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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


nicht gewesen; aber sie besaß, was mehr ist als Schönheit, Anmuth des Körpers und des Geistes, Weite und Klarheit der Anschauung, gediegene Bildung und ein nur selten störbares Gleichgewicht eines maßhaltenden Temperaments. Schiller, welcher bekanntlich während seines ersten Aufenthalts in Weimar die dortige Gesellschaft in seinen vertraulichen Auslassungen einer scharfen Kritik unterzog, schrieb am 12. August von 1787 – also nahezu elf Jahre nach Goethe’s Bekanntschaft mit Lotte Stein – an Körner: „Wie viel flache Creaturen kommen einem hier vor! Die beste unter allen ist Frau von Stein, eine wahrhaftig eigene interessante Person, von der ich begreife, daß Goethe sich so ganz an sie attachirt hat. Schön kann sie nie gewesen sein, aber ihr Gesicht hat einen sanften Ernst und eine ganz eigene Offenheit. Ein gesunder Verstand, Gefühl und Wahrheit liegen in ihrem Wesen. Man sagt, daß ihr Umgang mit Goethe ganz rein und untadelhaft sein soll.“ Und so war es. Lotte Stein gehörte zu jenen weiblichen Wesen, welche geliebt sein müssen und geliebt sein wollen, aber mit der Seele. Besäßen wir ihre Briefe an Goethe, sie würden, mit den seinigen an sie zusammengethan, einen wundersamen Dialog ausmachen, ein unvergleichliches Zwiegespräch zwischen Leidenschaft und Vernunft. Die Stimmführerin der letzteren war Lotte.

Es muß für sie ein schweres Stück Arbeit gewesen sein, die hoch und heiß lohende Flamme der Dichterliebe zum milde leuchtenden Lichte geschwisterlicher Vertrautheit herabzudämpfen. Aber diese Arbeit wurde gethan, und daß sie gethan werden konnte, dies beweis’t unwidersprechlich, welche außerordentliche Macht die Geliebte über den Liebenden übte. Freilich, Mann und Weib bleiben eben doch immer Mann und Weib. Die Natur läßt sich meistern, tyrannisiren sogar; aber doch immer nur für eine Weile, zumeist nur für eine kurze Weile, und muß es daher für eine Art von Wunder erklärt werden, daß die Weile im vorliegenden Falle ein Dutzend Jahre währte. Dann war kein Halten mehr: die Ungesundheit, die Unnatur, welche vom Anfang in diesem Wolfgang-Lotte-Roman gelegen, rächte sich und die künstlich-gewaltsam in die idealistische Stimmung hinaufgeschraubten Saiten der platonischen Leier sprangen mit einem grell realistischen Mißklang entzwei. Die junge und schöngerundete Thatsache Christiane Vulpius trug es über die angealterte und abgeblaßte Idee Lotte Stein davon. Die Logik des Lebens wollte es so. Auch gegen sie, wie gegen die des Todes, ist kein Kraut gewachsen …

Derweil war unser Dichter aus dem Jagdbruder und Zechgenossen Karl August’s mehr und mehr der führende Freund und vertraute Berather des jungen Fürsten geworden. Als solchem schien es ihm passend, den Herzog einmal für eine Weile von allem Hofquark zu entfernen, und aus diesem Gedanken ging dann jene „Geniereise“ hervor, welche Karl August mit Goethe und dem Kammerherrn Wedel im September von 1779 zu Pferde nach der Schweiz unternahm. Der Ritt führte über Frankfurt, wo unsere Reiter den guten Herrn Johann Kaspar von Altersbeschwerden gebeugt, die Frau Aja dagegen so hellauf wie allzeit fanden. Ueber Speyer ging’s in das Elsaß hinüber, dessen Bewohner sich damals noch in die Seele hinein geschämt hätten, den schnöden und schmachvollen Verrath an ihrer Nation und Nationalität zu begehen, welchen sie fünfzig Jahre später unter Anleitung von Seiten französischer Bonzen begangen und vollendet haben.

