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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


von den kalten Speisen darauf, die uns sonst so einladend begrüßten.

„Oho!“ rief Eduard Sandow lachend, „die Frauensleute haben wieder die Uhr nicht im Kopf. Entschuldigen Sie einen Augenblick, meine Herren!“ und er ging, um nach der Ursache der Verzögerung zu sehen.

Ich war mit einem der Gäste bei einem interessanten Thema und bemerkte nicht, daß der Schöngeist ebenfalls das Zimmer verlassen hatte. Unser Wirth blieb ziemlich lange aus, und kurz vor ihm sah ich Robert Fürst zurückkommen. Er machte mir ein kleines, fast unmerkliches Zeichen und flüsterte mir im Vorübergehen zu: „Gesehen! in Lebensgröße; ein selten schönes Exemplar!“

Gleich darauf trat Eduard in das Zimmer und sagte lachend: „Es ist, wie ich gesagt habe – die Uhr geht nach, ist sogar stehen geblieben. Sie müssen sich schon noch ein Viertelstündchen gedulden. Wir wollen noch fünfzig zuschreiben.“

Es würde mir unter anderen Umständen vielleicht nichts an seinem Benehmen aufgefallen sein. Aber darauf vorbereitet, daß etwas passirt sei, bemerkte ich, daß er auffallend blaß war und daß sein Lachen einen seltsamen unheimlichen Klang hatte. Als wir wieder in das Billardzimmer zurückgegangen waren, um noch eine kurze Partie zu machen, zitterte seine Hand so heftig, daß seine Queue eine Zeitlang den Ball umfuhr, ohne ihn zu treffen. Er bat seinen Vetter für ihn zu stoßen, indem er seine linke Hand auf seine Brust legte.

„Mein Herzklopfen wieder einmal und besonders heftig!“ sagte er schwach; „entschuldigt mich! Es geht gleich vorüber.“

Es ging vorüber, nachdem er ein Glas Wasser hinuntergestürzt hatte, und bald daraus rief man uns zu Tische. Wir hatten Alle tüchtigen Appetit, nur unser Wirth aß wenig. Er trank dafür mehr als die Anderen, was ich früher nie bei ihm bemerkt hatte. – – –

„Es ist schlimmer als ich glaubte,“ sagte der Schöngeist, als er seinen Schlaftrunk bestellt hatte, der an dem Abend ausnahmsweise aus einem Glas Punsch bestand. „Es ist verachtungswürdig, daß ich lauschte, ich weiß es; aber warum juckte diese unglückliche Nase so, und warum sagte sie mir noch außerdem ganz deutlich, daß die Neuigkeit von ‚dieser‘ Seite kommen müsse!? Als mein Vetter das Zimmer verließ, drängte es mich, mir ein Reservetaschentuch aus meinem Ueberzieher zu holen. Die Garderobe stößt dicht an die Küche, und als ich die ersten Worte dessen hörte, was dort verhandelt wurde, da war jeder Rest von Scham in mir erstorben. Ich fuhr fort zu lauschen.

‚Was soll das heißen, Emilie,‘ sagte die Stimme meines Vetters unmuthig; ‚es ist zehn Minuten über Neun! woran liegt es?‘

‚Es ist nicht meine Schuld, Herr Sandow,‘ antwortete das Mädchen, und seine Stimme klang ängstlich und trostlos, ‚es ist nicht meine Schuld – werden Sie nicht böse – ich habe mich selbst schon so sehr abgeängstigt.‘

‚Nicht Ihre Schuld? abgeängstigt? Was reden Sie für Unsinn, Emilie!?‘ rief Eduard zornig.

‚Ich hätte gewiß Alles besorgt, wie immer – wenn Madame – sie wollte Geld schicken – aber sie schickte keins und – werden Sie nicht böse, Herr Sandow! Es ist nicht meine Schuld; der Fleischwaarenhändler wollte nicht mehr – borgen.‘

‚Emilie!‘ donnerte die Stimme des unglücklichen Mannes; sie donnerte wirklich, und es war wohl nicht zu verwundern. ‚Emilie! wie können Sie so schamlos sein, mir in’s Gesicht zu sagen, daß – meine Frau Sie bei den Lieferanten borgen heißt?‘

Das arme Mädchen schluchzte vernehmlich: ‚Ich hätte es Ihnen gern erspart, so gern, aber ich konnte nicht mehr auslegen, weil ich meinen Lohn – o, werden Sie nicht böse! Es ist nicht meine Schuld.‘

Das Mädchen weinte heftig, und ich hörte einen Augenblick nichts weiter als ihr Schluchzen und das Klopfen von meines Vetters Herzen, was aber von meinem eigenen herrührte, wie ich im nächsten Moment entdeckte.

