Seite:Die Gartenlaube (1873) 781.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


(Wollen Sie ohne Anker aufsteigen?) – „Sans ancre!“ – Ein Schnitt, der Anker stürzte, und unter allgemeinem Jubel der versammelten Zuschauer fuhren wir empor.

Ich gestehe, es beschlich mich anfangs ein ganz neues und eigenthümliches Gefühl. Die Bewegung, welche uns aufwärts trug, war indeß für uns vollständig unmerklich; nicht wir, sondern die Erde schien sich fortzubewegen, indem sie in immer weiter greifenden Kreisen ihre Oberfläche vor uns ausbreitete, und bald umfaßte unser Blick das benachbarte Bremen und seine ganze Umgebung. Immer tiefer sank die Erde unter uns hinab, die Gegenstände wurden kleiner und kleiner, und die Gruppe der zahlreichen Zuschauer schrumpfte in dem Maße zusammen, in welchem ihr Abschiedsruf nach und nach verhallte. Dieser Augenblick der Auffahrt hatte in der That etwas unbeschreiblich Feierliches. Wir winkten unsern Freunden zum letzten Male mit dem Hute, und suchten uns dann selbst von den Empfindungen Rechenschaft zu geben, die uns so ungewohnt bewegten. – Die urplötzliche Erhebung von der Erde und die rapide Erweiterung des Gesichtskreises hatten anfänglich ein unverkennbares Gefühl der Beklommenheit erzeugt; nachdem ich es aber über mich gewonnen hatte, die Augen senkrecht nach unten zu richten, war auf einmal alle Besorgniß entschwunden. Ich empfand nunmehr ein wunderbares Wohlbefinden und war entzückt über das unvergleichliche Schauspiel, welches sich inzwischen zu unsern Füßen entfaltet hatte. Der Ballon strich in fast östlicher Richtung und hatte nach Verlauf von zehn Minuten eine Höhe von dreitausend Fuß erreicht. Wir traten in eine Windstille, die uns Zeit ließ, das prächtige landschaftliche Bild unter uns mit Muße zu bewundern.

Vor uns lag Bremen; klein, wie aus Figuren eines Nürnberger Spielkästchens zusammengesetzt, reihte sich Straße an Straße. Auf den freien Plätzen bemerkten wir ein Gewimmel mikroskopisch kleiner Punkte; es waren Zuschauer unserer Fahrt, die dort zusammenliefen. Gleich einer sauber ausgeführten Reliefkarte, auf der selbst die kleinsten Gegenstände mit überraschender Genauigkeit hervortreten, lag die Stadt mit den angrenzenden Ortschaften vor uns ausgebreitet, während die zahlreichen Chausseen und Eisenbahnen wie die Radien eines großen Spinngewebes im Weichbild Bremens zusammenliefen. Mitten durch das ganze Bild zog sich gleich einem schmalen Silberbande in vielfachen Krümmungen die Weser; scharf und deutlich hoben sich die zahlreichen Schiffe und weiterhin die kleinen Inseln und Sandbänke vom Wasser ab, während wir vor und hinter uns ein zweites und drittes graues Bändchen als Aller und Hunte erkannten. Westlich erstreckte sich der Blick weit über Oldenburg hinaus, südlich bis Nienburg, ja ich glaubte fern am Horizont, in Nebel gehüllt, die Höhen des Deisters und Wesergebirges zu erblicken. Unter uns schimmerten Aecker und Weiden in mannigfaltiger Färbung; wie die Felder eines Schachbrettes abgetheilt und gegliedert erschien das Terrain, und weißen Schnüren gleich zogen sich Wege und Gräben netzförmig verschlungen darüber hinweg.

Wir öffneten den Käfig und ließen die erste Taube fliegen, die nach Art der Raubvögel in großen Bogen unter uns hinabschoß und erst ganz nahe der Erde ihren Flug in horizontaler Richtung auf Bremen nahm.

Mein kecker Begleiter schwang sich auf den Rand der Gondel und kletterte in den Reifen; dadurch aus dem Gleichgewicht gebracht, gerieth der Korb in starkes Schwanken, und wenn auch keine ernste Gefahr zu fürchten war, so konnte ich mich doch des Gedankens an die Möglichkeit eines Unfalles nicht erwehren. Ich bat ihn deshalb, wieder herab zu steigen. Inzwischen war der Ballon in eine gegenläufige Luftströmung gelangt, und wir trieben nach Norden. Die ruhige Luftschicht, welche wir soeben durchschnitten, bildete demnach die Grenze zwischen der unteren beinahe nordwestlichen und der oberen südlichen Strömung, und hatte eine nach dem Stand der Instrumente berechnete Höhe von wenigstens sechshundert Fuß. Eine derartige Windstille muß sich an den Berührungsflächen der sich kreuzenden Luftströmungen immer von selbst einstellen, und sie ist nach meiner Ansicht diejenige Region, welche bei der Lösung des Problems der Lenkung des Luftschiffes mehr Beachtung verdient, als die verschiedenen Windströmungen selbst, da diese, in Richtung und Geschwindigkeit oft wechselnd, nur in den seltensten Fällen mit Vortheil zu benutzen sind, während die neutralen Luftschichten, wenn auch von geringerer Ausdehnung, als die von uns durchstrichene, den etwaigen mechanischen Fortbewegungsmitteln ein stets ruhiges und gleichmäßiges Medium bieten.