Es trieb unsern Dichter auf die Spuren vergangener Tage, es trieb ihn nach Sesenheim, als wollte und müßte er in Augen, deren zärtlicher Blick ihn vordem beseligt hatte, Verzeihung lesen. Und er las sie darin. An einem Septemberabend ritt er von Selz zur Sesenheimer Pfarre hinüber, während seine Reisegefährten geradeaus reis’ten. „Ich wurde“ – berichtet er – „von der Familie Brion freundlich und gut aufgenommen. Die zweite Tochter hatte mich ehemals geliebt, schöner als ich’s verdiente und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verschwendet habe. Ich mußte sie in einem Augenblicke verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete. Sie ging leise darüber weg, mir zu sagen, was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich allerliebst, mit so herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblicke an, da ich ihr unerwartet auf der Schwelle in’s Gesicht trat, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr, daß sie auch nicht durch die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich aber in jede Laube und da mußt’ ich sitzen und so war’s gut. Ich blieb die Nacht und schied am andern Morgen, von freundlichen Gesichtern verabschiedet.“ Wie edelsinnig, gut und lieb die arme Friederike auch hier wieder erscheint! Die schlichte Pfarrerstochter von Sesenheim ist doch das Weib gewesen, welches von allen, die Goethe geliebt hat, seiner Liebe am würdigsten war. Man erkennt so recht den Unterschied von des Dichters Friederikeliebe und Lililiebe, so man beachtet, in was für einer ganz anderen Tonart er von seiner ehemaligen frankfurter Verlobten redet, die sich inzwischen, wie wir wissen, nach Straßburg verheirathet hatte. „Ich ging zu Lili und fand den schönen Grasaffen – („Der Grasaff’, ist er weg?“ fragt Mephisto den Faust inbetreff Gretchens) – mit einer Puppe von sieben Wochen spielen. Auch da wurde ich mit Verwunderung und Freude empfangen; fand auch, daß die gute Creatur recht glücklich verheirathet ist. Ihr Mann scheint brav, verständig und beschäftigt zu sein; er ist wohlhabend, hat ein schönes Haus, einen stattlichen bürgerlichen Rang etc., alles, was sie brauchte.“

Ueber Emmendingen, wo Goethe das Grab seiner Schwester besuchte, ging es nach Basel, von dort durch das Münsterthal und den Jura an die Seen der Westschweiz. Von Genf aus nach Chamonnix, von da in’s Wallis, dann über die Furka an den Vierwaldstättersee und nach Zürich, wo Karl August mit Lavater in Verbindung trat, während die Beziehungen des Dichters zu dem Propheten doch schon nicht mehr so ganz den Ton der früheren Ueberschwänglichkeit einhielten und wenige Jahre darauf vollständig erkalteten, weil dem lavater’schen: „Entweder Christ oder Atheist!“ ebenso kategorisch das goethe’sche: „Bin zwar kein Widerchrist, kein Unchrist, aber doch ein decidirter Nichtchrist!“ sich entgegenstellte. Eine anziehende Schilderung der Alpenreise, deren Kraftgeniemäßigkeit darin bestand, daß sie zur Spätherbst- und Winterszeit unternommen wurde, gab der Dichter in seinen „Briefen aus der Schweiz“ (2. Abtheilung), die ursprünglich an Frau von Stein gerichtet waren. Die Beschreibung der Wanderung von Genf nach dem Gotthard ist vom Papa Wieland mit Recht „ein wahres Poem“ genannt worden. Auf der Rückreise hat Goethe das Singspiel „Jery und Bätely“ entworfen. Ich kann aber nicht finden, daß darin viel von „Gebirgsluft“ wehe, wie er später in seinen Tags- und Jahresheften behauptet hat. In die Rückreise wob sich übrigens eine denkwürdige Episode ein: in Stuttgart nämlich nahmen unsere Reisenden als Gäste des Herzog Karl am 14. December theil an der Stiftungsfeier der Militärakademie (später „Karlsschule“), worin sich damals der zwanzigjährige Schiller als „Eleve“ befand. Bewundernd hingen seine Blicke an dem Dichter des Götz und Werther, der seinerseits keine Ahnung davon hatte, daß in dem Schwarm grotesk uniformirter junger Leute Einer steckte, der von allen seinen Zeitgenossen allein das Zeug besäße, neben ihn sich zu stellen, und der, unzertrennlich ihm verbunden, dioskurisch mit ihm in die Nachwelt hineinschreiten würde.

Die Schweizerreise von 1779 machte für Goethe den Abschluß der Sturm- und Drangzeit und setzte der Kraftgenialität ein Ziel. Er legte die Werthertracht ab und begann im Anzug, Auftreten und Gebahren den Geheimrath herauszukehren; so sehr, daß sein herzoglicher Freund, der all’ sein Lebtag ein starkes Stück von einem Studenten geblieben ist, über die „Feierlichkeit“ und „Taciturnität“ des dichterlichen Dutzbruders sich baß verwunderte. Der angehende Herr Geheimrath seinerseits verwunderte sich zwar nicht allzu sehr über diese oder jene Eigenschaft oder Eigenheit des herzoglichen Freundes – wie z. B. über dessen Soldatenspielerei, welche ja, meinte Goethe, den deutschen Fürsten wie eine unausrottbare Krätze unter der Haut steckte –, aber er hatte sattsam Ursache, sich darüber zu ärgern, maßen ihm in den nächsten Jahren häufig die Aufgabe zufiel, allerhand aus jenen Eigenschaften oder Eigenheiten entsprungene Unzukömmlichkeiten und Wirrsale auszugleichen und zu lösen. Auch alle die jämmerlichen Krähwinkeleien, welche die Regiererei so eines Undings von Miniaturstaat mit sich brachte, hatte er auszukosten. Die viele Zeit, welche er seiner Stellung zufolge dem Hofleben in Weimar selbst und in der Nachbarschaft zu opfern hatte, suchte er dadurch nutzbar zu machen, daß er seine in den aristokratischen Kreisen gehabten Anschauungen und gemachten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_745.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)