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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Naturellement! Ihr seid mein Freund! Nicht wahr? Ich habe gerade noch eine, die mir schon viele deutsche Landsleute abkaufen wollten; ich hätte sie nicht fortgegeben für den doppelten Preis; aber –“

Damit eilte er hinaus, um die Flasche zu holen. – Désirée hatte inzwischen still in einer Ecke gesessen und zugehört; als ihr Onkel mich seinen Freund nannte, zuckte sie verächtlich mit den Schultern. Nun schien sie mit irgend einem Entschluß zu kämpfen; sie sah mich an, als ob sie etwas sagen wollte, schwieg aber, so daß ich endlich fragte, was sie auf dem Herzen hätte.

„Nichts“ – stammelte sie – „aber es verdrießt mich –“ Sie hörte ihren Onkel wiederkommen. „Gebt auf die Kirche Acht!“ flüsterte sie leise, aber entschlossen.

„Auf die Kirche?“ wiederholte ich erstaunt.

„Was ist mit der Kirche? Was hast Du gesagt, Désirée?“ fragte Jean, der in diesem Augenblick wieder eintrat. Er sah sie dabei forschend an.

„Ich fragte nur Herrn Frédéric, ob er morgen in die Kirche gehen werde,“ entgegnete Désirée schnell gefaßt. Damit eilte sie hinaus und ließ mich erstaunt sitzen. Auf die Kirche sollte ich Acht geben? Warum durfte der Onkel nichts davon wissen?

„So, so!“ fuhr Jean fort. „Was geht das das Mädchen an? Diese Frauenzimmer! Und sie thun so fromm. Aber fragte sie wirklich danach?“

„Ihr habt es ja gehört!“ entgegnete ich kurz. „Was wollt Ihr für Eure Flasche haben?“

Wir wurden Handels einig, und nachdem ich noch eine Weile gewartet hatte, ob Désirée vielleicht wiederkäme, ging ich nach Hause, indem ich mir über ihre räthselhaften Worte den Kopf zerbrach. Wollte sie mich aufmerksam machen auf eine Gefahr, die mir drohte? Aber wie sollte die durch die Kirche entstehen? Vielleicht waren dort Minen angelegt oder Waffen versteckt. Etwas uns Allen Gefährliches mußte dort jedenfalls vorhanden sein; denn auf mich allein konnte sich die Gefahr nicht beziehen. Und daß sie dem alten Jean ihre Worte verheimlichte, war noch ein Moment mehr für meine Annahme; er war eher fähig, uns einen Streich zu spielen, als uns vor einer Gefahr zu warnen.

Diese Gedanken ließen mir keine Ruhe; ich mußte mir Nachmittags die Kirche ansehen. Sie stand mitten im Flecken auf einem freien Platz, auf den die meisten Straßen ausliefen. Der entflohene Pfarrer von Argenteuil wurde als der fromme Gottesmann gerühmt, dem man die Vollendung der neuen Kirche verdankte. Sie schloß nach höchst glaubwürdigen Attesten und Documenten eine sehr wunderthätige Reliquie in sich, nämlich den unnähtigen Rock Jesu Christi, und zwar sollte dieser Rock zum Unterschied von dem Rock zu Trier wirklich echt sein. Ich überlasse die Entscheidung über diese bekannte Streitfrage den Sachverständigen. So viel aber steht fest, daß der Rock in unserer Anwesenheit keine Wunder that, sich also offenbar vor den Prussiens gerettet hatte. Mit ihm war auch Alles aus der Kirche verschwunden, was irgendwie von Werth war; ein einziges großes Wandgemälde war da geblieben, auf welchem Karl der Große das Kästchen mit dem Rock, das er von Rom geholt hatte, den Nonnen des Klosters zu Argenteuil übergab. Sonst war die Kirche kahl und leer, und ich konnte auch nicht das geringste Bemerkenswerthe finden.

Ich kletterte auf den Thurm, dessen Thür zufällig offen stand. Die Treppen waren mit Schutt und Steinen bedeckt, da eine Granate mitten durch den Thurm gefahren war. Die Löcher, die sie gemacht hatte, dienten mir als Gucklöcher. Unter mir lag das ganze kriegerische Panorama; drüben sah ich die Franzosen, die höchst ungenirt zwischen ihren Schützengräben und den dahinter liegenden freistehenden Häusern, welche als Wachlocale für die Soutiens dienten, hin und her liefen. Sie wußten ja, daß wir auf so unsichere Zielpunkte nicht schießen durften. Auf dieser Seite, halb versteckt durch die am Ufer der Seine sich hinziehenden Baumpflanzungen, waren unsere Stellungen. Nur hin und wieder war ein Posten so leichtsinnig, den Kopf über die Böschung zu heben, um den Rothhosen Gelegenheit zu bieten, sich um ein paar Patronen zu erleichtern. Sonst setzte sich Keiner unnützer Gefahr aus; man beschäftigte sich nützlicher, indem man die Gräben und Brustwehren ausbesserte, die durch das schlechte Wetter leicht schadhaft wurden.

