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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


System des Menschenfanges, bei welchem alle Erfahrungen der geschicktesten kaufmännischen Technik und des Rhedereigewerbes mit Betrug, Hinterlist, Gewaltthätigkeit, Raub und Mord so innig zusammengewoben sind, daß die Opfer der Gewinnsucht gleichsam in den Schlingen der Gesetzesparagraphen selbst erdrosselt werden.

Das Verfahren in der Hauptsache ist bekannt. Der wichtigste Stapelplatz für den Handel in frischem Menschenfleische ist die an der Mündung des Cantonflusses gelegene altportugiesische Besitzung von Macao, der Freihafen aller denkbaren Nichtswürdigkeiten. Seit 1847, wo die ersten Auswanderungsschiffe von dort ausliefen, ist das Geschäft in fortwährendem Aufblühen zu kaum glaublicher Ausdehnung emporgeschwollen. Das alte Muster des „Auswanderungscontractes“ war in der Kürze dieses: Freie Ueberfahrt nach den amerikanischen Arbeitsmärken; als Gegenleistung die Verpflichtung, acht Jahre lang gegen einen geringen Lohn (monatlich nicht ganz sechs Thaler) zu arbeiten, Ueberlassung der Auswanderer nach der Ankunft in Amerika an den Meistbietenden. Mit anderen Worten: Der Auswanderer verpflichtet sich nicht einem bestimmten Herrn und Arbeitsgeber, sondern degradirt sich selbst in allen Formen eines Vertrages zu einer Sache, die auf den Mark gebracht und etwa wie ein Ballen Rinderhäute je nach der Conjunctur theurer oder billiger öffentlich versteigert wird.

Das schlimmste Schicksal traf Diejenigen, welche auf den peruvianischen Chinchas-Inseln mit der Gewinnung des Guano zu Tode gepeinigt wurden. Auch das Wort Guano mahnt uns an gewisse Formen des Culturwahns. Bildet man sich nicht ein, daß vor hundert Jahren die Folter unter christlichen Nationen abgeschafft wurde? Freilich wohl dem Namen nach gegen verstockte Diebe und Gauner. Was aber in der Republik Peru „freigeworbene“ Kulis auf den Guano-Inseln auszustehen haben, würde Dante, hätte er dergleichen gekannt, für seine Schilderungen der Hölle verwerthet haben. Beneidenswerth im Verhältnisse zu den Qualen dieser Chinesen war das Schicksal Derer, welche etwa vor hundert Jahren in einsamen Folterkammern die Daumschrauben und „spanischen Stiefel“ oder den „gespickten Hafen“ und ähnliche Marterwerkzeuge kennen lernten. Bereits 1860 rechnete man, daß von viertausend auf den Guano-Inseln gelandeten Arbeitern nicht ein einziger am Leben geblieben war.

Je weniger das Schicksal chinesischer Auswanderer in der Gegenwart verborgen bleibt, je weniger es zur Nachahmung im Reiche der Mitte ermuthigen konnte, desto planmäßiger mußten die Mittel des Menschenfanges in Macao ausgebildet werden. Der Reihe nach entstanden jene zahlreichen „Barrakuns“ oder Sclavendepôts, in denen die chinesischen Kulis in der Zwischenzeit zwischen ihrer Anwerbung und ihrer Einschiffung wie in einer Vorrathskammer aufgespeichert wurden. Sobald der Kuli das sorgfältig bewachte und vergitterte Eingangsthor passirt hat, öffnet es sich nur noch einmal für ihn, wenn er an Bord des Schiffes in die Heerde seiner Leidensgefährten getrieben wird.

Nach allen Regeln anderer Arbeitstheilung betrieben, zerfällt der Kulihandel in mehrere eng ineinander greifende Geschäftszweige. Der erste in der Reihe der Gauner ist der chinesische Auswanderungsagent, welcher seine Kopfgelder für jedes „Stück“ empfängt. Unter ihm arbeiten, von ihm angewiesen und angelernt, Menschen, die man den Abschaum der chinesischen Betrüger nennen kann. Sie benutzen in öffentlichen Localen die Uebereilung des verzweifelnden Glückspielers, den sie zur Rettung des Verlorenen anspornen, seinen Leib gegen eine Summe Geldes auszuwürfeln. Der Leichtsinnige, der von ihnen zur Ausschweifung und zum Trunke verlockt wurde, bezahlt die Schulden einer einzigen Nacht mit der Unterschrift, die ihm seine Freiheit, sein Leben kosten wird. Nichts ahnende Handwerker oder Bauern werden unter betrügerischen Vorspiegelungen eingefangen, öfter aber durch unternehmende Seeräuberzüge geraubt und fortgeschleppt. Niemand in den südchinesischen Küstengegenden ist gegen solche Gewaltthat geschützt. Selbst der Verrath spielt seine Rolle, indem er persönliche Feinde dem Menschenhändler überliefert. Alle diese Frevelthaten, obwohl in jenem Himmelsstriche weltbekannt, geschehen in den täuschenden Formen des Rechts. Chinesische Mandarinen beziehen ihre Procente und der portugiesische Procurator, der in Macao die Auswanderungsschiffe mustert, findet bei seinen Revisionen Alles „vorschriftsmäßig“. Die Gesammtkosten für Anwerbung und Transportirung eines Kuli nach Westindien beziffern sich auf etwa dreihundertundsieben Thaler. Nimmt man, wie Sachverständige rechnen, den Reinertrag des Geschäfts für jeden Kuli auf einhundert Procent des Capitals an, so wird man anerkennen: diese Speculanten in Macao und Canton haben allen Anspruch darauf – „Gründer“ eines Vermögens genannt zu werden.

