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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Dem Gedächtniß eines Heimgegangenen.[1]
Von Theodor Drobisch.


Im Geiste ergreife ich des Lesers Hand, um ihn an das Grab eines Dichters, eines Humoristen, eines wahrhaft edeln Menschen zu führen. Jenes Grab steht nicht im Poetenwinkel der Westminsterabtei zu London; wir suchen es nicht auf dem Friedhof von Ottensen, nicht in der Fürstengruft zu Weimar. Es ist überhaupt kein Grab, zu dem die Nation eine Pilgerfahrt unternommen, um im Gefühl der Dankbarkeit einen Kranz der Verehrung darauf zu legen. Die Welt vergißt ja schnell, namentlich einen Schriftsteller, einen Dichter, wenn er es nicht verstand, sich in Einklang mit der Welt zu setzen.

Das Grab, von dem die Rede, das einfach schlichte Grab, befindet sich auf dem Neustädter Kirchhofe zu Dresden; der müde Schläfer darinnen ist Ferdinand Stolle. Er starb zu Dresden am 28. September 1872, an seinem sechsundsechszigsten Geburtstage. Sein Sohn, so wie ein kleines Häuflein von Freunden und Schriftstellern gaben ihm das Geleit zur Ruhestätte an einem Tage, wo schon der Herbst die Blätter von den Bäumen wehte. Mit Wehmuth standen die Freunde an dem Sarg des Dichters und Schriftstellers, den nun die „Palmen des Friedens“ umschatten.

Bereits im Jahre 1846 schrieb ich für den „Leuchtthurm“ eine kleine biographische Skizze des Verstorbenen. Eine Lithographie, das wohlgelungene Portrait von Ferdinand Stolle, zierte die Skizze, welcher er als Zeichen seiner Handschrift die Worte eines alten Liedes beigegeben. Sie lauteten:

„Wer es gut mit Gott und Menschen meint,
Der sei mein Liebling, sei mein Freund!“

Heute ergreife ich auf Veranlassung seines langjährigen Freundes Keil, des Redacteurs dieser Blätter, die Feder, nicht um ein in sich abgeschlossenes Bild des liebenswürdigen Schriftstellers und Menschen zu entwerfen, sondern lediglich, um dem Verklärten, ihm, dem ersten und ältesten Mitarbeiter der Gartenlaube, einige Worte der Anerkennung, gleichsam als letzte Scholle Erde, in das stille Grab nachzusenden. Eine eingehende Selbstbiographie des Heimgegangenen, auf welche ich hier ausdrücklich hinweise, befindet sich am Schluß seiner sämmtlichen Werke.

Ferdinand Stolle, in der Blüthezeit seines literarischen Wirkens oftmals der Boz, der Paul de Kock in deutschen Landen genannt, wurde am 28. September 1806 zu Dresden geboren. Nur kurze Zeit war es ihm vergönnt, sich in den Strahlen der Elternliebe zu sonnen, denn er verlor Vater und Mutter schon in der frühesten Kindheit. Einsam stand er in der Welt; er wäre in das Waisenhaus gekommen, wenn sich nicht ein Oheim des kleinen Ludwig Ferdinand Anders – dies war sein eigentlicher Name – angenommen hätte. Der Amtscassirer Stolle nahm ihn an Kindesstatt an, und aus Dankbarkeit für die vielen Wohlthaten, welche ihm der Oheim erzeigte, der mit der Gewissenhaftigkeit eines Vaters für ihn sorgte, entsprach der so Beglückte dem Wunsche desselben und bediente sich fortan seines Namens. Auf der Kreuzschule in Dresden für die Universität vorbereitet, wanderte er Ostern 1827 in Leipzig ein, wo ihn der damalige Rector der Universität, der berühmte Polyhistor Christian Daniel Beck, zur Fahne der Themis schwören ließ.

Er besuchte fleißig die betreffenden Collegia. In der Philosophie war der Professor Traugott Krug sein Mann, dem er nach Ablauf des dritten Semesters einen Besuch abstattete. Mit ernstem Denkerantlitz trat ihm der Philosoph entgegen, angethan mit dem bekannten Ueberrock in der Farbe ungebrannten Kaffees, mit bis über die Schultern herabhängendem Kragen, an den Stiefeln große, mit Kreuzriemen und Schnallen versehene Sporen. Mit kühnem Selbstvertrauen überreichte ihm Stolle einen weitläufig ausgearbeiteten „Entwurf zur Abschaffung des Duells auf Universitäten“. – Krug sah ihm etwas verstohlen in’s Gesicht, ob vielleicht so ein paar „Schmisse“ bemerkbar. Da hieß es aber in der That: „Sieh, Kind, kein Engel ist so rein!“ Der Professor legte das Manuscript zu „gelegentlicher Prüfung“ bei Seite – und, seines Sieges schon gewiß, ging Stolle von dannen. Die „Paukereien“ hatten aber ihren ungestörten Fortgang, namentlich unter denen, welche der Burschenschaft angehörten, oder zu den Landsmannschaften der Sachsen, Lausitzer oder Neupreußen zählten. Noch immer floß Blut im Saal der „grünen Linde“, im „Thüringer Hof“ oder bei Weber in der „kleinen Pleißenburg“, wie auch die Universitäts-Pedelle Conradi und Hildemann sich bestrebten, die Paukanten abzufassen.