‚Hier ist Geld, Emilie,‘ sagte der Unglückliche nach einer kurzen Pause, und ich werde den Klang seiner Stimme nie vergessen ‚hier ist Geld! Weinen Sie nicht! Seien Sie still und besorgen Sie Alles schnell, und seien Sie ein gutes Mädchen und machen kein Aufsehen, und – o, o!‘ ich sah ihn deutlich nach seinem armen Kopfe fassen, ‚und nun ein vergnügtes Gesicht machen, mein Gott! nun ein ver–‘

Einen Augenblick später streifte ich an Ihnen vorüber, mit den Worten: ‚Gesehen, in Lebensgröße!!‘“ –

Wir saßen eine Weile schweigend da, und ich versuchte, mich schaudernd in die Lage des unglücklichen Mannes zu versetzen.

„Es ist grauenhaft,“ fuhr Robert Fürst dann fort, „viel grauenhafter noch, als es selbst Ihnen den Eindruck macht. Man muß den armen Mann kennen, wie ich ihn kenne, um es ganz zu fassen; er ist so stolz. Selbst als junger Mensch hat er nie einen Groschen Schulden gehabt; er hatte darüber mehr als philiströse Ansichten; er nannte es geradezu unanständig. Und nun beim Fleischwaarenhändler, also auch bei anderen keinen Leuten. Wenn es eine Rechnung von fünfhundert Thalern bei Gerson oder Friedberg wäre, er würde sie mit Freuden doppelt bezahlen. Beim Fleischwaarenhändler, in seiner Gegend natürlich – er ist verloren! Er kann es unmöglich ertragen; er läßt sich aller Wahrscheinlichkeit nach den Bart abschneiden, damit ihn Niemand kennt. In jedem Menschen, der ihn von heute an ansieht, wird er einen Gläubiger seiner Frau wittern – im Betrage von zwölf und ’nem halben Sibergroschen. Es ist grauenhaft, grauenhaft, und wenn ich auch manchmal dachte, daß ihm etwas nicht schaden könne, das ist bei Gott zu viel, zu viel. Der arme Mann, der arme Mann.“



4.

Ich hatte Berlin im Frühling des Jahres 186* verlassen und den ganzen Sommer auf dem Lande zugebracht. Erst im September kehrte ich nach der Stadt zurück, die mir in den ersten Tagen jenen traurigen, die Brust beklemmenden Eindruck machte, den wir immer empfinden, wenn wir lange die entzückende Luft von Feld und Wald geathmet haben. Ich konnte mich nicht hineinfinden, und machte in der ersten Woche noch täglich Excursionen in die Umgegend, um mich nach und nach einzuwohnen in das dunstige Babel.

Gleich in den ersten Tagen hatte ich Robert Fürst meinen Besuch machen wollen. Ich traf ihn nicht; auch er hatte einen Ausflug gemacht und wurde erst Ende der Woche zurückerwartet. Aber ich traf früher mit ihm zusammen.

Es war auf einem der kleinen Dampfer, welche die Oberspree nach Köpnick zu befahren. Ein grauer, aber noch recht warmer Herbsttag; die Luft weich und ein wenig neblig, so daß die wunderlichen pittoresk-alterthümlichen Hintergebäude, welche die Spree jenseits der Jannowitzbrücke einfassen, sich, in ihr verlierend, seltsame, burgähnliche Gestalten annahmen, die sich in dem leise dampfenden Wasser spiegelten, wo es nicht dicht bedeckt war von eng beieinanderliegenden Fahrzeugen aller Art. Der Dampfer war wenig besetzt, und in der frühen Morgenstunde waren die Brücke, das Geländer und die äußeren Wände der Kajüte etwas feucht. Alles war übersäet mit Millionen kleiner mikroskopischer Thautropfen. Acht Uhr hatte es ausgeschlagen auf dem Glockenthurm der Stralauer Kirche, und der Capitain war im Begriff das Zeichen zur Abfahrt zu geben, als er noch gewohnheitsmäßig einen Blick auf die höher liegende Brücke warf, um nach einigen, vielleicht verspäteten Passagieren zu sehen. Wirklich kamen noch mehrere die Treppe athemlos herab und sprangen auf den Dampfer, der sich schon bewegte, und der letzte von diesen war Robert Fürst. Als er mich bemerkte, kam er, ohne besonders erstaunt zu sein, auf mich zu, aber es war etwas in seinem Wesen, das mich betroffen machte.

„Es ist mir lieb, daß Sie gekommen sind,“ sagte er, mir die Hand reichend; „es ist angenehmer bei solcher Gelegenheit zu Zweien zu sein.“

„Bei welcher Gelegenheit?“ fragte ich verwundert.

„Sie wissen nichts? sind also zufällig auf dem Dampfer?“ sagte er schwer athmend.

„Ich will einfach einen Tag im Freien zubringen, in Treptow oder auf dem Eierhäuschen,“ antwortete ich; „aber was ist es?“

„Es ist nur – – ich glaubte Sie wüßten es,“ und er starrte bei diesen Worten in seltsamer Art in die Wellen, welche die Schraube des Schiffes aufwarf; „es ist nur – Eduard Sandow,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_724.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)