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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


war, als würden dieselben von einem unsichtbaren Griffel tiefer und tiefer gegraben.

So in sich versunken, bemerkte die Dame nicht, daß ein junges Mädchen, welches aus einem entfernter liegenden Theile des Friedhofes kam, sich ihr näherte und sie mitleidig betrachtete. „Wie tief unglücklich sieht doch die arme Frau aus!“ murmelten die jungen frischen Lippen. „Ich will sie ansprechen; vielleicht wird sie dadurch aus diesem starren Schmerze gerissen.“

„Guten Morgen,“ sprach sie dann mit lauter Stimme und trat ganz nahe an das Grab, „ich sehe, Sie sind sehr traurig. Auch ich habe geweint und ein Grab geschmückt. Darf ich,“ fuhr sie fort, „diese weiße Rose, welche ich noch übrig habe, zu Ihren Blumen legen?“

Und mit diesen Worten nahm das junge Mädchen die Rose, die sie bis jetzt in der Hand gehalten, und steckte sie mitten in den Kranz ihrer rothen Blüthenschwestern.

Bei dem ersten Laut des Mädchens hatte die Dame aufgesehen, aber man sah ihr an, daß sie nicht gleich begriff, was Jene gesprochen. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ob sie sich erst wecken müsse. Plötzlich bemerke sie die weiße Rose, und wie durch einen Zauberschlag war die schwache, bejahrte Frau in ein starkes leidenschaftliches Weib verwandelt. Mit einem Schrei des Entsetzens sprang sie auf, nahm die weiße Rose und schleuderte sie mit solcher Gewalt weg, daß sie weitab an einem Grabstein auseinanderfiel.

Hochaufgerichtet stand das Weib da. Ihre Augen glühten in höchster Erregung; ihre Lippen öffneten sich krampfhaft, als sollte all’ das Weh, das sie im Innern durchwühlen mochte, nun in harten Worten ausströmen. Aber die Kraft reichte nicht aus. Die Hände, welche sie wie im höchsten Schmerz krampfhaft zusammengeschlagen hatte, lösten sich. Die Gestalt brach zusammen und sank auf den früheren Sitz zurück, während aus den Augen unaufhaltsam Thränen strömten.

Das junge Mädchen, welches zuerst, von Schreck ergriffen, nicht wußte, ob sie bleiben oder fliehen sollte, fühlte nun ihre Theilnahme zurückkehren. „Ich habe Ihnen unbewußt wehe gethan,“ sagte sie sanft, „wollen und können Sie mir verzeihen?“

„Was wissen Sie von meinem Schmerze,“ rief die Dame tiefergriffen, „was von meiner Schuld, von meiner Reue? Ich allein habe mein Unglück verschuldet, und wie groß und tief es war und noch ist, können Sie daraus ersehen, daß ich alte Frau mein Entsetzen, meine Aufregung nicht bemeistern kann, wo mich, wie eben jetzt, eine Erinnerung plötzlich trifft.“

Von Neuem versank sie nach diesen Worten in ein regungsloses Träumen. Das Mädchen wußte nicht, ob ihre Gegenwart ihr nicht peinlich, ob sie nicht besser thue, zu gehen. Es ist gar schwer, einem Schmerze gegenüber zu stehen, den man nicht kennt. Man möchte ein Wort des Trostes sagen, die Hände mildernd auf die schmerzende Wunde legen, und weiß doch nicht, ob nicht gerade durch eben jene Worte der Schmerz größer, die Wunde unheilbar wird.

„Ich habe Sie wohl durch meine Heftigkeit erschreckt,“ beruhigte die Dame nach einigen Augenblicken das junge Mädchen, „nun bin ich wieder gefaßt. Die Thränen haben mir wohl gethan. Es war nur der Moment, der mich überwältigte und so gewaltig packte, daß ich schon längst Vergangenes wie Gegenwärtiges empfand. Erzählen Sie mir,“ fuhr sie mit weicher Stimme fort, „wessen Grab Sie besucht! Ich werde Ihnen dann auch von mir und meinem früheren Leben sprechen.“

„Ich war noch Kind, erst fünf Jahre alt,“ begann das Mädchen, „als ich meine Eltern verlor; sie sind hier begraben. Habe ich einen Kummer oder eine Freude, immer drängt es mich dann, hierher zu kommen und an ihrem Grabe zu beten. Heute soll ich nun dem Manne, dem schon lange mein Herz gehört, mich verloben, und für diese Stunde habe ich mir den Segen der Eltern erfleht.“

„Und er wird Ihnen werden,“ antwortete die Frau in feierlichem Ton, „aber Sie selbst müssen den Segen jede Stunde Ihres Lebens zu verdienen suchen, ihn festhalten in kleinen und großen Dingen. Spielen Sie niemals, niemals mit dem Glücke! – ich habe es gethan in frevelhaftem Uebermuth, und es zerbrach für immer unter meinen Händen.“

Fragend und theilnehmend sah das Mädchen das Weib an, dieses aber zog sie neben sich, nahm ihre Hände in die ihrigen und begann:

