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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Als ich aber bemerkte, mit wie tiefer Trauer ihn mein Benehmen erfüllte, war ich bald versöhnt, und schon wollte ich Leo ein freundliches Wort sagen, als ich plötzlich gewahrte, wie seine Augen mit einer glühenden Leidenschaftlichkeit auf mir ruhten, die mir bisher an ihm fremd gewesen war.

‚Ach,‘ dachte ich, ‚jetzt erst weißt Du, wie unsagbar Du geliebt wirst. Welche Kraft, welche Tiefe muß doch seine Liebe haben, da eine kleine Vernachlässigung ihn so erregen kann!‘

Ein Schwindel erfaßte mich; ich mußte beide Hände auf mein hochklopfendes Herz legen – ich fürchtete, man würde sein Pochen hören.

Es war bis dahin eine ruhige, glückliche Liebe gewesen, welche mich beseligte; zu einer Leidenschaftlichkeit, wie ich eine solche wohl zuweilen in Büchern geschildert gefunden, war es nicht gekommen. Dazu waren die Verhältnisse zu klar; keinerlei Hindernisse wurden uns ja in den Weg gelegt. Jetzt hatte ich zum ersten Male einen Tropfen von dem Gifte der Leidenschaftlichkeit genossen und wurde berauscht davon. Ich regte mich selbst mehr und mehr auf; ich wollte einmal prüfen, wie weit meine Macht reiche. Ich liebte Leo in dieser Stunde wohl mehr denn je. Das Glück, von ihm, dem ernsten Manne, geliebt, so geliebt zu werden, ergriff mich gewaltig; meine Pulse flogen in ungeahnter Seligkeit. Aber ich wollte nun auch den Becher des Glückes bis auf die Neige leeren, und je finsterer seine Augen blickten, je fester sich seine Lippen wie in herbem Schmerze auf einander schlossen, desto sinnbethörender empfand ich seine Liebe. So kam es, daß ich einen immer freundlicheren Ton gegen die mir so gleichgültigen Herren anschlug, aber immer kälter, abstoßender gegen den Geliebten wurde; und als wir uns endlich trennten, hatte ich nur einen kurzen, kalten Gruß für ihn.

Ich konnte an diesem Abend kaum den Augenblick erwarten, wo es mir vergönnt war, mich in mein Zimmer zurückzuziehen, um in der Erinnerung noch einmal die letzten Stunden zu durchleben. Als die Aufregung etwas nachgelassen hatte, durchbebte mich wohl ein leises Weh, wenn ich an das Unrecht dachte, welches ich Leo angethan – mit verdoppelter Liebe wollte ich es sühnen.

Im Begriff, zu Bett zu gehen, mußte ich noch einmal dem Dienstmädchen das Zimmer öffnen. Sie erzählte mir, sie habe eben den Herrn Lieutenant Günther gesprochen, der, da sie Wasser holte, am Brunnen an sie herangetreten und ihr das Versprechen abgenommen, mir heute noch ein Billet und zwei Rosen – sie brachte beides – zu überreichen.

Verwirrt nahm ich diese Sendung in Empfang, und noch heute sehe ich die weiße und die rothe Rose im Geiste vor mir liegen. Mit zitternder Hand öffnete ich den Brief Leo’s.

‚O Lucie,‘ schrieb er, ‚schon seit einigen Tagen fühle ich eine Angst in mir, welche ich umsonst zu beherrschen oder nur zu deuten suche. Sollte dieses Gefühl eine Ahnung dessen gewesen sein, was mir Ihr heutiges Benehmen bestätigte, und ich, der ich auf dieser Welt nur noch von Ihnen beglückt werden kann, zu früh gehofft und für Liebe gehalten haben, was doch nichts weiter als ein flüchtiges Gefallen, oder noch schlimmer, nur ein Spiel mit meiner Liebe war? Doch nein; ich will diesen Gedanken, als Ihrer unwerth, nicht ausdenken; ich kann aber die Zweifel, die mich peinigen, nicht länger ertragen; daher beschwöre ich Sie, geben Sie mir morgen früh – ich werde, sobald der Tag erscheint, vorüberreiten – ein Zeichen, ob meine Liebe erwidert wird oder nicht! Sehe ich die rothe Rose vor Ihrem Fenster – dann weiß ich, daß ich kommen darf, Sie mir von den Eltern zu erbitten; sehe ich die weiße Rose – dann ist meine Zukunft vernichtet.‘

Lange saß ich und las wieder und wieder diese Zeilen. Wer weiß nicht, in welch’ Entzücken die ersten Worte der Liebe ein junges, unentweihtes Herz versetzen! Und an jenem Tage erst, in der ohnehin erregten Stimmung, überwältigte mich förmlich dieser Eindruck. Ich schwelgte in dem Gefühle, dem Manne meiner eigenen heißen Liebe so unendlich viel zu sein. Warum war er nicht da, daß ich ihm hätte gleich an die Brust sinken können, ihm bekennen, wie ich ihn liebe, wie ich mein heutiges Betragen bereue und daß ich von nun an vernünftig und gesetzt sein wolle, wie es einer Braut gezieme!

