die von ihm Befallenen stürzt. Ich bitte im Voraus diejenigen meiner freundlichen Leser, die leicht von bösen Träumen heimgesucht werden, den nachfolgenden Bericht, welchen ich aus den zuverlässigsten Quellen schöpfen konnte, lieber Vormittags oder bei hellem Tage, als Abends oder Nachts zu lesen, da ich mich außer Stande sehe, das Gräßliche des Gegenstandes zu mildern, obwohl ich mich natürlich bestreben werde, es nicht durch Uebertreibungen zu verschlimmern.

Am 5. Februar 1870 war zu Kantrzyno (Kreis Neustadt in Westpreußen) der Antheilsbesitzer und Kirchenvorsteher Franz von Poblocki im Alter von dreiundsechszig Jahren an der Auszehrung verstorben und auf dem Friedhofe des jenseits der Provinzialgrenze belegenen Dorfes Roslasin (Kreis Lauenburg in Pommern) am 9. Februar beerdigt worden. Wenige Tage darauf erkrankte sein ältester, achtundzwanzig Jahre alter Sohn Anton und starb am 18. desselben Monats, nach Aussage des erst kurz vor dem Tode herbeigerufenen Arztes an der sogenannten galoppirenden Schwindsucht. Da fast gleichzeitig die Gattin des Erstgenannten und eine jüngere Tochter desselben erkrankten, ein zweiter Sohn und ein Schwager (von Wittke) sich sehr unwohl fühlten und alle Genannten über unbeschreibliche Angst und Beklemmung klagten, so kam man auf den „in hiesiger Gegend weitverbreiteten Aberglauben“ – ich gebrauche die Worte des freundlichen Auskunftgebers, dem ich die meisten Einzelnheiten verdanke –, daß der verstorbene Vater ein sogenannter Vampyr sei, und daß sie Alle sterben müßten, wenn nicht schleunigste Hülfe geschafft werde. Ein Vampyr ist der Ueberlieferung nach ein Leichnam, welcher im Grabe fortlebt, des Nachts aus demselben emporsteigt, um lebenden Menschen, zunächst seiner eigenen Blutsverwandtschaft, den kostbaren Lebenssaft auszusaugen, um sich damit zu ernähren und in gutem Zustande zu erhalten, statt, gleich anderen Leichen, zu verwesen. Die Angegriffenen, die sich zuweilen im Traume an der Gurgel gepackt und gewürgt fühlen, aber sich des furchtbaren Besuchers, der auf ihrer Brust liegt, nicht erwehren können, siechen schnell dahin und müssen nach ihrem Tode (gleichsam durch den Biß des Vampyrs mit einer unter den Todten grassirenden Lebensseuche angesteckt) ebenfalls Vampyre werden, und so weiter ohne Ende, bis man durch Gewaltmittel dem Schrecken der Gegend ein Ende macht. Die abergläubischen Mittel gegen den Vampyrismus lassen sich in drei Classen theilen: Vorbeugungsmittel gegen Leute, die Anlage haben, Vampyre zu werden, Ermordung der Vampyre und Heilmittel für die bereits angesteckten.

Nach den Anschauungen, die sich im Bereiche dieses Aberglaubens, der, wie wir später sehen werden, eigentlich in griechisch-katholischen Ländern zu Hause, jüngeren Ursprungs aber in Polen und Westpreußen ist, ausgebildet haben, bringt der Mensch die Anlage zum Vampyrwerden mit der sogenannten Glückshaube, die sonst fast in allen Zeiten und bei allen Völkern, wie schon der Name sagt, als ein glückbringendes Zeichen betrachtet wurde, auf die Welt. Solche Vampyrs-Candidaten sollen ferner stets ein wenig rechthaberisch und geizig sein. Die Hauptkennzeichen ergeben sich am Leichname. Das Gesicht bleibt roth, das Blut flüssig; die Todtenstarre und der Verwesungsgeruch bleiben aus, gerade wie bei einem Scheintodten, als welcher der Vampyr ja auch im Volke betrachtet wird. Wie weit diese Kennzeichen an der frischen Leiche des Gutsbesitzers Poblocki beobachtet worden sind, habe ich nicht ermitteln können, jedenfalls hatte man unterlassen, die wirksamen Vorkehrungen bei der Beerdigung zu treffen, welche so einem unruhigen Todten das Wiederkommen verleiden oder erschweren. Dieselben bestehen theils in Beschäftigungsspielen (Beutelchen mit Mohnkörnern zum Zählen oder ein Fischnetz zum Auftröseln), theils in Mitteln, das Aufstehen, Saugen oder Bewegen der Kinnladen zu erschweren (ein paar Ziegelsteine über die Füße, Sand auf Augen und Mund, einen Stein unter’s Kinn oder in den Mund), theils endlich in religiösen Vorkehrungen, wohin der Gebrauch, den verdächtigen Todten kleine Espenholzkreuze in die Hände zu drücken, gehören möchte. Die sicherste, aber, wie man sagt, für den Todten qualvollste Maßregel besteht darin, daß man ihn verkehrt, Mund und Gesicht nach unten, in den Sarg legt. Sind diese Mittel unterlassen worden und hat sich der Todte durch sein dem Leben Anderer nachstellendes Benehmen als Vampyr entpuppt, so giebt es, von den schwächeren zu den stärkeren Mitteln aussteigend, verschiedene Wege, ihn unschädlich zu machen, die alle auf Ermordung des nur scheinbar todten Vampyrs hinausgehen. Sie bestehen darin, daß man der ausgegrabenen Leiche, die sich dann durch blühendes Aussehen auszeichnet, einen zugespitzten Holzpfahl durch Brust und

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