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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Herzen, ich kann es nicht länger tragen. Lindern Sie mein Leid, Emma, so weit Menschenworte es lindern können! Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir, was ich – Ihnen that!“

Die arme gebeugte Frau nahm so die Schuld auf sich, die doch Der nur trug, welcher da unter dem blumigen Hügel schlief. Das junge Mädchen mußte die Opferfreudigkeit dieses treuen Mutterherzens empfinden, denn es überkam sie plötzlich eine tiefe Rührung, der sie bis dahin glücklich widerstanden hatte. Ihre Thränen stürzten unaufhaltsam hervor, und sie beugte sich nieder zu der alten zitternden Hand, die in der ihren ruhte. Aber sie berührte sie nicht mit den Lippen, wie sie es doch wohl thun wollte, denn die Mutter zog sie an die Brust und hielt die Schluchzende dicht umfangen. Sie merkte jetzt nicht, daß meine Schwester sich nun doch zu ihrer Freundin geschlichen hatte.

Als sie eine Viertelstunde später in den Wagen stiegen, der draußen gewartet hatte, wollte das junge Mädchen den Heimweg fortsetzen, in dem sie auf so seltsame Art unterbrochen war. Aber ohne zu wissen wie, saß sie plötzlich auf den sammtenen Kissen, und noch ein herrischer, nicht mißzuverstehender Blick hatte es bewirkt, daß meine Schwester sich auf dem Rücksitz wiederfand. Im Fond saß die kleine Näherin neben der stolzen Frau.


Das ärmliche, in einer entlegenen Straße stehende Haus hatte sich von seiner Erregung noch nicht erholt und sprach noch immer von der glänzenden Equipage und dem reich galonnirten Diener, der die Näherin aus dem vierten Stock aus dem Wagen gehoben und sie mit dem Hut in der Hand zur Thür geleitet hatte. Die Leute drinnen drehten die Sache nach allen Seiten und konnten nicht in’s Klare darüber kommen, als am andern Tage die Equipage wieder angerollt kam und vor ihrer Thür stillhielt. Eine alte Dame stieg heraus und machte sich langsam daran, die vier Treppen zu ersteigen. Die Geduld der weiblichen Conferenz, welche sich allsobald auf dem Flur eröffnete, wurde auf eine harte Probe gestellt. Eine Stunde war nun schon verflossen, und die dampfenden Pferde warfen noch immer auf derselben Stelle den Kopf in die Höhe und scharrten das Straßenpflaster, daß zuweilen Funken am hellen lichten Tage aufsprühten. Endlich öffnete sich die Thür, die das Geheimniß verbarg, und die alte Dame stieg die Treppe hinunter. An ihrer Seite ging stützend das junge Mädchen; es hatte rothgeweinte Augen und trug in seiner linken Hand ein großes Bündel, das in sehr weißes Linnen geschlagen war. Emma stieg mit der Dame in den Wagen, und ein Zettel an der Hausthür kündigte ein paar Tage darauf an, daß vier Treppen hoch eine kleine Wohnung mit Kochgelaß zu vermiethen sei.

Die große Neuigkeit kam bald auch zu uns, und ich kann Ihnen sagen, ich freute mich wie ein Kind darüber. Ich höre, daß Emma Schulz zu der Kriegsräthin „Mutter“ sagt, und daß diese sie selbst am L’hombretisch nie anders als „meine Tochter“ nennt. Ich erwarte mit Bestimmtheit, daß meine Tante sie adoptirt, und ich gönne es dem braven Mädchen von ganzem Herzen. Nun male ich mir aus, wie der Wiederschein dieser Jugend und das süße Bewußtsein des gesühnten Unrechts neuen Sonnenschein in das dunkle Leben der alten Frau bringen wird. Zuweilen wird wohl die Erinnerung mit ihrer grauen Stiefschwester, der Reue, an der Hand in das Zimmer schweben, und die alte Frau wird ihnen zunickend sagen: „Ich weiß es wohl, ich weiß es, wir könnten so glücklich sein, wenn ich ihrer Verbindung nichts in den Weg gelegt hätte!“ Dann wird das junge Mädchen, wie ich es kenne, wieder zu den Füßen der noch immer Träumenden liegen, und wird, die alten Hände streichelnd, mit gläubigem Lächeln sagen: „Weine nicht, Mutter, weine nicht! Laß uns geduldig warten, bis Gott uns einst vereint, um uns nie wieder zu trennen.“


Vor acht Tagen, als ich aus dem Theater kam, führte mich meine alte, unbesiegbare Gewohnheit in eines der Kaffeehäuser unter den Linden. Das Licht strömte mir beim Eintreten blendend entgegen, und ich irrte rathlos, meine beschlagene Brille putzend, durch das Gewirr der dicht besetzten Tische, als ich mich plötzlich am Arme erfaßt fühlte mit den Worten: „Oho, alter Sohn, rennen Sie die Leute nicht um! Kommen Sie! Hier ist ein Platz frei für Sie.“ Es war Otto Mannstein, den ich erkannte und an dessen Tisch ich schon saß, ehe ich den Gebrauch meiner Augen wieder erhalten hatte. Er sah ziemlich reducirt aus und freute sich außerordentlich mich zu sehen.

