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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


einen verdorbenen Magen zu haben. Sie ist voller Witz und Laune, hat eine offene Hand und ein Herz für die Armen, und ich weiß wirklich nicht, wo ich eine schwache Seite bei ihr entdecken soll. Sie müßten denn eine solche darin finden, daß sie auf Rang und Stand hält, daß sie ihren Eduard als einzigen Sohn, wie eine Affenmutter ihr Junges, liebt und daß sie eine Größe ersten Ranges im L’hombre ist. Aber das sind unmöglich schwache Seiten bei einer Kriegsräthin.“

„Sie hat angenehme Manieren,“ warf ich ein, „aber ich kann nicht recht klug daraus werden – ist Ihre Tante aus guter Familie?“

„Ja, sie ist aus sehr guter Familie,“ antwortete der Schöngeist. „Ihr Vater war Botenmeister im Kriegsministerium, und sie lernte den Supernumerarius Sandow zu einer Zeit kennen, wo die Butter und das Brod in dem Tischkasten des armen Jungen regelmäßig härter und älter waren als in der botenmeisterlichen Speisekammer. Sie wissen ja. Der alte Müller, der beim Minister eine sehr gute Nummer hatte – die Minister wechselten damals noch nicht so leicht –, gab dem jungen Manne manch tüchtigen coup d’épaule und brachte ihn bald so weit, daß er einen Hausstand gründen konnte. Aus der Botenmeistertochter war eine Frau Registratorin geworden, aus dieser wurde eine Geheime Registratorin, aus dieser endlich die Kriegsräthin. Man darf nicht zweifeln, daß die ehrgeizige Frau es noch zur Geheimen Kriegsräthin gebracht haben würde, wenn nicht ihr Gatte nach achtzehnjähriger glücklicher Ehe gestorben wäre. Eduard war damals fünfzehn Jahre alt; Sie kannten ihn und wissen deshalb so gut wie ich, daß er schon damals ein hübscher Junge und für sein Alter auffallend groß und ausgebildet war. Ich ärgerte mich in jener Zeit oft; ich war zwei Jahre älter als er, und die Mädchen behandelten mich noch immer wie einen dummen Jungen, während sie schon anfingen, mit ihm zu liebäugeln. Eduard wurde älter, und der schöne Mann blieb der vorherrschende Zug in ihm. Er konnte den Wunsch seiner Mütter, daß er studiren solle, nicht erfüllen, er brachte es nur bis Untersecunda und wurde Kaufmann. Es erhellte von vornherein aus Allem, daß er bestimmt war, Carrière zu machen; es glückte ihm Alles, was er anfing. Natürlich gewann er Aller Herzen, die der Frauen in erster Linie. Ich habe das liebenswürdige Geschlecht, dessen Herz zuweilen in den Augen zu sitzen scheint, so lange und so unausgesetzt in allen Tonarten von ihm schwärmen hören, daß es wirklich manchmal zum Davonlaufen war. ‚O, der schöne Mann!‘ – ‚O, diese elegante Figur!‘ – ‚O, fünf Fuß, acht Zoll!‘ – ‚O, und das schwarze Haar und der Bart!‘ – ‚O, und der entzückende bläuliche Schimmer auf den Wangen, an den Stellen, wo der Bart fortgenommen ist!‘

In diesem bläulichen Schimmer kamen sie unter allen Umständen Alle zusammen. Er übte einen gleichen Zauber auf jede Einzelne aus, und es hat mir oft Kopfschmerzen gemacht, zu ergründen, in welche Beziehung die guten Kinder diesen bläulichen Schimmer möglicher Weise zu dem Märchen vom Blaubart bringen mochten. Eine eigenthümliche Bemerkung machte ich zu jener Zeit schon an meinem schönen Vetter. Sein Benehmen den Frauen gegenüber zeigte klar, daß es kein leichtes Spiel sein würde, sein stolzes Herz aus seinem ruhigen und regelmäßigen Ticktack herauszubringen. Er lächelte, und wenn die jungen Mädchen, denen er sich nahte und auf denen er seine tiefen, schwärmerischen Augen ruhen ließ, heftig errötheten und dadurch andeuteten, daß er sich nur zu bücken brauche, das arme Herz liege ja da zu seinen Füßen, so war die Sache gut, und sein Appetit war so regelmäßig wie der Schlummer ruhig.“

Der Schöngeist machte eine kleine Pause, und ich benutzte sie zu einer Frage.