‚Vernünftig – gesetzt –‘ wiederholte ich mir in Gedanken; aber – wo blieb dann die Empfindung, welche mich heute so selig durchschauert? Noch einmal wollte ich sie durchkosten; noch einmal wollte ich aus seinem Blick die entfesselte Gluth seiner Gefühle lesen – dann wollte ich freudig alles Kindische abwerfen, nur ihm und unserem Glücke leben.

Sonnig lag ja meine Zukunft vor mir; kein Schatten, keine Sorge, kein Zweifel trübte sie. Und Leo sollte diese Zukunft theilen; da konnte er schon noch diese kurze Spanne Zeit in Furcht und Bangen schweben.

Eine Rose, nicht mein eigener Mund, sollte ihm sagen, daß ich ihn liebe? Ich sollte nicht das Leuchten seiner Augen sehen, wenn ich ihm mein Jawort gäbe? Wie oft hatte ich mir diese Scene ausgemalt, und nun sollte es so anders werden! Nein, das durfte nicht sein; er sollte nur kommen; ich wollte von ihm selbst hören, wie heiß er mich begehre. Wie wollte ich dann mein Lebenlang dieser Stunde gedenken, wollte nicht nur glücklich werden, auch glücklich machen!

Solche Gedanken stürmten auf mich ein. Ich theile sie Ihnen jetzt so ausführlich mit, nicht um mich zu entschuldigen, nein, ich will nur zeigen, wie viel Ausflüchte und Beschönigungen dem Menschen zu Gebote stehen, wenn er seine Wünsche rechtfertigen will.

Ich legte die weiße Rose vor das Fenster.

Lange konnte ich nicht einschlafen, und als es doch geschah, schlief ich bis in den späten Morgen hinein. Ich erinnerte mich, daß ich einmal im Schlafe erschrocken aufgefahren, da es mir war, als scheuete ein Pferd vor meinem Fenster und als jagte es dann pfeilschnell fort. Ich war nicht vollständig wach geworden; erst als ich einige Stunden später aufgestanden war und des gestern Geschehenen gedachte, vermuthete ich, daß es Leo gewesen sei, der vorüber geritten.

Ich war heute weniger zuversichtlich als gestern; denn wiederholt fragte ich mich, ob ich auch recht gethan, daß ich die weiße Rose vor das Fenster gelegt. Alles vergessend, was mich gestern zu jener Grausamkeit getrieben, und nur meiner Liebe folgend, nahm ich, bevor ich noch zu den Eltern ging, die weiße Rose weg und legte die rothe hin. Ich kehrte sobald als möglich in mein Zimmer zurück und setzte mich an’s Fenster hinter den Vorhang, ängstlich harrend, ob Leo nicht vorüberkomme.

Der Vormittag verging – er kam nicht. Die rothe Rose fing schon an zu welken. Ich hätte nun zwar der Mutter Alles erzählt, von ihr Rath oder Hülfe erbeten, aber ich fürchtete ihr Schelten und dann schämte ich mich auch meiner That – von Minute zu Minute erkannte ich mehr meine Herzlosigkeit, meinen frevelhaften Leichtsinn. Wie hatte ich nur so handeln können! Nie mehr, gelobte ich mir, wollte ich mit irgend eines Menschen Gefühl spielen. Freuden und Leiden meiner Mitmenschen sollten mir fortan heilig sein, nicht mehr zu eigenem Genügen von mir ausgebeutet werden. Ja, in bangen schweren Stunden lösen sich die Gelübde so leicht und schnell von dem geängstigten Herzen; aber ich konnte nicht mehr gut machen, was ich verschuldet. Für mich gab es fortan nur Reue und Buße.

Es war gegen Abend – meine Aufregung, meine Qual hatte den höchsten Grad erreicht – als ich bemerkte, daß auf der Straße sich einzelne Gruppen bildeten, welche sich lebhaft etwas mittheilten. Es mußte Trauriges sein. Das sah ich an den bestürzten Mienen. Ein kleines Mädchen, die Tochter eines Nachbars, welche ich stricken lehrte und die gerade bei mir war, sandte ich auf Erkundigung hinunter. Ich war froh, daß ich auf Augenblicke von meinen eigenen Gedanken abgezogen wurde.

Athemlos kam das Kind zurück. Schon unter der Thür rief es in jenem Tone, der, verkündet er selbst Trauriges, doch fast freudig klingt, wenn Wichtiges mitzutheilen ist:

‚Lieutenant Günther hat sich draußen im Wäldchen bei Reiden erschossen. Die Leute sagen, es muß schon heute früh geschehen sein, denn er sei schon ganz kalt.‘

Schmerz kann ich es nicht nennen, was ich bei dieser Nachricht empfand – das wäre zu wenig gesagt; es war wie ein Schlag, der mich traf, wie ein Zerreißen all’ meiner Gefühle, und zwischendurch war es, als riefe eine Stimme fort und fort: ‚Das hast Du gethan – das ist Deine Frevelthat!‘

Schon nach einigen Stunden hatte ein plötzlich ausgebrochenes Nervenfieber mir für lange Zeit alle Besinnung geraubt. Und so lag ich Monate, keines klaren Gedankens bewußt. Als ich aber dann wieder gesundete, blieben doch Herz und Seele krank;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_641.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)