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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 35.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Schuster Lange.

Novelle von Ernst Wichert.
(Schluß.)


Der junge College suchte mit einem schnellen Blick auf meinem Gesicht etwas, das dieser harmlosen Frage eine besondere Bedeutung geben konnte, erröthete ein wenig und sagte wegsehend: „Allerdings, das Mädchen – der Knabe ist fünfzehn und in der Schulbildung etwas zurück, übrigens sonst ein aufgeweckter Junge, von dem unter günstigeren Umständen das Beste zu erwarten wäre. Was kann nun aus ihm werden?“ Er sprach so noch eine Weile über den Vetter fort, ohne der Cousine zu erwähnen. War das ganz zufällig?

„Wenn übrigens die Tante meinem gutgemeinten Rathe folgt,“ schloß er, „so kommt sie hierher. Sie hat Verwandte in der Stadt, die zwar ebenfalls unbemittelt sind, aber ihr doch eine Art von Halt gewähren. Dazu ist es hier billiger und für die Kinder läßt sich leichter sorgen, wo man den Vater nicht in Erinnerung hat. Wenn Ihnen vom dortigen Gericht die Acten zugehen sollten, haben Sie die Güte nicht zu genau zu prüfen, ob sich die Sache vielleicht auch ablehnen ließe. Sie thun ein gutes Werk, wenn Sie die Vormundschaft leiten.“

Ich merkte wohl, daß der brave junge Mann sich der armen Familie bereits auf’s Treueste angenommen hatte, und versicherte ihn gern seines Beistandes. Was er nur als eine Möglichkeit hingestellt hatte, war sicher schon fest verabredet, und so vergingen nur wenige Wochen, bis wirklich die Wittwe mit den Kindern anlangte und fast zur gleichen Zeit auch die Vormundschaftsacten aus B. eingesendet wurden. Die Angaben des Assessors in Betreff der Vermögensverhältnisse ergaben sich durchweg als richtig: es war der Wittwe nichts geblieben, als ein großer Titel zu einer ganz geringfügigen Pension.

Ich lud sie zu einem Termin vor, um mit ihr Rücksprache zu nehmen, und lernte eine Dame kennen, der ich das tiefste Mitleid nicht versagen konnte. Der Assessor hatte Recht: sie war wohl auch in ihrer blühendsten Jugend nicht schön gewesen, aber ihr ganzes Wesen muthete auf den ersten Blick an, und die schlichte doch vornehme Art, wie sie sich ausdrückte, erweckte Vertrauen. Von ihrem Gesicht war das Leiden abzulesen, mit dem sie sich so viele Jahre getragen hatte; es war ganz nervöse Anspannung, wie so oft bei Menschen, die eine sehr schreckhafte Katastrophe in gewisser Aussicht haben, unausgesetzt darauf warten, vor jedem Geräusch erzittern und sich dabei noch verpflichtet fühlen, ihre Erregtheit zu verstecken; an den Schläfen zeigte sich die Haut wie transparent, so daß die feinsten blauen Aederchen sichtbar wurden, und die Lippen waren beinahe farblos geworden.

Ihre Kinder hatte sie mitgebracht. Die Tochter war größer als die Mutter, stattlicher in ihrer Erscheinung, feiner in ihrem Auftreten, wahrscheinlich dem Vater ähnlicher als der Knabe, der körperlich zurückgeblieben und gedrückt erschien. Frische Farben ließen sich auch bei ihr vermissen, aber ihr Auge war lebhaft und ihre Haltung zuversichtlich. Die reiche Fülle des schönsten blonden Haares mußte auffallen, ein Schmuck, der jeden künstlichen entbehrlich machte.

„Meine Lage ist sehr schwierig,“ sagte die Geheime Räthin, nachdem sie mich im Allgemeinen orientirt hatte. „Ich möchte gern arbeiten, aber es wird mir schwerer als Andern, Arbeit zu erhalten. Wenn ich mich nenne, hält man mich für eine große Dame, mit der man sich genirt in einen Verkehr dieser Art zu treten, und so werde ich überall höflich abgewiesen. Man giebt mir auch wohl zu verstehen, daß der Verdienst zu gering sein würde, um davon drei Menschen unterhalten zu können, und daß ich weiter käme, wenn ich die Wohlthätigkeit der reichen Leute in Anspruch nehmen wollte, die immer ein gewisses Interesse dabei haben, Personen ihres Standes nicht ganz sinken zu lassen; ich kann mich aber nicht entschließen, Bettelbriefe zu schreiben, so lange ich rüstig bin, und will lieber darben als –“

„Rege Dich nicht auf, Mutter,“ bat das Mädchen, dem diese Erörterung sehr peinlich zu sein schien; „es wird uns besser gehen, als Du glaubst, wenn Du mir nur erlauben willst, Handarbeit zu übernehmen; mit einem jungen Dinge, wie ich bin, macht man weniger Umstände, und Du kannst ja hinterher zu Hause helfen.“

Die Wittwe seufzte bekümmert. „Ich verstehe mich sehr ungern dazu“, antwortete sie, mehr zu mir, als zu ihrer Tochter gewendet. „Könnte es nach meinen Wünschen gehen, so müßte Ottilie in ein Seminar, um sich zur Lehrerin vorzubilden; leider ist bei ihrer bisherigen Erziehung wenig Bedacht genommen, sie zu einem selbstständigen Erwerbe vorzubereiten, und es würde mindestens ein Jahr dauern, bis sie das vorgeschriebene Examen bestehen könnte. Was bis dahin?“

„Man muß nicht verzagen,“ tröstete das Mädchen „Du meinst nur immer, wenn der Himmel voll Wolken hängt, es werde nie wieder schönes Wetter werden, und die liebe Sonne richtet’s doch ein, wie sie es will.“

„Wenn du meine Erfahrungen hättest –!“ wandte die Mutter mit leisem Vorwurf ein. „Aber ich will dich nicht schelten; es ist das schöne Vorrecht der Jugend, hoffen und vertrauen zu dürfen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_559.JPG&oldid=- (Version vom 9.7.2021)