„Irre ich mich,“ sagte ich, „oder habe ich Sandow eine Zeitlang häufig in Theatern und Concerten gesehen mit einem jungen Mädchen, das neben ihm auffallend klein und zierlich erschien?“

Der Schöngeist nickte mir lächelnd zu und antwortete dann: „Das war die Erste, die das ruhige Ticktack etwas zu beschleunigen gewußt hatte, freilich ohne es zu wollen. Das arme Kind! Sie hieß Emma, war die Tochter eines Mauerpoliers und nähte außer dem Hause für geringen Lohn. Sie war keineswegs hübsch, aber ihre kleine zierliche Figur hatte so etwas Kindliches. Dazu besaß sie sehr schöne blaue Augen mit wunderbaren Wimpern und eine Stimme, so melodisch, wie man sie selten hört. Wenn sie lachte, und auch sie that es gern, so klang es fast, als wenn ein kleiner Vogel über eine Glasharmonica huschte und von den geheimnißvollen Tönen erschreckt davonflatterte. Sie hatte das Glück gehabt, durch Empfehlung in das Haus meiner Tante zu kommen, und es mögen die Tage, die sie dort zubrachte, wohl zu den froheren in ihrem armen Dasein gezählt haben. Die Kriegsräthin hatte eine augenscheinliche Zuneigung für die kleine Näherin gefaßt. Es machte sie jung, ihr frohes Lachen zu hören; sie fiel vergnügt in die zweite Stimme ein, und so kam es, daß sie immer etwas Besonderes kochte, wenn sie ‚die Näherin hatte‘, und aus eigenem Antriebe dem jungen Mädchen zwei Gutegroschen für den Tag zulegte. Eines Tages wollte es mit dem lustigen Lachen nichts Rechtes werden; die Kriegsräthin entdeckte sogar ein paar dicke, dicke Thränen, die an den langen Wimpern einen Augenblick hingen, um dann schwer und schnell über die Wangen herabzurollen. Das arme junge Ding war am gestrigen Abende beim Nachhausewege von einem Betrunkenen auf gräuliche Art insultirt worden. Das liebe unschuldige Mädchen! Das ging nicht; daran hatte die Kriegsräthin gar nicht gedacht; sie war verantwortlich dafür – das mußte verhindert werden. Das Mädchen war nicht zu entbehren; denn die Frau Kriegsräthin war bei der Wäsche. So wurde Eduard beordert, die kleine Näherin nach Hause zu bringen. Er war zwanzig Jahre alt, aber seine Mutter hatte das vollste Vertrauen zu ihm. Sie hatte oft genug gesehen, wie kalt er war. Wie konnte es ihr auch in den Sinn kommen, daß der Sohn einer Kriegsräthin für die Tochter eines Mauerpoliers – ich bitte Sie! das lag doch wirklich außer aller menschlichen Berechnung.

Die kleine Näherin plauderte unbefangen mit ihrem Begleiter und dachte nicht daran, zu erröthen, und kümmerte sich keinen Deut um den bezaubernden bläulichen Schimmer. Das brachte augenblicklich die natürliche Wirkung hervor. Man versagte dem schönen Manne, was er als einen ihm gebührenden Tribut zu betrachten gewöhnt war; er fühlte den Boden unter seinen Füßen weichen, und das nahm ihm seinen Halt. Die Verlegenheit, die nicht wußte, wo sie hinsollte, kam auf ihn zurück, und er fing an, Unsinn zu schwatzen. Das junge Mädchen hörte den Unsinn an und lachte Den, der ihn sprach, aus.

Damit war die Sache gethan, der Appetit war gering und der Schlaf unruhig. Der tiefbeleidigte Mann träumte von einer vornehmen Dame, welche einen Eclat dadurch herbeiführte, daß sie sich öffentlich auf einem Balle weigerte, mit ihm zu tanzen … weil er … nicht rasirt sei.“

Der Schöngeist machte eine Pause, um sich einen neuen Schlaftrunk zu bestellen. Als der Kellner ihn gebracht und er sich daran gestärkt hatte, fuhr er fort:

„Als mein schöner Vetter am andern Morgen erwachte, war er verliebt, und es kehrte mit diesem himmlischen Gefühle eine Eigenschaft zu ihm zurück, die er verloren hatte, ohne es zu wissen, und welche ich für die hübscheste halte, die der Mensch besitzt – die Natürlichkeit. Als er sich dann einfach, wie er war, gegen das junge Mädchen benahm, fand sie ihn plötzlich sehr nett, und es dauerte nicht lange, so wußte die Verlegenheit nicht aus und ein vor embarras de richesse. Sie flog bald zu ihm, bald zu ihr, und war beständig unterwegs, und das Erröthen, dieser treue Begleiter der Verlegenheit, folgte derselben dicht auf der Ferse und befand sich in derselben Lage.

Als das Unglück da war – nicht so, wie Sie in diesem Augenblicke vielleicht meinen –, als meine Tante merkte, wie die Sachen standen, gab es natürlich eine furchtbare Scene. Die Frau, ihrem natürlichen Charakter nach, würde vielleicht ein gewisses Mitgefühl mit dem armen Mädchen gehabt haben, wenn die Kriegsräthin nicht in ihr die Oberhand gewonnen hätte. Die kleine Schlange hatte sich eingedrängt in ihr Haus und hatte zuerst sie selbst mit ihren Blicken bezaubert, bis sie ganz dumm geworden war, und dann hatte sie sich auf ihre Krone, auf ihr Juwel, auf ihren kalten, unschuldigen Eduard gestürzt und hatte mit ihm dasselbe Spiel getrieben, bis sie bei ihm dasselbe Ziel erreicht hatte. Sie mußte Knall und Fall zum Hause hinaus, und alle befreundeten Familien, in denen Söhne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 693. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_693.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)