Zwischen beiden Parteien rollte majestätisch die Seine dahin, die gerade hier bei Argenteuil ganz besonders breit und reißend ist. In ihrer Mitte ragten noch die halb zertrümmerten Pfeiler empor; große Stücke des Brückenbogens, den die Franzosen an mehreren Stellen gesprengt hatten, verursachten heftige Strudel und bildeten gefährliche Klippen für Jeden, der es wagte, die Stelle zu passiren. An der Eisenbahnbrücke, die unterhalb Argenteuil’s in kühnen Bogen den Strom überspannt hatte, war nur der mittelste Pfeiler weggesprengt; die eisernen Bogen, die durch die Schienen zusammengehaltenen Schwellen waren in der Mitte in die Seine hinabgesunken, während die Enden des Schienenweges hoch oben noch auf dem verschont gebliebenen Pfeilern auflagen. Das Ganze gewährte einen romantisch grauenhaften Anblick, in den ich so versunken war, daß ich fast den Zweck vergaß, zu dem ich auf den Thurm gestiegen.

Ich wurde aus meinen Träumen durch das Sausen einer Granate aufgeschreckt, die in gerader Richtung unter mir in die Böschung unserer Schützengräben fuhr. Die Franzosen hatten offenbar bemerkt, daß dort gearbeitet wurde. „Da ist gut zielen,“ dachte ich, „wenn man einen Thurm vor der Nase hat, nach dem man Entfernung und Richtung bemessen kann! Es wäre auch besser, wenn noch ein paar Granaten vom Mont Valerien kämen und den ganzen Thurm mitnähmen!“

Ich kletterte wieder hinunter, da mir einfiel, daß ich den Chor noch nicht besucht hatte. Die Orgel schien vortrefflich gebaut zu sein, und ich beschloß, einmal Jean zu bitten, mir die Bälge zu treten. Während ich noch die verschiedenen Register musterte, ließen sich Schritte auf der Treppe zum Chor hören und die lange hagere Gestalt des Vicars tauchte in Jean’s Begleitung auf. Als der Vicar mich an der Orgel bemerkte, wurde sein gelbes, giftiges Gesicht grün vor Aerger und Schreck; er griff in sein Gewand, als ob er nach einem Dolch faßte, um mich nieder zu stoßen, so daß ich unwillkürlich nach meinem Seitengewehr fühlte.

„Was suchen Sie hier?“ preßte er endlich, sich mühsam fassend, hervor.

„Gar nichts,“ erwiderte ich erstaunt, aber doch mißtrauisch.

„Eh bien –“ meinte er, sich schnell umsehend, und starrte mich erwartungsvoll an. Ich wußte nicht, was ich weiter sagen sollte, grüßte und ging langsam hinunter. – Als ich die Kirche verließ, begann die Orgel zu ertönen.

Das Benehmen des Pfaffen war mir doch räthselhaft. Wie konnte ihn das so sehr alteriren, daß ein Preuße die Orgel besucht hatte, da doch jeden Sonntag Militärgottesdienst in der Kirche abgehalten wurde? Er mußte etwas zu fürchten haben, die Entdeckung irgend einer verdächtigen Sache; wahrscheinlich hatte er mich bei meiner unerwarteten Anwesenheit auf der Orgel für einen Spion gehalten; deshalb war er so heftig erregt gewesen. Es mußte etwas Verdächtiges in der Kirche sein – das bezeugte Désirée’s Warnung, das bestätigte das Benehmen des Vicars. Aber wo fand man einen Anhaltspunkt zur Aufdeckung des Geheimnisses? Ich mußte Désirée noch einmal befragen; vielleicht sagte sie mir Genaueres.

In den folgenden Tagen hatten wir so angestrengten Vorpostendienst, daß ich meine Absicht nicht ausführen konnte.

Inzwischen waren die Weihnachtsfeiertage herangekommen. Die Officiere aller Waffengattungen, die um Argenteuil herumlagen, wollten das Fest durch ein gemeinschaftliches Souper feiern. Zu diesem Zweck war der Speisesaal einer kleinen reizenden Villa ausersehen, welche am Ufer der Seine, völlig zwischen Bäumen versteckt, bisher von Granaten verschont geblieben war. Ueberhaupt wurde dieser Strich fast gar nicht beschossen, weil die Franzosen wußten, daß die vereinzelt liegenden Villen nicht mit Soldaten zu belegen waren, und sie daher ihre Munition sparen zu können glaubten.

Das Souper hatte begonnen; auf der ganzen Vorpostenlinie ließ sich kein Schuß hören, und Jeder war froh bei dem Gedanken, daß man heute einmal ruhig und unbesorgt sich der Geselligkeit und der Erinnerung an die Heimath überlassen könne.

Da plötzlich sauste eine Granate durch die Baumgipfel des Parks über das Haus hinweg.

„Haben denn die Franzosen nicht einmal am Feiertag Ruhe?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_718.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)