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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Triumphes zu entziehen. Ich saß neben ihr und gab ihr die Farben an, welche sie für die Lasur ihres Vordergrundes brauchte. Ihre Wangen glühten; unruhig rückte sie auf ihrem Stuhle hin und her, und nach vorn gebeugt, den Fuß auf die untere Leiste der Staffelei gesetzt, machte sie die Probe mit dem Pinsel auf dem trockenen Bilde.

„O, vortrefflich! … Wie es leuchtet! … Diese Kraft! Ach, wenn ich eine Medaille bekäme, ich wäre die glücklichste der Frauen!“

Aber was war das für ein Geräusch, das in ihre Worte hineintönte? War es ein Rascheln? Nein, es war der kleine Pantoffel von russischem Juchten, der ihr vom Fuße glitt; er fiel zu Boden. Aber nein, es raschelt doch! und – Gott steh’ mir bei! … da ist sie, die Schlange, da sieht sie hervor mit der Schwanzspitze! Wo? Da, unter dem Saume des grauseidenen Kleides, an der Stelle, wo die Schnur des Besatzes abgerissen und weit nachschleppend herunterhängt. Wahrhaftig! Da ist sie!

In meinem Schreck hatte ich nicht bemerkt, daß Eduard Sandow leise in das Zimmer getreten war. Da hörte ich plötzlich einen tiefen Seufzer, der fast einem schmerzlichen Stöhnen glich, und als ich meine Augen von dem Ungethüm abwandte, um dahin zu sehen, woher dieser Ton kam, da sah ich, daß seine Blicke entsetzt auf dem Punkt ruhten, den die meinen soeben verlassen hatten. In meiner Verlegenheit gab ich meiner Schülerin einen sehr confusen Rath, den sie im Begriff war zu befolgen, als sie endlich zu bemerken schien, daß ihr Gatte sie fortwährend leise anstieß, wodurch sie schon zweimal mit ihrem Pinsel ein wenig ausgerutscht war. Sie wurde unmuthig und sagte: „Ach, bitte, störe mich jetzt nicht, Eduard! Es ist gerade ein sehr wichtiger Moment.“

„Das ist es allerdings, mein Kind, und deshalb muß ich Dich eben stören!“ antwortete er, und seine Stimme zitterte ein wenig.

„Es wird wieder eine schöne Kinderei sein, Eduard,“ sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, sonst hätte sie bemerken müssen, daß er den Wunsch hatte, ihr pantomimisch etwas klar zu machen. Ich fühlte es deutlich; und doch sah ich ihn ebenfalls nicht an.

„Es ist insofern allerdings eine Kinderei, als ich Dich bitten wollte, doch lieber Deinen Schuh anzuziehen, der … an der Erde liegt.“

Während er diese Worte sagte, in denen seine Stimme noch mehr in ein leises Fiebern fiel, war ich aufgestanden, um mir am andern Ende des Zimmers irgend ein lächerliches Gewerbe zu machen. Ich konnte nicht sehen, ob sie, seinen Pantomimen endlich folgend, ebenso erschrak, wie wir Beide; aber ich glaube es nicht, denn sie antwortete sehr ruhig und ohne sich Mühe zu geben, den Klang ihrer Stimme zu dämpfen: „Nun, das ist wieder ein großes Unglück! Es ist unrecht von Emilie … daß sie nicht achtsamer ist!“

Jetzt schien die Geduld des armen Mannes zu reißen, denn er gab dem Schemel, auf welchem der Malkasten stand, einen so heftigen Stoß, daß er auf dem glatten Parquet bis halb zu mir hingeschlittert kam, wo er sich einen Augenblick besann, ob er umfallen sollte, und es dann wirklich that. Dazu sagte Eduard ziemlich heftig: „Die Entschuldigung sieht Dir ähnlich. Es ist unrecht von Dir, und nicht von dem Mädchen.“

„Ich finde es wirklich nicht hübsch, wenn ein Mann sich nicht zu beherrschen weiß,“ antwortete sie, nun ihre Stimme ebenfalls etwas erhebend.

„Und ich,“ rief er zornig, „finde es noch weniger hübsch, wenn eine Frau, eine junge Frau, sich … in dem Maße vernachlässigt.“ Dann ging er zum Zimmer hinaus, und machte wieder die Thür so hinter sich zu, wie es artigen Kindern verboten ist, sie zuzumachen.

