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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


jammernd zu unserm Empfange in Bewegung. Ich habe noch nie ein so widerwärtiges Bild gesehen. Alles hatte sich phantastisch in die ärgsten Lumpen gehüllt; Flicken von allen Farben hatte man auf’s Tollste übereinandergehäuft, und der Ton, mit welchem man uns ansprach, war das Heulen des bereits Verhungernden. So bittet die Noth nicht, so bettelt nur das professionelle Lumpenthum. Eine Freigebigkeit, die das erzeugt, ist verbrecherisch. Es mag wohl sein, daß Mancher, der hier Gaben ausstreut, ein gutes Werk damit zu stiften meint. Manchen mag es auch geben, der mit Wohlgefallen auf sich als Menschenfreund herniederschaut, wenn er Kupferschillinge wegwirft, weil ihm sein Gewissen zu anderer Zeit über den Erwerb seines Goldes und Silbers gar herbe Dinge zu sagen hat. Was ist Der aber, der in den Augen von Betteljungen für einen Lord gelten will, Anderes als ein Betteljungenlord?

Man findet in der von Bettlern besonders stark frequentirten Strecke von Gudbrandsdalen vielfach eine Bekanntmachung, unterzeichnet von den beiden Geistlichen in Vaage, worin diese die Reisenden bitten, den Bettlern nichts zu geben, sondern die Almosen in Büchsen zu thun, welche an verschiedenen Stellen des Weges angebracht sind. Die Bekanntmachung ist in norwegischer und englischer Sprache abgefaßt. Ich glaube, der norwegische Text ist völlig überflüssig. Der englische würde vollständig genügen,[WS 1] wenn er überhaupt etwas nützte. Ich bezweifle das aber. Wenn die norwegische Regierung, ich will sagen, das Storthing von Christiania, dem ein gewisses Selbstbewußtsein durchaus nicht fehlt, etwas thun wollte, was dem stolzen Warägerthum besser anstände als manches Andere (ich erinnere nur an das, was vor zwei Jahren die Jaabek und Genossen im norwegischen Landtage gegen die höhere Schulbildung geleistet haben), so würde es in einer energischen Beseitigung des Bettelunfuges in Gudbrandsdalen bestehen.

Mitten in diesem schönen Thale steht ein großes Gefängniß. Es enthält die Ernte dessen, was nicht weit davon durch den Bettel gesäet worden ist. Sagt das häßliche Bild der lungernden, zerlumpten, heulenden Horden am Wege durch Gudbrandsdalen, daß es wünschenswerth wäre, Schritte dagegen zu thun, so verkündet das eisenvergitterte Haus gebieterisch: Es ist eine moralische Pflicht für Norwegen, das gefährliche Unkraut, welches die Touristen in den keuschen Boden seiner Berge und Thäler tragen, mit Feuer und Schwert auszurotten.

J. Bgr.




Erinnerungen aus dem letzten Kriege.
Nr. 13. Die Kirche von Argenteuil.
(Schluß.)


Die dem Portale Zunächststehenden lauschten; sie vernahmen deutlich eilige Schritte in der Kirche, dann ein Geräusch, als ob ein schwerer Gegenstand fortgerückt würde – und nun war Alles still; fast gleichzeitig hörte das Schießen der Franzosen auf.

Die Patrouillen kamen zurück; die beiden Gesuchten waren nicht zu Hause gefunden, jedoch hatte die Haushälterin des Vicars den Portalschlüssel überliefert. Wie ein wüthender Strom ergoß sich die Menge in die Kirche, um die Verräther zu ergreifen; alle Ausgänge blieben besetzt und eine systematische Treibjagd begann. Wir durchstöberten den Thurm, den Chor, die Sacristei; wir warfen alle Kirchenstühle um, suchten unter dem Altare nach – nichts zu finden! Wir stiegen hinab in die Gewölbe – keine Spur von Menschen! Und doch waren sie dagewesen! Es mußte ein geheimer Ausgang da sein, durch den sie entkommen konnten; wir suchten und klopften an allen Wänden, in allen Ecken; aber umsonst. Wir waren geprellt. Aergerlich standen wir endlich vom Suchen ab; die Thurmthür wurde vernagelt, vor den Ausgängen Posten aufgestellt und die weitere Untersuchung für den nächsten Tag aufgehoben.

