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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


durch völlig freie und naturgemäße Einwanderung der Chinesen die etwa fehlenden Arbeitskräfte auf das Leichteste ersetzen können. Ebensowenig bezweifle ich die Mitwirkung der italienischen, österreichischen und russischen Regierung. In anderem Sinne als ehemals ist gegen den Kulihandel unter den osteuropäischen Staaten und Rußland eine heilige Allianz zu schließen. Warten wir ab, ob der Geltung der Menschenrechte von Portugal, Spanien und Peru die Vertröstung auf Guano und Zuckerrohr entgegengesetzt werden wird.

Wie sich die höchsten sittlichen Aufgaben gleichzeitig immer im Verlaufe der Zeiten auch als die nutzbringenden erweisen, so wird in Wahrheit die Abschaffung der neuen mit dem Mißbrauche der Rechtsformen verbrämten „Sclaverei“ dahin führen, daß jene Vorurtheile schwinden, die uns den Weg in das Innere Chinas versperren und welche wir leider angesichts des Kulihandels als unsererseits verschuldet und verdient bezeichnen müssen. Ich glaube nicht, daß der deutsche Reichstag es über sich vermögen wird, die Sache der Kulis als eine unserer Nation gleichgültige von der Hand zu weisen. Er hat ausgesprochen, daß das Privateigenthum des Feindes im Seekriege von habgieriger Wegnahme verschont bleiben sollte, obwohl dies nach dem geltenden Völkerrechte gestattet ist. Und er sollte kein Wort der Rüge und der Theilnahme haben, wenn mitten im Frieden Freiheit, Gesundheit und Arbeitskraft einer mit uns in Frieden lebenden Bevölkerung unter betrügerischen Vorstellungen geschädigt und vernichtet werden? Für die Beobachtung der Sonnenfinsternisse in fernen Zonen, für die Ergründung der Meerestiefen, für die Durchforschung afrikanischer Wüsteneien, für die Erreichung des Nordpols hätte das deutsche Volk Sinn und Verständniß, und der Wiedereinführung der Folter und der Sclaverei im Kulihandel sollte es gleichgültig zuschauen? Belehren wir doch die Pfaffen, die von der Entchristlichung des deutschen Staates so viel faseln, daß wir deswegen eine christliche Nation sind, weil wir den verfolgten Juden Rumäniens beistehen und weil wir die mit Füßen getretenen Rechte der Heiden männlich und entschieden vertheidigen und diese christlichen Pflichten unseren Staatsmännern und Volksvertretern auf das Gewissen zu legen gesonnen sind.




In den Hallen des „Schweigens“ und des „Mirakels“.


Alljährlich, vom Monat Juni an bis um die Mitte des Monats Juli, wenn die Natur ihre Pracht und Herrlichkeit vor Millionen froher Wesen entfaltet, ziehen paarweise in Haufen von zehn bis zwanzig Personen Männer, Weiber und Kinder barhäuptig laut betend und singend durch die Dörfer der Eifel, um in Heimbach, einem Flecken an der Roer[WS 1] gelegen, ihre Andacht vor dem daselbst aufgestellten, weit und breit berühmten Muttergottesbilde zu verrichten. Stunden- und meilenweit kommen sie daher gewandelt, in der beschäftigtsten Zeit des Jahres, wo der ohnedies so wenig ergiebige Acker eine tüchtige und fortgesetzte Bearbeitung verlangt, manche einer alten Gewohnheit huldigend, andere wieder, um ein gethanes Gelübde zu erfüllen, die Mehrzahl beseelt von frommer Schwärmerei, Neugierde und dem Hange zum Müßiggange. Schaarenweise überfüllen sie die von ihnen passirten Ortschaften, wo Wirthe und Krämer durch Verkaufen von Speisen, Getränken und allerlei zum Haushalt gehörigen Gegenständen an die Wallfahrer die besten Geschäfte machen. Oft finden aber auch diese Züge in Begleitung des Ortsgeistlichen in ganzen Processionen statt, ja, mehrere der letzteren vereinigen sich manchmal, legen ebenfalls fast den ganzen Weg bis zu ihrem Ziele in gedankenloser Andacht, laut betend und singend, zurück und werden in den zwischenliegenden Dörfern mit Glockengeläute und allen möglichen Ostentationen empfangen. In den letzteren schließen sich ihnen dann gewöhnlich immer neue Theilnehmer an, so daß der Haufen zuletzt zu einer nicht unbedeutenden Masse anschwillt.