Ich hatte mich unterdeß beschäftigt, den Inhalt des Malkastens wieder aufzulesen, wobei ich halblaut (ich bin Junggeselle) ein Liedchen vor mich hinsummte. Als ich zu meiner Schülerin wieder herantrat, war sie eben so fleißig mit ihrer Lasur beschäftigt wie vorhin. Nicht die geringste Erregung war an ihr zu bemerken. Sie sah ruhig zu mir auf und sagte lächelnd: „Ich glaube, ein wenig mehr Jaune capucine würde die Lasur noch leuchtender machen.“


(Fortsetzung folgt.)




Von der Abstammungslehre.
2. Naturphilosophische Begründer der Schöpfungsgeschichte.


Die Descendenztheorie oder Abstammungslehre (siehe Gartenlaube Jahrgang 1872, S. 42 und 58; 1873 S. 372), nach welcher aus unvollkommenen Organismen nach und nach vollkommenere entstehen, hat zuerst der große deutsche Naturforscher Caspar Friedrich Wolff in ihren wichtigsten Grundzügen festgestellt und zwar schon im Jahre 1759. Es blieb dies aber fast ein halbes Jahrhundert hindurch ganz unbeachtet, und erst durch Oken (1806) und Meckel (1812) wurde Wolff’s Theorie (durch die Uebersetzung derselben aus dem Lateinischen in’s Deutsche) allgemeiner bekannt. Auch Goethe sprach schon mit ziemlicher Bestimmtheit die wichtigsten Grundsätze der Abstammungslehre aus; doch war dieser Ausspruch wohl mehr das Product einer subjectiv-philosophischen Speculation, als realer und rationeller Beobachtungen. – Den ersten Platz in der Geschichte der Abstammungslehre nimmt jedenfalls der Franzose Jean Lamarck ein, da er es ist, der zum ersten Male diese Lehre als selbstständige wissenschaftliche Theorie durchgeführt und sich den unsterblichen Ruhm erworben hat, dieselbe als die naturphilosophische Grundlage der ganzen Lehre vom Leben (Biologie) festgestellt zu haben. Wie nun die Wolff’sche Theorie (1759), so schlummerte auch die 1809 von Lamarck begründete ziemlich ein halbes Jahrhundert und wurde erst 1859 durch den Engländer Darwin zu neuem unsterblichem Leben erweckt, also genau ein Jahrhundert später, nachdem Wolff seine Theoria generationis geschrieben hatte. Neben Darwin, mit welchem gleichzeitig auch der berühmte Reisende Wallace zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen war, hat sodann Häckel das Ganze der natürlichen Schöpfung in ein festes System gebracht und bis in die letzten Consequenzen durchgeführt. Zu den Naturphilosophen, welche den alten Glauben an die mosaische Schöpfung untergruben und an dem Aufbaue der naturgemäßen Schöpfungsgeschichte mithalfen, gehören außer den Obengenannten auch noch Kant, Geoffroy St. Hilaire, Treviranus, Lyell, Owen, Huxley, Hooker, Bär, Pander, Herbert Spencer, Wells, Grant, Naudin, Kayserling, Leopold Trattinick, Oskar Schmidt, Büchner u. A.

Sämmtliche Naturforscher und Naturphilosophen aber, welche vor Darwin als Anhänger der Entwickelungslehre auftraten, gelangten nur zu der Anschauung, daß alle verschiedenen Thier- und Pflanzenarten, die zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, die allmählich veränderten und umgebildeten Nachkommen von einer einzigen oder einigen wenigen ursprünglichen, höchst einfachen Stammformen sind, welche letztere einst durch Urzeugung aus unorganischer Materie entstanden. Aber Keiner gelangte dazu, diesen Grundgedanken der Abstammungslehre gehörig ursächlich zu begründen und die Umbildung der organischen Arten durch den wahren Nachweis ihrer mechanischen Ursachen wirklich zu erklären, wie Darwin. Er war es, der die natürliche Züchtung im Kampfe um das Dasein, selbstverständlich[WS 1] stets neben der Vererbung, als die wichtigste Ursache der beständigen Umbildung der organischen Formen erkannte. Die Naturphilosophen, welche sich bis jetzt die größten Verdienste um die Abstammungslehre erworben haben, sind: Lamarck, Geoffroy St. Hilaire, Darwin und Häckel.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: stelbstverständlich
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_710.JPG&oldid=- (Version vom 15.2.2020)