Die Menge begann sich eben zu verlaufen, als in höchster Eile und, wie es schien, höchst erstaunt der Vicar und Jean auf dem Platze erschienen, um sich zu erkundigen, was denn vorgefallen wäre. Aber weder des Vicar’s langer Rock, noch Jean’s Stellung als „Landsmann“ verhinderten die Soldaten, Beide sofort zu ergreifen und nach der Commandantur zu begleiten. Unterwegs hielt Jean so feurige Reden über seine Unschuld und über den Undank seiner „Landsleute“, und der Vicar machte ein so gottergebenes, engelreines Gesicht, daß Manchem Zweifel aufstiegen, ob diese Beiden wohl die Attentäter sein könnten. Jedoch tröstete man sich mit dem Gedanken: „Na, es wird ja schon herauskommen!“ und lieferte sie an den Commandanten ab.

Das Verhör, das am nächsten Tage mit den Beiden abgehalten wurde, ergab gar nichts. Der Vicar wies darauf hin, daß man den Schlüssel zum Portal in seiner Abwesenheit gefunden hatte; einen andern Eingang wollte er nicht kennen, ebensowenig konnte er vermuthen, wer in der Kirche gewesen und das Licht auf den Thurm gebracht hatte. Er war mit Jean zusammen ein wenig ausgegangen, um sich mit ihm über dienstliche Angelegenheiten zu besprechen, und hatte erst, als Alles vorbei war, von dem Vorfalle vernommen.

Dieselben Aussagen machte Jean, der noch nebenbei auf seine bekannte Vorliebe für seine „preußischen Landsleute“ hinwies.

Was sollte man machen? Eine Haussuchung oder vielmehr eine Kelleruntersuchung bei den Verdächtigen ergab auch keine weiteren Momente, also mußte man sie laufen lassen. Möglich war es, daß andere Franzosen durch einen geheimen Zugang in die Kirche gelangt waren, wenn auch unwahrscheinlich, daß Vicar und Kirchendiener nichts davon wissen sollten. Da aber nichts herauszubekommen war, mußte man sich darauf beschränken, durch größte Wachsamkeit sich gegen einen ähnlichen Art der Verrätherei zu schützen. Und daß unter uns Spione waren, stand fest; wie konnten sonst die Franzosen genau die Stunde des Soupers und den Ort, wo es stattfinden sollte, wissen? Das Lichtsignal war nur des besseren Zielens wegen aufgesteckt. Das Licht ließ sich nicht wieder sehen; die Franzosen blieben aber andauernd gut unterrichtet von unseren Stellungen, unserer Stärke, unserem neuen Geschützstand; das ließ sich aus allen Operationen ersehen, die sie uns gegenüber ausführten, und die Gefangenen, die wir hin und wieder machten, bestätigten es. Vergebens wurden die Posten verdoppelt und die Wachsamkeit verschärft, so daß keine Maus, geschweige denn ein Boot, unbemerkt zu den Feinden hinüber konnte; die Dinge blieben beim Alten. Ein Regiment wurde abgelöst; von dem neuen ablösenden Regiment kam zunächst nur ein Bataillon nach Argenteuil; die beiden anderen konnten erst nach einigen Tagen eintreffen. Sofort versuchten die Franzosen, über die Seine zu kommen und uns in unseren Stellungen zu überrumpeln; sie wurden glücklicherweise zurückgejagt; daß sie aber auf unsere augenblickliche Schwäche speculirten, erfuhren wir von den Gefangenen. Unsere Officiere und wir mit ihnen waren wüthend; aber Niemand wußte zu helfen.

Ich dachte wohl an Jean, und Désirée’s Worte dienten noch mehr dazu, meinem Argwohn eine bestimmte Richtung zu geben; aber sowie ich gescheut hatte, ihren Namen in die Untersuchung gegen Jean und den Vicar zu ziehen, so mochte ich auch jetzt nicht davon sprechen, daß vielleicht die Nichte behülflich sein könnte, den Onkel zu entlarven. Ich benutzte aber natürlich die erste Gelegenheit, wo ich mit Désirée ungestört sprechen konnte, um ihr zu danken für den Hinweis, den sie mir in guter Absicht gegeben, obwohl ich ihn nicht sofort verstanden hatte.

„Ach,“ entgegnete sie niedergeschlagen, „es war eigentlich recht schlecht von mir, daß ich Ihnen das gesagt habe. Verrathen Sie es nur keinem Andern, ich bitte Sie; man würde mich sonst tödten.“

„Wer denn? Von wem haben Sie denn Derartiges zu fürchten? Aber beruhigen Sie sich! Ich habe es Niemand gesagt und werde es auch Niemand sagen, daß Sie von der Verrätherei und der Kirche gewußt haben. Jetzt ist ja auch Alles vorbei, und es kann Niemand mehr auf den Thurm hinauf.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gegnügen
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_729.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)