Der Weg nach Heimbach hin und zurück, teilweise über Chaussee, teilweise durch gebirgiges, bewaldetes und beschwerliches Terrain führend, wird nur zu Fuße abgemacht, und die Meisten gelangen, von der Hitze der Jahreszeit und den Strapazen der weiten Reise angegriffen, in einem schwer zu beschreibenden Zustande der Ermattung an dem Ziele ihrer Sehnsucht an, ja, haben oft wochen- und monatelang nachher an den Folgen ihres unsinnigen Verfahrens zu leiden, was sie aber Alles nicht beachten, weil sie, ihrer beschränkten Ansicht nach, es sich zur Ehre Gottes zugezogen.

Um mir die Sache selbst an der Quelle einmal anzusehen, stieg ich an einem schönen Julimorgen über die Berge, hoffend, noch vor Mittag die vielgepriesene Stätte des Heils zu erreichen. Steil aufwärts schlängelt sich der Pfad über bewaldete Höhen, und nach kaum einer Viertelstunde triefte mir schon der Schweiß in Strömen über Stirne und Wangen herab. Oben angelangt, sieht sich der Wanderer vom schattigen Dunkel eines Buchenwaldes empfangen, das ihn köstlich entschädigt für die eben ausgestandene Mühe beschwerlichen Kletterns. Stärkend und belebend umweht ihn der Odem erfrischender Kühle; ein solches Bad in der mit dem aromatischen Dufte der Kräuter geschwängerten Atmosphäre wirkt jederzeit wohlthuend auf Nerven und Gemüth und läßt uns bald die drückenden Gedanken an die Alltagssorgen vergessen.

Der Morgen war herrlich. Vom wolkenlosen Himmel leuchtete die Sonne mit intensiv warmem Lichte und vergoldete magisch die in saftigem Grün glänzenden Blätter mächtiger Buchenstämme. Der ganze weite Wald wimmelte und lebte von dem rastlosen Treiben seiner Bewohner, und mit dem fröhlichen Gesang und Gezwitscher munterer Vögel mischte sich tausendfach das Zirpen und Summen schillernder Käfer und schwirrender Insecten. Leicht schritt ich durch schattige, dämmerhafte Laubgänge dahin, und als ich um die nächste Lichtung bog, lag das Kloster Mariawald vor meinen Blicken. Es ist dies der letzte vor Heimbach gelegene Ruhepunkt, an welchem die Pilger gewöhnlich Rast zu halten pflegen. Ehemals barg dieses Kloster das Marienbild, von dem es auch den Namen erhalten hat; als aber die Stürme der französischen Revolution auch über diese Gegenden hinbrausten, als das Schwert der Republik mit dröhnendem Schlag an die Pforten der Klöster pochte und die Mönche entflohen, da mochte man das Mirakel hier oben wohl nicht mehr recht sicher glauben und flüchtete es in die im Thale gelegene Kirche von Heimbach, woselbst es bis heute, zum großen Aerger der Mönche des Klosters Mariawald, geblieben ist. Auf schroffem Bergesrücken erbaut, malerisch von Feld, Wiesen und Gehölz umgeben, birgt dieses Kloster in seinem Innern ungefähr dreißig dienende Brüder, die zum Orden der Trappisten gehören. Das Gebäude selbst ist ein alter, ziemlich verwitterter Bau, an dem der Zahn der Zeit schon tüchtig seine Kraft erprobte. Da mir die Gastfreundschaft der Mönche und vermöge meiner Berufsgeschäfte mehrere derselben persönlich bekannt waren, beschloß ich, an diesem Orte des Schweigens auf Augenblicke zu verweilen.

Bei meinem Eintritte in den geräumigen Klosterhof bemerkte ich eine Schaar von Pilgern, die, schon vor mir hier angelangt, in anscheinend ziemlich erschöpftem Zustande um einen großen Brunnen lagerte und Eimer auf Eimer des köstlichsten Wassers aus dessen Tiefe schöpfte, um die schmachtende Zunge zu netzen. Männer und Weiber hatten sich in chaotischem Durcheinander auf der platten Erde niedergelassen und neben sich Kreuze, Laternen und Fahnen an die Mauer gelehnt. An dem hochgeschwungenen Portale empfing mich der mir schon bekannte Pförtner, der von dem Gelübde des Schweigens diesmal durch einen Dispens des Priors entbunden worden war, denn mit freundlichen Worten lud er mich zum Eintreten und zu einem kühlen Labetrunke des köstlichen Bieres ein, das hier an Ort und Stelle gebraut wird.

Durch weite Bogenhallen hindurch am Refectorium vorbei geleitete er mich in das Ansprachszimmer, wo er mich verließ, um mich dem Prior zu melden. Ich war allein und hatte Muße, die ziemlich kahle Ausstattung des Zimmers zu mustern, das außer einigen massiven alterthümlich aussehenden Stühlen, einem Tische von ähnlicher Façon und einigen an den nackten Wänden hängenden werthlosen Heiligenbildern nichts Bemerkenswerthes bot.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: an der Ruhr; vergl. Berichtigungen (Die Gartenlaube 1873/45)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_618.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)