„Vor fünfzig Jahren war ich ein junges, fröhliches Mädchen. Ja, es konnte wohl kein Geschöpf mit glücklicherem Herzen geben, als mich; die ganze Welt, dünke mir, sei nur deswegen so herrlich und prächtig geschaffen, um mich zu erfreuen und zu beglücken. Meine Eltern, welche sehr vermögend waren, erfüllten mir jeden Wunsch. Meine Brüder – Schwestern hatte ich keine – waren stolz auf mich. Ich war auch der Vertraute all ihrer oft mehr als lustigen, ja tollen Streiche. Ich vermittelte zwischen ihnen und den Eltern, denn es machte mich so froh, daß sie meiner bedurften, es erhob mich in meinen eigenen Augen zu einer gar wichtigen Person, so daß ich fast ungehalten war, wenn zuweilen eine ganze Woche verging, in welcher ich nichts zu schlichten hatte. So gewöhnte ich mich, selbst aus dem, was mir eigentlich, da es ja doch nie ohne Aerger für die Eltern abging, unangenehm sein sollte, Befriedigung meiner Gefühle zu ziehen. Ja, selbst die Armuth mußte mir dazu dienen; ich gab gerne und mit vollen Händen, weniger aber um Leid und Sorgen zu mildern, als um mich selbst an der Freude und dem Glücke Anderer zu ergötzen. Entbehrungen mußte ich mir ja deshalb nicht auferlegen, denn mir wurde jeder Wunsch schon im Entstehen befriedigt. Meinen Gott liebte ich mit kindlichem Gemüth – er war mir der Schöpfer all der Herrlichkeit um mich und in mir.

Als ich mein achtzehntes Jahr erreicht hatte, durfte ich den ersten Ball besuchen; ich hatte damals meinen ersten Kummer; es war der, daß die Ballnächte so schrecklich kurz. Ich wähnte, fort und fort tanzen zu können. Nie wurde ich müde und hatte eine unerschöpfliche Kraft, mich zu freuen und glücklich zu sein.

Anfangs waren mir alle Tänzer gleich, konnte ich mich doch mit Allen gleich gut im Kreise schwingen; mit Allen wußte ich zu plaudern und zu scherzen. Dies änderte sich jedoch bald. Ich lernte einen jungen Mann kennen, der mich auszeichnete und allen übrigen Damen vorzog. All mein Denken und Empfinden gehörte von diesem Augenblicke ihm allein. Er war Officier, brav und tüchtig, von Jedem, der ihn kannte, geliebt und geachtet. So sehr ich selbst zum Muthwillen und zum Uebermuth mich neigte, so ernst, fast schwermüthig war er. Aber gerade dies, das Entgegengesetzte meiner eigenen Art, zog mich an. Es schmeichelte mir, daß ich allein im Stande war, seine oft düsteren Augen durch ein einziges Wort, durch einen freundlichen Blick plötzlich in heller Freude aufleuchten zu machen.

‚Du mußt ruhiger werden, liebes Kind,‘ ermahnte mich die Mutter, welche bald erkannte, was in mir vorging, ‚wir Frauen dürfen einem Manne nie auffällig zeigen, was er uns ist, bevor er mit Worten um unsere Liebe geworben. Man darf ein Gefühl der Zuneigung wohl durchblicken lassen, aber es nicht unverhüllt entgegenbringen.‘

Ich versuchte wohl diese Lehren zu befolgen, doch blieb es immer nur bei dem Versuch. Ich konnte nur verbergen, was in mir vorging, wenn ich meine Augen gesenkt hielt, frug mich aber dann Leo Günther – so hieß der geliebte Mann – mit seiner tiefen klangvollen Stimme: ‚Doch nicht traurig, Fräulein Lucie?‘ da mußte ich aufsehen, und ich wußte, daß mit diesem Aufblick auch meine ganze Seele vor ihm aufgeschlagen war.

Oft ersehnte und erwartete ich, daß Leo sich mir erklären würde, und doch wußte ich aus mädchenhafter Scheu ihm auszuweichen, wenn ich glaubte, daß er solches beabsichtige.

So kam der Frühling. Es wurde ein Gartenfest gefeiert – gestern waren es fünfzig Jahre.

Ich hatte mich geschmückt, um ihm zu gefallen, aber Stunde auf Stunde verrann; er kam nicht. Ich war tief unglücklich, obgleich ich nach außen heiter schien. Endlich, da ich schon alle Hoffnung verloren, ihn noch zu sehen, erschien er. Ein Freund aus weiter Ferne hatte ihn aufgesucht und aufgehalten. Wie ich mich gewöhnt hatte, selbstsüchtig zu denken und zu fühlen, so galt mir dies als keine Entschuldigung. Es verletzte mich, daß ich dem Freunde hatte nachstehen müssen. Nun wollte ich ihm zeigen, wie ich auch ohne ihn froh sein könne. Ich ignorirte ihn fast ganz und lachte und plauderte destomehr mit den anderen jungen Herren, die an unserem Tische saßen. Ich war ausgelassen lustig.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_640.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)