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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Und haben wir nicht einen Freund?“ fragte Ottilie mit leuchtenden Augen und gleich darauf erröthend und scheu zur Erde blickend, als ob sie in der Lebhaftigkeit des Zuspruchs etwas verrathen hätte, das geheim bleiben sollte. „Er ist ja doch mein Cousin,“ setzte sie schüchtern entschuldigend hinzu, als die Geheime Räthin nicht sogleich antwortete.

„Mein Neffe, der Assessor Lange, ist gemeint,“ wandte sich Letztere nun an mich. „Freilich ein Freund, dem wir uns aber hüten müssen Ungelegenheiten zu bereiten.“

„Haben Sie denn nicht seinen Vater, den sehr ehrenwerthen Meister Lange, aufgesucht?“ fragte ich ausforschend.

„Freilich,“ bestätigte sie, „aber er hat mir durch seine Magd sagen lassen, daß er nicht zu Hause sei – ich muß es aufgeben, ihn versöhnlicher gegen die Familie seines Bruders zu stimmen.“

„Der Querkopf!“ rief ich unwillkürlich. „Wen gedenken Sie zum Vormund Ihrer Kinder in Vorschlag zu bringen?“

„Ich wollte eben meinen Schwager bitten, dieses Amt zu übernehmen,“ antwortete sie, „aber jetzt weiß ich Niemand –“

„Bleiben Sie dabei!“ rieth ich, „trotz alledem.“

„Wie? nachdem er mir deutlich genug die Thür gewiesen hat?“

„Trotz alledem.“

„Er wird das Amt ablehnen – eine neue Demüthigung für mich.“

„Lassen wir’s darauf ankommen! Es muß durchaus etwas zu einem vernünftigen Ausgleich geschehen.“

„Aber dieses Mittel –?“

„Wir fassen ihn da beim Ehrenpunke – darf ich schreiben?“

„In Gottes Namen,“ sagte sie; „ich werde den Kelch bis zur Neige leeren.“

Sie unterzeichnete darauf das Protokoll mit zitternder Hand und entfernte sich mit der rührenden Bitte, ihr fernern Beistand nicht zu versagen. –

Ich weiß nicht, wie mir der Rath so schnell auf die Lippen gekommen war, den widerhaarigen Meister zum Vormund zu berufen, und worauf ich eigentlich rechnete, wenn ich daran so beharrlich festhielt. Als ich allein war, fiel es mir auf’s Gewissen, daß ich einen bestimmenden Einfluß auf Verhältnisse versucht hatte, die ich in keiner Weise beherrschte. Aber das Protokoll war nun einmal geschrieben, und die Sache mußte ihren Gang haben. Mehr noch: ich war auch verpflichtet, mich persönlich dafür zu bemühen, daß sie nicht schief ging. Ich besuchte also den störrischen Freund Nachmittags zu der Zeit, wo er, wie ich wußte, mit der alten Mama Kaffee zu trinken pflegte.

Er begrüßte mich nicht ganz mit der gewohnten Offenheit und Herzlichkeit, obgleich er es an freundlichen Worten nicht fehlen ließ. Es war, als ob er merkte, daß ich diesmal mit Absichten komme oder daß ich mit ihm nicht zufrieden sei. Ich hielt es für das Beste, geradeaus auf’s Ziel zu gehen.

„Als Sie mir neulich Ihre Familiengeschichte anvertrauten, lieber Meister,“ sagte ich, glaubte ich nicht in die Lage zu kommen, an der Fortsetzung mitarbeiten zu müssen. Nun ist’s aber doch so.“

Er schlürfte aus der Untertasse, in die er den heißen Kaffee zum Kühlen gegossen hatte, in langen Zügen und enthob sich so der Nothwendigkeit zu antworten.

„Wissen Sie denn, daß Ihre Schwägerin, die Geheime Regierungsräthin, hier ist?“ fragte ich weiter, ohne ihm Ruhe zu gönnen.

„Und wissen Sie denn,“ fuhr er auf, „daß sie es gewagt hat, mein Haus zu betreten – sie, die Frau meines Bruders – nach dem, was zwischen uns –“ Er setzte die Tasse heftig ab, daß der Kaffee überschüttete.

