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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Schale voll ist, so genügt ein hineinfallender Kiesel, um ihren Inhalt zu verschütten.

Wir waren den ganzen Nachmittag im Palast Pitti gewesen und die Madonna del Granduca hatte Hedwig so entzückt, daß sie behauptete, nicht mehr ohne eine Abbildung der lieblichen Mutter sein zu können. Heimkehrend führte ich sie in eine Kunsthandlung, aus welcher Hedwig gar nicht mehr zu bringen war, zur großen Verzweiflung der guten Cousine, die schon im Pitti beinahe eingenickt wäre. Unsere Einkäufe blieben endlich beim dritten Kunstalbum stehen, und glücklich wie eine Königin fuhr Hedwig heim.

Sie war mit der Cousine an diesem Tage bei einer Bekannten ihres Bruders eingeladen, und da es schon fünf Uhr, als wir heimkehrten, mußte sie sogleich an ihre Toilette.

Ich hatte mich kaum zum Schreiben gesetzt, als der Diener kam, um mich in den Salon zu rufen. Alle Thüren standen offen, und als ich eintrat, hörte ich schon Hedwig’s silberhelle Stimme:

„Bitte, Herr Impach, kommen Sie einen Augenblick herüber. Sie haben mir noch nichts von diesem Bilde gesagt, und es ist doch ganz entzückend.“

Ich trat ein, wähnend in ein Boudoir zu kommen, und blieb noch einmal an der Schwelle stehen, als mir der Kerzenglanz von ihrem Toilettentische entgegenstrahlte. Im langen Schleppkleide von Flor saß sie da, die Fülle der goldenen Haare lose herabhängend, während Mademoiselle Fanny Miene machte davon Besitz zu nehmen. Auf den Knieen lag das gekaufte Album; die Füße ruhten trotz des niedrigen Lehnstuhls auf weichem Polster. Auf dem Sopha lag Cousine Dorothea in Morpheus’ Armen. Wahrscheinlich durch mein Zögern ungeduldig gemacht, wandte Hedwig den Kopf nach der Thür. Eine herrische Handbewegung genügte, um mich an ihre Seite zu rufen, brachte mich aber auch wieder zu Sinnen. „Pudel,“ sprach ich zu mir selbst, „nichts als Pudel!“ Die Thränen von letzthin galten dem Glühen der Alpen allein.

„Was ist das?“

„Eine Madonna von Carlo Dolci.“

„Und das? Und dies?“

Wie ich mich herabbeugte, sah sie sich nach einem Sitze um, doch ehe noch Fanny mit einem Stuhle herbeieilen konnte, ward schon das Polster von dem allerliebsten Füßchen mir zugeschoben und eine unnachahmliche Handbewegung sprach deutlicher als Worte: „Couche, Pudel!“ Wie war ich glücklich, indem ich gehorchte, und doch wie lächerlich mußte ich mich ausnehmen, ich der zum ersten Male einer Frau zu Füßen, ja zum ersten Male in einem Frauencabinete saß!

Mademoiselle Fanny hatte jetzt ihr Werk begonnen und Hedwig vertrieb sich die Zeit damit, jedes Bild des Albums aufmerksam zu betrachten, ja ich mußte mit einem kleinen Stiftchen, das sie mir reichte, den Namen unter ein jedes schreiben. Wir waren fertig, doch die Jungfer noch lange nicht; und so wurde ihr befohlen, ein gewisses Album zu bringen, das ich nun mit betrachten sollte. Mit capriciöser Liebenswürdigkeit nannte sie mir all’ die Namen der Leute, die hier versammelt, der halbe Gothaer Kalender erklang an meine Ohren, jeder Name von einer neckischen Bemerkung oder einem „den mag ich nicht!“ oder „den habe ich lieb!“ begleitet. Die Zofe war mit einer Entschuldigung weggegangen; sie kehrte nicht wieder, und schon war das Album zu Ende; schon ruhten die weißen Händchen darauf, und der Blick der schönen Augen sah träumerisch vor sich hin. Ich wagte nicht, mich zu regen; wie gefesselt saß ich da, als sie leise vor sich hin, mehr zu mir, sprach:

„Ist das nicht traurig? Keinen Menschen auf der Welt als meinen Bruder, der mir nahe verwandt. Vettern dieses ganze Buch voll, aber was sind mir die? Meistens weniger als manche oberflächliche Bekanntschaft. Und ich hätte sie so lieb, wäre eine Schwester mir gegeben!“

„Ihre Eltern?“

„Mein Vater starb, ehe ich auf der Welt war, und meine Mutter habe ich nur dunkel in der Erinnerung. Dieses ihr Bild!“ Damit öffnete sie ein Medaillon, das an ihrem Halse an goldner Kette hing. Ihr leichtes Kleid war vorn aufgegangen, so daß der schönste Hals, den die Natur jemals geschaffen, unverhüllt vor mir war. Während ich das Bild der schönen Frau betrachtete, öffnete sie schon die zweite Hälfte des kleinen Herzchens und nahm eine Locke seidner Haare daraus.