Den Portugiesen gesellten sich alsbald, durch so große Erträgnisse angelockt, andere Nationalitäten zu. Die englisch-französischen Verträge von 1860 stipuliren von China die „Freiheit der Auswanderung“. Seit jener Zeit ist ein englisches und ein französisches Auswanderungsbureau in Canton eröffnet worden.

Wie es den Kulis auf dem Transporte ergeht, darüber sind von Zeit zu Zeit Nachrichten in die Oeffentlichkeit gedrungen, deren Wirkung eine nachhaltige sein würde, wenn sie in gebührender Ordnung und in ihrem Zusammenhange gelesen und gewürdigt werden könnten. In kleinen Notizen zerstreut, entgehen sie aber der nachhaltigen Aufmerksamkeit; sie verfallen dem Schicksale der Vergessenheit mit dem Verschwinden der Zeitungsnummer, die sie gebracht hatte. Höchst werthvolle Mittheilungen enthalten aber die englischen Parlamentsberichte, welche diesem Gegenstande gewidmet sind. Ob sie Alles sagen? – wer weiß es! Mehr als die Wiederholung solcher Schreckensberichte bedeutet vielleicht die statistische Ziffer. In dem zwanzigjährigen Zwischenraume zwischen 1847 und 1866 sind allein nach Cuba 211 Fahrzeuge mit 85,768 Kulis verschifft worden. Verstorben unterwegs 11,209!! Wie viele später an Krankheiten und an Selbstmord in kurzer Zeit nach ihrer Ausschiffung endeten, bleibt dunkel. Jedenfalls behält der Chinese nach seiner Landung kaum eine Hoffnung, seine Heimat wiederzusehen. Ein spanisches Gesetz aus dem Jahre 1860 verbot den Aufenthalt freier Chinesen auf Cuba; wer nach Ablauf seines achtjährigen Arbeitscontractes die Rückfahrt nicht zu bezahlen vermag, hat nur die eine Möglichkeit, sich wiederum für acht weitere Jahre zu verdingen, und so fort. Begreiflich ist es, daß die Chinesen in ihrer Sprache das Kulitransportgeschäft „Schweinehandel“ nennen.

Die englischen Richter in Hongkong haben zu wiederholten Malen öffentlich in ihren Urtheilen ausgesprochen, daß das Kuligeschäft seiner ganzen Natur nach nichts anderes sein kann als Sclavenhandel und daß alle sogenannten „Regulative“ zur Beaufsichtigung dieses Gewerbes wirkungslos bleiben. Jenen Richtern gereichte es zur besonderen Ehre, in dem oft genannten Proceß Kwok-a-Sing einen chinesischen Kuli freigesprochen zu haben von der Anklage des Todtschlags und der Meuterei gegen den Capitain eines Kulischiffes. Es wurde angenommen, daß unter den obwaltenden Umständen gewaltsame Befreiungsversuche auf hoher See nur als berechtigte Nothwehr angesehen werden könnten.

Und wie oft werden derartige Versuche unternommen! Unterliegen die empörten Kulis der meistens trefflich bewaffneten Schiffsmannschaft, so ist das Schicksal der Ueberlebenden um so schrecklicher. Behalten die Kulis die Oberhand, so schonen sie nur das Leben derer, welche erforderlich sind, das Schiff in den nächsten chinesischen Hafen zurückzusteuern.

Eine etwas veränderte Gestalt zeigt der Menschenhandel in der Südsee. Dort fehlen mancherlei Rücksichten, die an den Küsten Chinas genommen werden müssen. Roher und gewaltsamer vermag der Menschenfänger der Südsee zu verfahren. Auf dem unermeßlichen Seegebiet Polynesiens (Australien) ist eine Ueberwachung so gut wie unmöglich. Tiefer ist der Bildungsstand der zum staatlichen Leben noch nicht vorgeschrittenen Insulaner. Die hauptsächlichsten Ansatzpunkte für den „schwarzen Vogelfang“ sind die nördlichste der englischen Austral-Colonien, Queensland, die französischen Besitzungen von Neu-Caledonien und die Fidschi-Inseln, auf denen sich neben der eingeborenen Bevölkerung in den letzten Jahren zahlreiche Engländer und Franzosen niederließen, um unter König Kakoban’s constitutioneller Regierung ihre Geldbeutel möglichst schnell zu füllen. Was zur Abstellung der scheußlichsten Verbrechen des Menschenfangs bisher von der englischen Colonialregierung oder von der Marine unternommen wurde, hat sich als eitle Spiegelfechterei erwiesen.

Das Verfahren, das beim Einfangen der polynesischen Kulis beobachtet wird, ist in der Regel dieses: Sobald in der Nähe der Insel ein fremdes Schiff vor Anker geht, finden sich die Eingeborenen auf ihren Booten ein, um Tauschhandel zu treiben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_616.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)