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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Um Gotteswillen still!“ flüsterte sie ängstlich, sich umsehend. „Wenn es Jemand hörte, daß wir über diese Dinge sprechen, wäre ich verloren.“

„Aber ich begreife nicht – wie kann für Sie Gefahr daraus entstehen, daß Sie mich einmal warnen wollten? Es hat ja Niemand etwas gemerkt.“

„Ach, er hat es ja bemerkt. Er hat mir gedroht, mich zu tödten, wenn ich jemals –“

„Aber wer denn? Wer ist das?“

„Ach Gott, ich habe schon wieder zu viel gesagt. Aber Sie werden mich nicht verrathen, nicht wahr? Es wäre mein Tod, ich weiß es gewiß.“

Ich beruhigte das angstvolle Mädchen, so gut ich konnte; ich hatte genug gehört, um zu wissen, um wen es sich handelte.

„Aber es ist gleichgültig, wie es mir geht,“ sprach sie plötzlich mit einem Gemisch von Angst und entschlossener Zärtlichkeit. „Ich habe es nun einmal gesagt, und wenn wieder solche Gefechte kommen, wie neulich, dann sterbe ich vor Angst. Ich kann es kaum aushalten, wenn ich das Treiben ansehe. Sie wissen es nun einmal; vergessen Sie es nicht, auf die Kirche zu achten – ich wiederhole es.“

Erstaunt hörte ich sie an; also auch jetzt noch liefen die Fäden der Verrätherei in der Kirche zusammen? Doch ich drang vorläufig auf keine weitere Erklärung, sondern brach ab, um von andern Dingen zu sprechen, die einen beruhigenden Eindruck auf das Mädchen machten.

Es war dunkel geworden. Désirée hatte Licht angezündet und bediente die zahlreichen Gäste, die sich einzufinden begannen.

Jean kam nach Hause und warf einen argwöhnischen Blick auf mich und auf Désirée; dann setzte er sich an einen andern Tisch zu einigen Soldaten. Offenbar wollte er mir aus dem Wege gehen. Das hinderte mich jedoch nicht, ihn aufmerksam zu beobachten.

Es war nicht schwer zu bemerken, wie er aus den arglosen Leuten gesprächsweise alle militärischen Neuigkeiten herausholte, ohne daß sie eine Ahnung davon hatten, daß sie ausgeforscht würden. Zuweilen machte er dabei ein so verschmitztes Gesicht, daß ich ihm gern meine Flasche an den Kopf geworfen hätte. Ein Franzose, dem Anschein nach ein Landmann, trat herein, wechselte mit Jean einen Blick des Einverständnisses und wurde von diesem in das Hinterstübchen hineingebeten. Ein bedeutungsvoller Blick, den Désirée forschend auf mich warf, erweckte sofort den Gedanken in mir: Das ist auch ein Spion!

Nach einer Weile kam der Mann wieder heraus; ich stand auf, bezahlte meine Zeche und ging ihm langsam und scheinbar absichtslos nach. Er verschwand in dem Hause des Vicars. Natürlich! Jean und der Vicar waren unzertrennlich, also wußten sie wohl Beide von all’ den Geheimnissen, die uns beunruhigten; wahrscheinlich waren sie die Leiter des ganzen Getriebes, und die Kirche bildete vielleicht den geheimen Versammlungsort, wo die Instructionen ausgetheilt wurden. Wenn man nur den versteckten Zugang gekannt hätte! Ich mußte dahinter kommen, koste es was es wolle; mein Verdacht war durch Désirée’s Benehmen heute fast zur Gewißheit geworden.

Als ich in mein Quartier kam, erzählte einer der Cameraden, der auf Wache gewesen war, daß er heute Nacht, als er vor einem der Seiteneingänge der Kirche Posten stand, drinnen Flüstern und leise Schritte gehört hätte und ein Geräusch, als ob eine Treppe knarre. Auf seine Meldung hatte der wachthabende Unterofficier ein paar Mann in die Kirche hineingeschickt; es war aber nichts zu finden gewesen.

Am nächsten Tage meldete ich mich beim Feldwebel und ersuchte ihn, mir wegen Privatangelegenheiten beim Hauptmann Gehör zu verschaffen. Nachmittags wurde ich zum Hauptmann gerufen.

„Nun, was wünschen Sie?“

„Ich bitte den Herrn Hauptmann um die Erlaubniß, mich heute Nacht in der Kirche aufhalten zu dürfen.“

„Wozu denn das?“

„Weil ich glaube, daß es mir so gelingen wird, herauszubekommen, wer neulich das Licht auf dem Thurme aufgesteckt hat und wer noch jetzt die Franzosen mit Nachrichten über uns versorgt.“

Ich trug alle meine Verdachtsgründe vor, gestützt aus die Wahrnehmungen, die ich und die der Posten in voriger Nacht gemacht hatte, und auf die Warnung Désirée’s, die ich nicht verschwieg.