„Sie haben mir einen tüchtigen Stein vom Herzen genommen,“ sagte er, dicht zu mir heranrückend. Leiser sprechend fuhr er fort: „Ich bin hier versetzt; ein Freund, der einen andern Freund hier suchte und nicht fand, ist fortgegangen, um Geld zu holen; aber ich fürchte, daß er nichts aufgetrieben hat, und so sitze ich schon seit drei Stunden hier und trinke ein Glas nach dem andern, obgleich die Kellner anfangen, verdammt bedenkliche Gesichter zu schneiden. Es mußte geradezu ein Wunder geschehen, und es war da, als Sie eintraten und auf mich zukamen. Nur zwei Thaler bis morgen oder übermorgen.“

Ich schob ihm erstaunt das Gewünschte in die Hand, und er bestellte augenblicklich sehr lärmend zwei Gläser Grog.

„Sie erlauben doch?“ sagte er, sich wieder zu mir wendend, „er ist vortrefflich, aber theuer. Ich bin schon bei dem fünften Glase.“

Man merkte es. Er widerte mich an, denn er duftete nach Alkohol, wie ein Sonnenbruder. Sein lärmendes Wesen zog Aller Blicke auf uns, und ich machte schon Miene, mich wieder zu entfernen. Aber ich vermochte es nicht, ohne nach seiner Schwester, der Frau von Fennstein, gefragt zu haben.

„Oho!“ rief er lachend, „der geht es gut, sehr gut. Sie wissen ja: ‚Je größer der Strick – je größer das Glück.‘ Sie hat das schöne Geld bekommen, und ihr zweiter Mann ist ein ganzer Kerl, der sich vor dem Teufel nicht fürchtet. Sie selbst ist noch ganz die Alte; noch ebenso salope wie früher, ebenso. Nur Eines fiel mir als neu an ihr auf, als ich sie das letzte Mal sah, ha ha ha! und ich wünschte ihr aufrichtig Glück dazu, ha ha! Sie hatte – verweinte Augen.“




Blätter und Blüthen.


Die „stolzen Spanier“ als Ritter von der traurigen Gestalt. (Mit Abbildung, S. 743.) Der Zeichner unserer heutigen Skizze macht uns aus San Sebastian (Provinz Guipuzcoa) in den Pyrenäen interessante briefliche Mittheilungen über die neuesten Recrutenaushebungen in Spanien. Auf Grund dieser Mittheilungen geben wir im Folgenden einige Erläuterungen zu dem charakteristischen Bilde.

Es ist eine alte Geschichte, daß die Praxis selten mit der Theorie gleichen Schritt hält. Beide in Einklang zu bringen, ist auch der republikanischen Regierung in Spanien nicht gelungen. Nachdem Amadeo vom Schauplatze der Begebenheiten abgetreten, wurde als eine der größten Errungenschaften der „wieder erworbenen Freiheit“ dem Volke das neue Evangelium der Abschaffung der quintas oder Recrutenaushebungen gepredigt. Manche schöne Phrase ist über diesen Gegenstand, geschrieben und gesprochen, in die Welt geschickt worden. Die natürliche Folge davon war Mißtrauen, Ungehorsam, thätliche Auflehnung gegen die Vorgesetzten und theilweise gänzliche Auflösung der einzelnen Corps. Der Carlistenaufstand gedieh unter solchen Umständen auf das Trefflichste, und seine Parteigänger konnten sich ungestraft die größten Schandthaten zu Schulden kommen lassen. Im Süden halfen ihnen später die Communisten und anderes Gesindel. Der Einberufung der Reserven folgte eine Recrutenaushebung, wie sie in so absoluter Weise unter anderen Regierungen niemals in’s Leben getreten war. So fiel man, wie es häufig zu geschehen pflegt, von einem Extrem in’s andere.

Die auf dem gegenwärtigen Bilde dargestellten Recruten gehören zu der ungefähr zweihundert Mann starken Abtheilung, die nach San Sebastian zur Instruction geschickt wurde. Die theilweise noch blutjungen Leute kamen am Morgen des zweiten September mit dem Dampfer „Isla de Cuba“ von Santander auf der Rhede von San Sebastian an und wurden mittelst kleiner Dampfböte sogleich ausgeschifft. Noch halb seekrank, wahre Ritter von der traurigen Gestalt, wankten die armen Kerle über den Hafendamm, um sich nach und nach in Compagnien zu formiren. Eine solche Menge verkommener und verwahrloster Menschen ist wohl selten auf einem Haufen gesehen worden. Kein Wunder! Denn die Losung bei der Aushebung hieß:

„Und folgt ihr nicht willig, so braucht man Gewalt.“

Man hat eben Alles genommen, was nicht geradezu bucklig oder lahm war; denn über Einäugige und Taube hat man leicht hinweggesehen. Und dann ohne Weiteres auf die Reise!

Viele waren ohne jegliche Kopfbedeckung, Andere mit einem schmal zusammengelegten, oder auch den ganzen Haarwuchs fast bedeckenden, meist weißen, gelben oder rothen Kopftuche versehen, dessen Enden oft auf den Nacken herniederfielen. Hemdsärmel, eine Weste von eigenthümlichem Schnitt und oft aus den buntfarbigsten Zeugen zusammengesetzt, zerrissene Kniehosen von lederartigem grobem Tuche, einst weiß gewesene Strümpfe ohne Socken, Sandalen an den nur spärlich umhüllten Füßen – das sind die Bekleidungsstücke dieser „stolzen Spanier“. Es waren meistens Land-Leute

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 753. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_753.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)