„Ruhig, Gotthilfchen, ruhig!“ beschwichtigte die Alte. „Unser Haus steht ja Jedem offen – mag da kommen, wer will!“

„Und es sollte Ihnen doch erfreulich sein,“ meinte ich, „daß Ihre Schwägerin –“

„Ich habe keine Schwägerin,“ rief er aufgebracht, „ich habe keinen Bruder! Glaubt die vornehme Dame mir eine Ehre zu erweisen, wenn sie gnädigst über meine altbürgerliche Schwelle tritt? Sie irrt! Ihre Herablassung ist eine Beleidigung für mich, und in meinem Hause wenigstens soll mich Niemand beleidigen.“

„Laß doch nur Deinen Kaffee nicht kalt werden, Gotthilfchen!“ bat die alte Mama. „Du hast ihr ja schon Deine Meinung zu wissen gethan, und sie kommt Dir gewiß nicht wieder.“

„Da sehe ich doch,“ sagte ich gelassen, „daß ich über manche Dinge viel besser unterrichtet bin als Sie, und wenn nun Ihre Schwägerin eine sehr würdige und unglückliche Frau wäre“ – er schüttelte abweisend den Kopf – „wenn sie gekommen wäre, um Sie, den reichen Mann, in der Noth um eine Unterstützung zu bitten – wie?“

Er zuckte die Achseln. „Eine so vornehme Dame –? schwerlich!“

Ich erzählte umständlich, was ich von seinem Sohne erfahren hatte, ohne meine Quelle zu nennen, und er wurde doch nachdenklich gestimmt. Es war ihm sogar etwas Neues, zu erfahren, daß sein Bruder zum zweiten Male geheirathet hätte, und daß aus dieser zweiten Ehe Kinder hinterblieben seien.

„Giebt’s also doch eine Vergeltung?“ rief er, als ich mit einer Schilderung des Nothstandes schloß, in dem die Familie sich befand. „Giebt’s eine Vergeltung? Ja, mein Vater hat Recht gehabt: es ist Niemand glücklich, der nicht seinen Frieden mit sich selbst machen kann – Niemand, wie er sich auch vor der Welt ausstaffire. Was ist er anders geworden als ein vornehmer Lump, der sich mit Füßen treten ließ, um nur auf der Treppenstufe geduldet zu werden, auf die er sich hinaufgewedelt hatte? Und kaum schließt er die Augen, so fällt das ganze Kartenhaus seiner Herrlichkeit zusammen. Betrogene Gläubiger fluchen hinter ihm her. Die eigenen Kinder verleugnen ihn – saubere Früchtchen von so einem Stamme! Nicht alle – einige läßt er auch mit ihrer Mutter im bittersten Elend zurück, damit sein Maß voll werde, und sie können nicht einmal betteln gehen, ohne sein Andenken zu beschimpfen. So steht’s also – so? Ja, es giebt eine Vergeltung!“

Er war aufgestanden und ging in der Stube auf und ab, immer mit den Armen fechtend und bald hier, bald dort einen Stuhl oder andern Gegenstand anstoßend.

„Sie werden dem Unglück Ihr Mitleid nicht versagen können,“ äußerte ich. „Sie können helfen und Sie müssen helfen, wenn Sie ein Christ sind.“

Er sah mich erstaunt an.

„Ich?“ sagte er höhnisch, „ich? Bin ich dazu gut genug? Ist nun der armselige Schuster wirklich auf der Welt? Hoho! Weiß die Frau Geheimräthin nicht, daß sich besudelt, wer Pech anfaßt? und Pech gehört nun einmal zur Schusterei.“

„Das sind unvernünftige Reden, lieber Meister,“ bedeutete ich ihn. „Sie wissen freilich nicht, wie sehr unrecht Sie Ihrer Schwägerin thun, denn Sie kennen sie nicht.“

„Erzählten Sie nicht, daß ihr Großvater ein armer Tischler gewesen ist?“ fragte die alte Mama, ängstlich theilnehmend.

Ich bejahte es.

„Und daß sie in der Schule etwas Tüchtiges gelernt hat, was für ein Handwerkerskind seine Schwierigkeiten hat, und Lehrerin in einem angesehenen Hause geworden ist? Sehen Sie, das will doch etwas sagen. Und hat’s dann gar zur Geheimen Räthin gebracht – eines armen Tischlers Enkelin. Passirt selten einmal – sehr selten. Ei, ei –! sehr selten!“ Sie sprach das zu mir, aber es schien doch auf ihren Gotthilf gemünzt zu sein und blieb auch nicht ohne Wirkung.

„Hat auch recht was von der seltenen Ehre gehabt,“ brummte er. „Du hörst ja. Ihres Großvaters Altgeselle hätte sie vielleicht glücklicher gemacht.“

Sie goß aus der Kanne heißen Kaffee in seine noch halbgefüllte Tasse.

„Das ist etwas Anderes, Gotthilfchen,“ sagte sie kopfschüttelnd. „Und wer weiß auch –? Hat Eine erst Bildung gelernt und sich bei feinen Leuten umgethan, die braucht auch einen Mann, dem sie nicht über den Kopf sieht. Für das Unglück kann freilich Niemand – wenn’s wirklich Unglück ist und nicht Verschuldung.“

Ich drückte ihr die Hand.

„Die alte Mama spricht gut,“ bemerkte ich. „Aber der Meister Lange ist, wie ich sehe, ein hartherziger Mann, der gar nicht verdient, eines christlichen Pfarrers Sohn zu sein. Er kann nicht vergessen und nicht vergeben.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 560. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_560.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)