Mit seinem wohlgemeinten Vorschlag „abgeblitzt“, ackerte Stolle auf einem andern Felde. Die geschichtlichen Collegia des Professor Wachsmuth hatten ihn begeistert. Opus Zwei war fertig; es führte den Titel: „Ueber das Fortschreiten der Menschheit in sittlicher und geistiger Beziehung“. Beide Schriften blieben Pultgründlinge. Dagegen sah man den Verfasser unverweilt in den Hörsälen von Heinroth und Erdmann, wo Anthropologie und Chemie gelehrt wurde. Was sein eigentliches Brodstudium, die Rechtswissenschaft, anbelangte, so waren Günther, Weise, Klien, Otto und Bruno Schilling seine vorzüglichsten Lehrer.

Geistige Speise genug; nur an der leiblichen mangelte es oft, obgleich man damals in der Wirthschaft „Zum schwarzen Brett“ ein warmes Mittagsessen, Fleisch und Gemüse, für zwei Groschen bekam. Um die Wohlthat der Speisung im Convictorio zu erlangen, antichambirte Stolle bei dem Hofrath Pölitz, der wohl keine Ahnung hatte, daß der Bittsteller ihm nach wenig Jahren einen so glänzenden Nekrolog schreiben werde. – Stolle bekam eine Freistelle und speiste jetzt zu Mittag und Abend nebst zweihundertfünfundzwanzig Commilitonen im Convict, nachdem der Inspector Nakonz ihre Ohren zuvor mit Hersagung des lateinischen Vaterunsers bewirthet hatte.

Er fühlte sich indeß nicht zum Advocaten berufen, und die für einige Zeit mit Mühe unterdrückte Vorliebe für schöngeistige Productionen brach mit verstärkter Kraft hervor. Er verhehlte sich nicht, daß Muth dazu gehöre, ein Schriftsteller zu werden, namentlich ein deutscher Schriftsteller. Aber auch bei ihm bewährten sich so recht die Worte des Plato im Phädon: „Was sich unbedingt als das Trefflichste in der Natur des Menschen erweist, ist jener unverwüstliche Trieb der Seele, zu dichten und zu gestalten, der selbst von dem Mißklange und Widerstreite des Weltlaufs nicht überwunden wird.“

Stolle, dessen erstes Gedicht der Buchdrucker Glück zu Leipzig druckte und verlegte und das ihn zu der scherzhaften Aeußerung veranlaßte, daß er seine literarische Laufbahn mit Glück begonnen habe, arbeitete zuerst für die Zeitschrift „Komet“, welche damals der Dr. Karl Herloßsohn redigirte. Große Schätze waren hier nicht zu heben, obgleich sich Stolle’s Beiträge den Beifall der Leserwelt errangen. Es kamen aber Stunden, wo die Anschaffung eines neuen Rockes, eines neuen Beinkleides sich für ihn zu einer Weltfrage gestalteten. Weltumfassende Gedanken im Kopfe, aber nichts in der Tasche, saß er eines Tages auf seinem Zimmer. Die Thür öffnete sich, und es erschien der bekannte Hofrath Dr. Ferdinand Philippi, der Besitzer des Verlags-Comptoirs, der sich von Dresden nach Grimma gewendet hatte.

Beide unternahmen einen Spaziergang nach Schönefeld, und hier richtete Philippi an Stolle die Frage, wie hoch sich die Summe seiner Schulden belaufe. Dieser zögerte mit der Antwort; endlich aber rückte er mit dem Bekenntniß heraus: „Achtzig Thaler!“ Philippi versprach ihm, ein Verständniß mit den Gläubigern zu treffen und die Schulden zu bezahlen, wenn er ihm seine literarische Thätigkeit widmen und zu diesem Zwecke nach Grimma übersiedeln wolle. „Sie scheinen mir Noth zu leiden; allerdings gut, denn – sie erweckt den Genius; das Behagen aber ist sein Erhalter. Wechsel des Standorts schlägt neue Triebe; Sie werden in ruhige, geordnete Verhältnisse kommen.“

Stolle war mit diesem Vorschlage zufrieden und – „Federleicht ist mein Gepäcke“ – kam im Februar 1834 in Grimma an. Gleichzeitig mit ihm erschien noch ein Schriftsteller, Namens Rohde. Beide speisten an Philippi’s Tische, und die Bekanntschaft mit Professoren der Fürstenschule, die schöne Natur des

  1. Der Redacteur der Gartenlaube, der vierunddreißig Jahre inniger Freundschaft mit Ferdinand Stolle verlebt hat, behält es sich vor, binnen Kurzem noch einige weitere Erinnerungen an den Heimgegangenen folgen zu lassen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_628.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)