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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


der Natur zog es den Schleier hinweg, den meine Unkenntniß über dieselbe gedeckt. Schon hundert dem Ruhme nach schönere Gegenden zogen an meinem Auge vorüber, keine spiegelte sich so in meiner Seele, keine erfüllte mich mit reinerer Freude, mit enthusiastischeren Gefühlen als diese Alpenrundschau.

Beim Anblicke der mit Sennhütten und weidendem Vieh besäeten grünen Matten, des rauschenden Waldstroms, der in dieser Entfernung wie flüssiges Silber in der Sonne glänzte, kam nur ein Gedanke auf: wie wunderschön ist’s doch auf Gottes großer Welt! Und als wir unseren Weg fortgingen, rechts die mit hohen Tannen und manchmal mit einem herabgestürzten Felsen bedeckten Hügel, links die Schlucht, in die ich nicht zu blicken wagte, da fühlte ich mich so glücklich – ich hätte singen und jauchzen mögen wie ein Kind.

Mit einer unermüdlichen Aufmerksamkeit, als müsse er es mit dem Leben bezahlen, wenn ich mir den Fuß verstauchte oder nur ein Tannenzapfen auf mein Haupt fiel, ging Herr Impach neben mir einher. Unser Gespräch war, glaube ich, deshalb so einsilbig, weil er zu ängstlich jeden meiner Schritte beobachtete. Wir kamen an eine Lichtung, wo eine Gruppe von Fichten ein reizendes kleines Bild umschließt. Da ich ermüdet aufseufzte (ich hatte in meinem Leben keine so lange Fußtour gemacht), breitete Herr Impach den Plaid auf einen mit Moos und Epheu ganz bewachsenen Stein. Nachdem ich mich gesetzt, zeigte ich ihm den Platz an meiner Seite; ich mußte unwillkürlich an Cousine Dorothea denken und erstaunte, wie der Maler eiligst von dem ihm angewiesenen Platze Besitz nahm, ohne nur daran zu denken, mir wie der Cousine, eine Verbeugung zu machen.

„Zeichnen Sie dieses Plätzchen! wie?“ sprach ich nach minutenlanger stiller Betrachtung.

Augenblicklich zog er sein Portefeuille hervor, nahm den Bleistift in die Hand, blickte jedoch dabei träumerisch auf das Stückchen Gebirgsgegend vor uns. Seine Hand machte einige Striche, unbestimmte, nichtssagende Linien. Ungeduldig blickte ich ihn an; einem Paare bittender Augen begegneten die meinigen. „Ich kann jetzt nicht zeichnen,“ sagte er plötzlich, „und müßte es um den Preis meines Lebens sein! Fürchten Sie nicht, daß ich einen Zug dieses Ortes vergesse; ich verspreche Ihnen davon ein ganz genaues Bild, nur jetzt nicht!“

Was hatte er nur? Mich sollte der weite Weg doch mehr angestrengt haben als ihn, den starken Mann. Ich nahm ihm Papier und Bleifeder aus der Hand und begann, so gut ich konnte, eine Aufnahme des reizenden Ortes. Glaubst Du, Amalie, ich hätte etwas zu Stande gebracht? Nicht das Geringste! Aus dieser zeitweiligen Leistungsfähigkeit zog ich mir den Schluß: will man nach der Natur zeichnen, so sei der Weg, den man zurücklegt, nicht zu lang, der Begleiter kein Maler, da dieser seinen ganzen Geist, alle seine Fähigkeiten im Anschauen verschwendet und nicht einmal mächtig ist, eine kleine Skizze zu Stande zu bringen. Offenherzig gab ich ihm sein Buch zurück und sprach:

„Es geht mir wie Ihnen – auch ich kann nicht zeichnen. Wahrscheinlich sind unsere Seelen des Genossenen zu voll, als daß ihnen die schwachen Mittel, ihre Eindrücke wiederzugeben, ausreichten. Lassen wir’s sein!“

Der Versuch, diesen Worten einen komischen Anstrich zu geben, mißlang mir gänzlich. Wieder trat Stillschweigen ein. Unser Weg hatte uns weit geführt; denn die Sonne fing an, sich mehr und mehr dem westlichen Horizonte zu nähern. Wie die Motte vom Lichte angezogen wird, so verwandte auch ich kein Auge vom flammenden Himmel. Kein Stückchen der herrlichen Beleuchtung sollte mir verloren gehen! Ob der Maler wie ich that, weiß ich nicht; ich saß so in mich versunken, daß ich aufzuckend in die Höhe schaute, als ein leises „Sehen Sie!“ an mein Ohr tönte. Meine Augen begegneten den in feuchtem Glanze aufleuchtenden des Malers; dann der angedeuteten Richtung folgend, sah ich rückwärts. Welcher Anblick, Amalie, ward mir da! Die Alpenkette in vollstem Glühen, der Schnee in eine rosige Masse verwandelt, die nur mit den Wölkchen ob ihrem Haupte verglichen werden konnte. Solche Pracht war mir ungewohnt, wie vernichtet stand ich da und konnte meinem Entzücken keinen Ausdruck geben. Als ich mich nach meinem Begleiter umwandte, stand er neben mir und blickte mich mit verzehrenden Blicken an, als wolle er die Wirkung der Natur auf ein erst durch ihn auf sie zurückgeführtes Wesen betrachten.