„Wenn ich vor Dunkelwerden mich in der Kirche verstecke,“ so schloß ich, „dann werde ich doch wenigstens sehen, auf welchem Wege die geheimnißvollen Besucher hineinkommen, und darauf hin macht man vielleicht noch andere Entdeckungen.“

Der Hauptmann, nachdem er ein Weilchen überlegt hatte, bestellte mich um sechs Uhr auf die place de l’église, dort sollte ich ihn erwarten.

Der Abend kam, und ich machte mich auf den Weg, gegen die Kälte durch den Mantel, gegen etwaige Gefahren durch einen sechsläufigen Revolver gesichert. Der Hauptmann erwartete mich bereits und theilte mir mit, daß das Portal während dieser Nacht nicht verschlossen sein werde, und daß der Doppelposten vor demselben, sowie eine die Kirche umgehende Patrouille den Befehl hätte, sobald sich ein Geräusch in der Kirche hören ließ, in dieselbe einzudringen, um mir nöthigenfalls Hülfe leisten zu können. Im Uebrigen wünschte er mir viel Glück und Erfolg und übergab mich dann dem Unterofficier, der mich durch die Posten hindurch in die Kirche geleiten sollte.

Das Portal schloß sich leise hinter mir, und ich stand nun allein in dem dunkeln Raum, der mir geheimnißvoll und öde entgegengähnte. Ich leide nicht an Gespensterfurcht; aber doch beschlich mich ein eigenthümliches fremdartiges Gefühl, als ich mich langsam und vorsichtig in der Finsterniß fortbewegte.

Kirchen und Kirchhöfe sind nun einmal Orte, die „den Rest von kindlichem Gefühle“ in jedem Menschen wieder erwecken; ist es doch sogar dem Dr. Faust so gegangen; warum mir nicht?

Ich scheute mich fast, den Fuß niederzusetzen; die schweren eisenbeschlagenen Stiefel gaben auf den Steinplatten einen so seltsamen Laut, der in dem hohen Gewölbe so verrätherisch wiederhallte, daß ich mich in einen Stuhl niederließ, um erst zu überlegen, wo ich mich am besten placiren könnte. Mir fiel die Orgel ein; von dort aus konnte ich Alles hören und beobachten, was in der Kirche geschah, und war dabei nicht in Gefahr, zu früh entdeckt zu werden. Ich schlich also die kleine Treppe hinauf, die mit einem besondern Aufgange zum Platze auf das Chor führte, und setzte mich oben so nieder, daß ich den ganzen Kirchenraum überblicken konnte. Vorläufig war allerdings nichts zu sehen; es war aber anzunehmen, daß die Erwarteten mit einer Blendlaterne erscheinen oder wenigstens durch Geräusch sich bei ihrer geheimnißvollen Thätigkeit vernehmbar machen würden.

So saß ich nun da und wartete. Nichts regte sich in dem dunkeln Abgrunde vor mir; ich hörte nur, wie draußen die Posten vor den Thüren langsam hin- und hergingen; zuweilen brummte in der Ferne der Mont Valérien, oder der schwache Knall eines Gewehrschusses ließ sich von der Seine her vernehmen. Es wurde windig, und ein paar Glasscherben fielen aus den zerschossenen Kirchenfenstern auf die Steine nieder, daß die ganze Kirche davon wiederhallte.

Sollte ich vergebens warten? Fast sah es so aus; denn schon vier Stunden hatte ich dagesessen, und nichts hatte die geheimnißvolle Stille gestört als das Geräusch des Windes, der durch die Fensterlücken stoßweise in’s Gewölbe hineinheulte. Aber gleichviel – ich mußte ausharren.

Da plötzlich fuhr ich auf; ein leises Geräusch, wie wenn ein Schrank fortgerückt würde, hatte sich rechts von mir unten im Kirchenschiffe hören lassen. Ich starrte gespannt in die Finsterniß hinein; das Geräusch dauerte fort; es mußte in der Nähe des Bildes sein, das als das einzige in der Kirche mir aufgefallen war. Jetzt wurde es still. Ein Lichtschimmer erschien und beleuchtete schwach den untern Theil des Rahmens. Zwei dunkle Gestalten huschten an dem Bilde vorbei und stiegen langsam, wie aus dem Bilde heraus, in die Kirche nieder.

Ich erinnerte mich jetzt, vor dem Bilde eine Trittleiter gesehen zu haben, die benutzt zu werden schien, um Kerzen auf die unter und neben demselben angebrachten Leuchter zu stecken. Hinter dem Bilde mußte also ein Gang ausmünden, durch den –

Doch ich erschrak; die Beiden kamen eilig auf die Treppe zum Chor zu. Wenn sie mich entdeckten! Instinctiv fühlte ich, daß ich mich verbergen mußte, da das Geheimniß noch nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_730.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)