Es war dreißig Minuten nach der Auffahrt. Das Aneroïdbarometer war von 28.2 auf 24.3, das nasse Thermometer des Psychrometers von 17.7 auf 10.0, das trockene von 20.0 auf 12.5 gefallen; wir hatten demnach die Höhe von viertausenddreihundertsiebenundsiebzig Fuß erreicht, während der Feuchtigkeitgrad um etwas geringer geworden war. Nunmehr eröffnete sich uns der Blick bis Bremerhafen und weiter zur Wesermündung; deutlich sahen wir das befestigte „Langlütjensand“, die „Weserplaten“, und als einen kleinen grauen Punkt mitten im Wasser den Leuchtthurm; links, von der goldenen Abendsonne beleuchtet, den Jahdebusen mit Wilhelmshafen, und einen eben bemerkbaren hellen Streifen, der nach Süden verlief, die Jahde. Auffallend nahe gerückt erschienen uns die Gegenstände, und nur mit Hülfe einer Specialkarte vermochten wir uns mit Sicherheit zu orientiren. Wir passirten eine von doppelten Baumreihen eingefaßte Chaussee; sie erschien uns wie eine weiße Linie mit dunkler Randung, während wir eine Anzahl unförmlicher schwarzer Punkte in derselben als Gefährte oder Gruppen von Spaziergängern zu erkennen glaubten. Mein wackerer Pilot war fortwährend beschäftigt, die Sandreste, welche beim Umschütten eines Sackes Ballast in der Gondel liegen geblieben, zu sammeln und über Bord zu werfen, und das unausgesetzte Steigen der Aneroïdnadel ließ die Wirkung dieser geringen Entlastung deutlich erkennen.

In der Höhe von fünftausend Fuß traten wir in eine Schicht feiner Dunstbläschen, die feuchtend auf Gesicht und Hände niederfielen und sich in Form kleiner Perlchen auf unsere Kleider setzten. Ruhig und majestätisch schwebte der Ballon über die grünen Gefilde des Blocklandes[1], die von den zahllosen Canälen und Gräben wie von silbernen Fädchen durchwirkt erschienen. Ueber Bremen breitete sich allmählich ein leichter Nebelschleier, aus welchem die Thürme gleich unscheinbaren Stäbchen nur eben hervorragten. Unter uns glänzten im Abendsonnenschein die spiegelglatten Flächen der Wumme und Hamme; sich links vor uns vereinigend, führten sie unsern Blick nach den reizend gelegenen Ortschaften Lesum und Vegesack mit den zahlreichen Villen und Parkanlagen der bremischen Kaufmannswelt. Vor uns dehnten sich weite Moor- und Haideflächen[2] aus, die in ihrer unheimlich dunklen Färbung, welche nur hier und da von einzelnen Gehöften und Ortschaften unterbrochen wurde, dem Auge einen wenig erquicklichen Anblick darboten, während dasselbe mit Lust auf den buntbelebten Gänse- und Viehweiden zu unserer Rechten weilte. Trotz der bedeutenden Höhe vermochten wir die einzelnen Thiere als unendlich feine weiße Pünktchen von dem dunkelgrünen Wiesengrunde zu unterscheiden. Sie geriethen in sichtliche Aufregung, namentlich die Gänse liefen wild durcheinander; ohne Zweifel witterten sie in dem herannahenden Ballon einen drohenden Feind.

In der Höhe von siebentausend Fuß passieren wir die Wumme. Das Thermometer fiel auf acht Grad, und wir fühlten hin und wieder eine naßkalte Strömung aus Westen, die uns die zurückgelassenen Mäntel sehr unangenehm vermissen ließ. Die zweite Taube wurde entlassen; sie setzte sich auf den Rand der Gondel und blickte um sich; ich berührte sie mit der Hand; sie nahm ihren Flug nach Norden und war bald im Nebel verschwunden.[3]

Das ausgeworfene Log (Papierschnitzel) fuhr immer noch mit großer Geschwindigkeit vor uns hinab; der Ballon war also noch in fortwährendem Steigen begriffen. Die Luft wurde reiner; die Sonne war soeben hinter eine Wolke getreten, und unter uns trieben, vom Winde gejagt, graue Nebelschwaden. Kaum hatten wir diese Nebelregion hinter uns, als sich das großartigste Schauspiel der ganzen Fahrt vor uns entrollte, indem plötzlich ein Strahlenmeer über die angehende Dämmerung sich ergoß

  1. „Blockland“ nennt man den nördlichen Theil des bremischen Gebietes, der, unter dem Spiegel der benachbarten Wumme liegend, im Winter unter Wasser steht, aber gegen den Sommer durch große Pumpwerke trockengelegt und als Weide benutzt wird.
  2. Die großen Moor- und Haidedistricte von Stade und Lüneburg.
  3. Beide Tauben haben ihren Schlag wieder aufgefunden, die erste noch an demselben Abende, die zweite am folgenden Tage.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_781.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)