Nun kommt, Amalie, was ich zu gestehen erröthe, und dennoch, wäre ich im gleichen Falle, ich würde es wieder thun. Welch eigenthümlichem Gefühle ich es zuschreiben soll – ich weiß es nicht, aber gewiß ist, daß es mir in dem Augenblicke schien, als hätte ich den Genuß einzig und allein ihm zu verdanken, als gäbe es ohne ihn gar keine Alpen, keinen Sonnenschein auf Erden. In einem Augenblicke überströmenden Gefühls nahm ich eine seiner Hände in meine beiden und blickte ihm dabei ernst und dankbar in’s Auge. Was konnte ich dafür, daß mir zwei große, schwere Thränentropfen auf die Wangen fielen? Ich hatte ihn kaum losgelassen, so wandte er sich ab, und als er zurückkehrte, mußten wir den Heimweg antreten. Wir wurden den ganzen Tag nicht mehr wir selbst. Nicht einmal an gefährlichen Stellen bot er mir den Arm, sondern ging dann rücklings voraus und überwachte auf diese Art meine Tritte. Zu Hause angelangt, wußte er viel zu erzählen von allen möglichen Dingen, von Alpwirthschaft und Streifzügen der Gemsjäger, vom morgigen Fahrtenplane und hundert anderen Sachen, nur von unserem Ausfluge wußte er kein Wort zu sagen. Allerdings beantwortete auch ich Cousine Dorothea’s Fragen mit einem äußerst lakonischen „Sehr schön war es; schade, daß Du nicht mitkamst.“

Ich Heuchlerin – die Cousine hätte mir den ganzen Naturgenuß verdorben! Doch ich muß abbrechen. Mein Florentiner Idyll ein anderes Mal!

Deine Hedwig.


10.

In Wirklichkeit Dir nahe, mein Gottfried, bin ich doch von Deinen Armen, von meinem Ziele ferner, als ich es je war. Hat Dir jemals der Dir neue Ton meiner Briefe ein Lächeln abgelockt, jetzt, Gottfried, lächle nicht mehr, denn im Herzen Deines Freundes sieht es aus zum Grauenerregen. In einem und demselben Momente preise ich mich glücklich, hier zu sein, und wünsche mich tausend Meilen weit hinweg; in einem und demselben Augenblicke segne ich den Tag, wo ich mich bereden ließ, die Reise mitzumachen, und fluche ihm doch. Wenn ich schon selig war, unter ihrem Dache die Nacht zubringen zu dürfen, wie war es erst, als wir Stunden und Tage in gleichem Coupé saßen! Der Herzog muß seine Zeit ausnutzen; die Ehrengarde, eine lächerliche alte Cousine Dorothea, schläft fast stets, und so durften wir ungestört plaudern. Diese Cousine Dorothea, Gottfried, ich müßte ihr in’s Gesicht lachen, wenn sie nicht den Vortheil hätte, Hedwig’s Verwandte zu sein. So betrachte ich sie als eines der nothwendigen Uebel, ohne die ich Hedwig nicht sehen kann, noch unerträglicher, als der dichte Schleier, der mir zu Zeiten der Holden Angesicht verhüllt, doch weniger widerlich, als die Truppe von Bewunderern, die wir stets auf den Fersen haben.

Gottfried, in einem Alpenkessel liegt ein Dorf, vielleicht wie tausend andere; mir dünkt’s ein unbezahlbarer Juwel im herrlichsten Schrein; dort ward mir vergönnt, mit ihr allein durch Berg und Thal zu streifen. Frage mich nicht, wie das kam, ich weiß es nicht mehr – ich weiß nur, daß ich mit ihr auf einem Stein gesessen, daß ich mit ihr dieselben Naturwunder betrachtet, daß sie, von der Schönheit trunken, meine Hand erfaßt und – Gottfried, hörst Du es? – ohne allen Anlaß Thränen aus ihren Engelsaugen vergoß. Die Thränen waren’s, die ich so lange weinen möchte und die stets wieder in der Wüste meiner Verzweiflung vertrocknen, ehe sie durchbrechen, um mir das Herz zu erleichtern. Was sollte ich denken, Gottfried? Einen Augenblick kam’s wie Wahnsinn über mich: du bist ihr nicht mehr der arme Maler, der Schöpfer neuen Glückes bist du ihr. Noch zeitig habe ich mich ermannt und keine Miene zuckte, keine Muskel bewegte sich, so lange ihr feuchtes Auge in das meine sah. Doch war mir’s, als hätte ich der Götter Trank gekostet. Ich wußte nicht mehr, was ich that, noch was ich sprach.

Nachdem wir in Turin kaum einen Tag verweilt, eilten wir auf Hedwig’s Wunsch nach Florenz. Hier verließ uns der Herzog, um zurück nach Turin, wohin ihn wichtige Staatsgeschäfte riefen, zu reisen, seine Schwester der alten Cousine und meiner Obhut anvertrauend. Das waren Tage, Gottfried! Ueberall durfte ich ihr Führer sein; an meinem Arm lernte sie die Kunstschätze des modernen Athens kennen; durch mein Wort ward sie eingeführt in eine neue Welt voll Schönheit und Genuß. Doch wenn die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_625.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)