Soweit, Gottfried, kann ich noch mit Sicherheit erzählen; was nun folgte – ich weiß nicht, ob ich’s geträumt oder erlebt. Ich fühlte ihre weiche Hand mit der Reliquie ihrer Mutter auf meinem Haupte, als wolle sie einen Vergleich mit der Farbe anstellen; dann rückte sie meine Stirn mit ihrer andern Hand zurück, warf mir einen innigen Blick zu und sprach: „Sie muß so gut wie Sie gewesen sein, meine arme Mutter.“

Gottfried! der härteste Stahl bricht, wenn er zu stark gebogen wird; ich hätte mein Leben, meine Seligkeit verscherzt, ich konnte nicht anders. Ihre beiden Hände mit feuriger Bewegung ergreifend, bedeckte ich sie mit Küssen; keiner der zarten Finger blieb von meinen Lippen unberührt. Dann, wie der Frevler, der ein Heiligthum entweiht, flog ich zum Gemach hinaus, nicht wagend, meiner Seele Licht auch nur anzublicken.


Noch selbige Nacht packte ich meinen Koffer, und nachdem ich erfahren, daß der Herzog am nächsten Tage zurückerwartet wurde, ich sie also nicht ohne Schutz ließ, war der Entschluß, zu Dir nach Rom zu kommen, fest. Ohne Abschied, heimlich wie der Dieb bei Nacht, eilte ich um Mittag zum Hôtel hinaus auf die Bahn. Ich war der ganzen Menschheit gram, daß sie Verhältnisse geschaffen, welche es einem Ehrenmanne unmöglich machen, ja als Frevel anrechnen, wenn er das Mädchen, das er liebt, erringen will. Ich war dem Bruder gram, der mich in diese Lage gebracht, Dir, Gottfried, daß Du mich nicht zu Dir zurückgeholt, mir selbst, daß ich wie ein Gimpel in Fallen lief, die ich mir selbst gestellt. Nur ihr – der Engelsgleichen, machte mein Herz keinen Vorwurf; sie hatte sich nichts vergeben. Als sie mich zu sich rief, folgte sie nur dem Triebe ihrer edlen Natur, die sie in mir einen treuen Freund erkennen ließ. Konnte ich damit nicht zufrieden sein?

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Auf dem Perron stehend und wie auf die Seligkeit harrend, blickte ich der Richtung entgegen, woher der Zug kommen sollte. Schon ist er da, schon pfeift es gellend in mein Ohr, da wird dieses plötzlich vom eigenthümlich melodischen Laut einer Stimme berührt.

Gott! sie ist es. Am Arme der Cousine eilt sie auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen. „Hier sind Sie? Also deshalb nirgends zu finden? Warum kamen Sie nicht lieber mit uns den Bruder abholen? Ach, da ist er!“ Ein Freudenruf und sie liegt in seinen Armen. Sag’, Gottfried, wärst Du noch abgereist? Nun fliehe ich nicht mehr, und könnte ein Schritt mich vom Verderben retten. Es soll nicht sein! Ihr, der ich nicht glaubte in die Augen sehen zu können vor Scham, scheint kaum eine Erinnerung von gestern geblieben. Ich glaube, sie schreibt meine gestrige Aufführung einem kleinen Rappel zu, von dem ihre Standesgenossen uns Künstler ja Alle befangen wähnen.

Wie glücklich, daß ich mich nicht vom Impuls des Augenblicks beherrschen ließ und abreiste! Hätte ich auch vor Herzog Ernst mein launisches Verfahren rechtfertigen können, wie bald mußten mich Liebe und Eifersucht wieder zurückrufen, wenn ich vernahm, daß Graf von Werdau und ein anderer Leidensgefährte von mir, ein Fürst Arsent, den der Herzog zu begünstigen scheint, hier eingetroffen.

Hoffe ich auch nichts zu erringen, den Beiden räume ich nicht so freiwillig das Feld. Daß mir die Prüfung noch aufbewahrt sei, einer Entscheidung beiwohnen zu müssen, hätte ich nicht geglaubt. Ich hatte mir diese italienische Reise so schön gedacht, hatte gehofft, daß ich für die ganze Dauer derselben Hedwig für mich haben würde, und nun?! – Gottfried, ich Undankbarer! Bin ich nicht einen Augenblick glücklich gewesen, viel hundert Mal glücklicher, als ich jemals hoffen durfte? Hat sie ihr liebes Antlitz nicht über mich gebeugt, war nicht ich es, der ihre seidenen Haare um Stirn und Wangen fühlte, habe ich nicht ihre geliebten Händchen geküßt, nicht mit höflicher Verbeugung an der Schwelle des Salons, sondern allein mit ihr, mit dem Feuer einer ersten Liebe? Und sie ist nicht böse geworden!

Dennoch, Gottfried, bemerke ich eine Veränderung in ihr, seit die Beiden, mir so Leidigen, angekommen. Mit ihnen kam der ganze leichte, stets heitere Ton des Weltlebens zurück, den wir seit Anfang der Reise verbannt hatten. Kaum daß noch ein Gedanke aufkommt, und dennoch geht das Geplauder ohne Aufenthalt fort. Ich könnte den Grafen besonders um seine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_626.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)